Das Autograph von Mozarts Klavierquintett für Klavier und vier Bläser KV 452 barg mehr als 200 Jahre lang ein Geheimnis. Ich konnte es im Zuge meiner Urtextedition
(HN 665 und HN 9665) im Jahr 2000 erstmals lüften. Vorwort und Kritischer Bericht geben alle nötigen Auskünfte. Ein kleiner philologischer Krimi. Inzwischen scheint sich meine Entdeckung weitgehend herumgesprochen zu haben, denn sowohl im Internet wie auch in einer jüngst erschienenen Edition wird der Sachverhalt und meine Erläuterungen über die Gründe korrekt wiedergegeben.
Das Geheimnis besteht darin, dass der Schluss des Werks angeblich in zwei unterschiedlichen Fassungen Mozarts vorliegt; seit jeher glaubte man nämlich, es handele sich in beiden Fällen um Mozarts Handschrift. Selbst die Neue Mozart-Ausgabe (1957) hatte nicht erkannt, dass nur die längere Version von Mozart geschrieben wurde, die kürzere jedoch nicht. Sie sieht nur auf den ersten Blick Mozarts Handschrift ähnlich.
Aber wieso sollte jemand Mozarts Handschrift auf der letzten Seite des Autographs von KV 452 fälschen wollen, wo doch das Original vorliegt? Meine Antwort darauf: Das Einzelblatt, auf dem sich Mozarts echte Hand befindet, musste eine gewisse Zeit lang dem Werk-Autograph gefehlt haben; das letzte Blatt war vermutlich herausgefallen und zunächst verschollen. Um das Werk, das sein Urheber immerhin für „das beste was ich noch in meinem leben geschrieben habe“ hielt, spielen oder drucken zu können, musste ein Schluss her. Eine unbekannte Person sprang ein und komponierte/ notierte vier Schlusstakte auf ein leeres Mozart-Papier. Mozarts Originalblatt mit einem völlig anderen, nämlich 11-taktigen Schluss, fand sich später im Nachlass und wurde dann wieder an seinen richtigen Ort eingelegt. Das alles und mehr dazu kann man genauer in meiner Ausgabe nachlesen.
In diesem Blog möchte ich herausfinden, wer der Schreiber war und ob er ein Fälscher war. Inzwischen kann man ja dank der Generosität ihrer Eigentümer Mozarts Handschrift ausgiebig und bequem online studieren: Mozarts Autograph (Bibliothèque nationale in Paris). Hier die letzte beschriebene Seite mit dem Schluss des dritten Satzes in der fremden Hand:
Und nun zum Vergleich Mozarts eigenhändige elf Schlusstakte, wie sie sich auf dem autographen Blatt unmittelbar davor finden:
Betrachten wir die Charakteristika der fremden Hand genauer. Es handelt sich nicht um die Hand eines kalligraphisch-sauber schreibenden Berufskopisten, sondern vielmehr um die individuelle Hand eines im Notenschreiben einigermaßen erfahrenen Schreibers, vermutlich eines Musikers:
- Die Noten selbst sind etwas ungelenk und nicht durchweg präzise genug notiert (z. B. Klavier rechte Hand)
- die nach oben weisenden Notenhälse sind nicht gerade, sondern neigen sich stark nach rechts
- die Viertelpausen sehen jedes Mal anders aus
- mal schreibt er „for“ mal „fr“ für die Dynamik
Mozarts Handschrift hingegen weist ihre ganz charakteristischen Eigenheiten auf. Und man kommt im direkten Vergleich nicht umhin zu erkennen, dass unser unbekannter Schreiber in manchen Punkten eine Mozarts Hand ähnliche Schrift hat, dass aber von Imitation oder gar Fälschung wohl nicht die Rede sein kann. Bestenfalls bemüht er sich, „nicht aufzufallen“. Er hatte genug Anschauungsmaterial dazu, denn der Rest des Autographs lag ja vor ihm. Was fällt auf:
- die sehr ähnliche Tintenfarbe und das „originale“ Notenpapier
- die Akkoladenklammer(n) sowie die charakteristischen Schlusszeichen mit den Fermaten
- die separat und nicht durchgehend notierten Taktstriche
- die Schreibweise des „for:“, allerdings ohne Doppelpunkt und nicht wirklich im Mozart-Schreibduktus
- die Oktava-„8“ gleich zu Beginn, obwohl deutlich breiter als Mozarts „8“
- der Tenorschlüssel (die unterschiedlich notierten Bassschlüssel sind allerdings ganz unmozartisch)
Die Hand des unbekannten Schreibers hat also Merkmale der Mozartschen Hand. Als „Fälscher“ ist er damit nicht entlarvt. Aufgrund der äußerst ungewöhnlichen Tatsache, dass sich seine Hand inmitten eines Mozart-Autographs findet, ist selbst der Herausgeber der Neuen Mozart-Ausgabe darauf hereingefallen. Vergegenwärtigt man sich den Anlass und die Zeitumstände dieser Besonderheit, wird deutlich, dass nicht Betrug, sondern reiner Pragmatismus (nämlich Erstellung von spielbarem Aufführungsmaterial!) zur Anfertigung führten. Die große Ehrfurcht, die wir heute zu Recht den originalen Mozart-Handschriften entgegenbringen, kannte man damals überhaupt noch nicht.
Die fremde Hand ähnelt also der Mozartschen, das verwendete Papier stammt aus dem Mozart-Nachlass. Daraus schließe ich, dass es erstens ein Schreiber aus dem engsten Umfeld Mozarts gewesen sein muss, und zweitens dass nur Constanze Mozart, die Witwe, ihm den Zugang zu diesem Autograph eröffnete, ja, sie muss es gewesen sein, die den Auftrag zur – nötigen (!) – Vervollständigung gegeben hatte. Constanze Mozart spielte jedoch (absichtsvoll?) ein Verwirrspiel mit ihren Zeitgenossen (und uns) und behauptete zunächst, das Autograph von KV 452 habe ihr Mann verschenkt und nie mehr zurückerhalten. So kann man es jedenfalls beim notorisch unglaubwürdigen Friedrich Schlichtegroll in seinen „Anekdoten aus Mozarts Leben, von seiner hinterlassenen Gattin uns mitgetheilt“ nachlesen, gleich in der ersten Anekdote. Ich sage: Kein Wort davon ist wahr, wenngleich es sich rührend liest, was Mozart angeblich widerfahren sein soll. Später erzählt dann Constanze Mozart – im Zuge der Verlegerkorrespondenz wegen des Mozart-Nachlasses (genauer gesagt in ihrem Brief vom 31.5.1800 an André) — eine ganz andere Geschichte; und hierbei erwähnt sie auch die beiden Schlüsse.
Jetzt aber die abschließende, die spannendste Frage: Wer könnte der ominöse fremde Schreiber gewesen sein? Leider haben wir mit vier Takten in KV 452 (zu) wenig Vergleichsmaterial und vor allem zu wenig Eindeutiges (wie zum Beispiel eine Tempoangabe o. ä.) von ihm, um ihn zu entlarven.
Dem Mozart-Kenner kommen rasch vier Personen in den Sinn, die sich auch im Autograph von KV 452 verewigt haben könnten:
(1) An erster Stelle ist Franz Xaver Süßmayr zu nennen, dessen Handschrift der Mozartschen tatsächlich oft zum Verwechseln ähnelt; seine Hand kann man sehr gut im zweiten Autograph des Requiem-Autographs (z. B. ab Seite 21, „Dies irae“) studieren. Der Bass-
Schlüssel ist verblüffend ähnlich, auch die Rechtsneigung der nach oben gehalsten Noten ist gelegentlich hier zu beobachten. Er scheidet meines Erachtens dennoch als Schreiber für KV 452 aus, wenn auch eine letzte Unsicherheit bleibt. Seine Noten sind insgesamt klein und gedrungen, routiniert und einheitlich geschrieben, ganz anders als im Bläserquintett.
(2) Joseph Edler von Eybler hat vor allem im ersten Autograph des Requiems die „Dies irae“-Teile instrumentiert (siehe Seite 21 ff., die leicht eingerahmten Teile). Seine Hand weicht auf den ersten Blick stark von KV 452 ab; er kann es also keinesfalls gewesen sein.
(3) Dann Abbé Maximilian Stadler. Seine Handschrift ähnelt in der Regel eher der eines sorgfältigen Kopisten; sie ist ordentlich und genau. Der Einfachheit halber hier ein Beispiel aus einem anderen Werk (KV 372):
Er kommt also meines Erachtens nicht in Frage für den Gesuchten.
(4) Auch Franz Jacob Freystädtler scheidet meines Erachtens trotz erheblicher Ähnlichkeit leider aus: Seine Handschrift im Requiem ähnelt zwar ein wenig derjenigen aus KV 452, denn sie wirkt etwas unbeholfen und ist aufwärts rechtsneigend, auch die Pausenzeichen sind uneinheitlich im Charakter, jedoch fällt Freystädtlers Notenschrift hier insgesamt gedrungener und reifer als zu erwarten wäre. Von ihm stammen, wie einst Leopold Nowak herausgefunden hat, im ersten Autograph (ab Seite 11 ff.) die Streicher und Holzbläser der Kyrie-Fuge. Man bräuchte Einblick in weitere Freystädtler-Autographe, um eine abschließende Aussage treffen zu können.
Liebe Mozart-Kenner: Wer könnte der ominöse Schreiber der letzten Seite aus KV 452 gewesen sein? Das müssten wir doch herausbekommen! Haben Sie Vorschläge, idealer Weise Beweise mittels Schriftproben? Jede entsprechende Zuschrift werde ich gerne im Rahmen des Henle-Blogs veröffentlichen.
Damit dieser Blog nicht ganz ohne Musik endet, können Sie hier nun noch das ganze Mozartsche Bläserquintett KV 452 anhören, allerdings in der sehr selten gebotenen, nicht authentischen Fassung für Klavier mit Violine, Viola und Violoncello. Die Aufnahme (auf „alten“ Instrumenten mit Richard Burnett, Forte-Piano und das Finchcocks Quartet) ist beeindruckend gelungen. Sie spielen gemäß der Erstausgabe von 1794, die auch den falschen Schluss unseres ominösen Schreibers enthält:
Michael Lorenz, der sich gründlich mit Freystädtler beschäftigt hat, lehnt dessen Beteiligung an der Niederschrift der Kyrie-Fuge in Mozarts Partitur-Autograph mit allem Nachdruck ab, und zwar auf Grund von sorgfältig durchgeführten Handschriftenvergleichen. Vgl. dazu:
. Michael Lorenz: Franz Jakob Freystädtler. Neue Forschungsergebnisse zu seiner Biographie und seinen Spuren im Werk Mozarts. In: Acta Mozartiana, Jg. 44 (1997), Heft 3/4, S. 85-108.
. Michael Lorenz: “Freystädtler’s Supposed Copying in the Autograph of K. 626: A Case of Mistaken Identity”, Vortrag bei der Konferenz Mozart’s Choral Music: Composition, Contexts, Performance, Indiana University, Bloomington, IN, 12. Februar 2006.
http://michaelorenz.blogspot.com/2013/08/freystadtlers-supposed-copying-in.html
Vielleicht müsste jemand eruieren welche Musiker gemeinsam mit Mozart das Quintett uraufgeführt haben (Anton Stadler? und wer noch?) – bzw., wer an der Aufführung vom 10. Juni 1784 beteiligt war – um die entsprechenden Handschriften zu Vergleichszwecken heran zu ziehen.
Merkwürdig ist auch die Satzkonstellation des Schlussakkords innerhalb beider Schlusstakte der “Fälschung”:
(jeweils klingend) Oboe es”; Klarinette g’; Horn G(!); Fagott g (= dreimal die Terz, kein Grundton!) oder fehlt in der Hornstimme für die beiden Takte etwa der Wechsel zum Violinschlüssel? Dies ergäbe dann den fehlenden Grundton es.
In den Streicher-Bearbeitungen von KV 452 ist der drittletzte Takt jeweils in Triolen, nicht mit “Vorschlag-Achtel-2 Sechzehntel” notiert. Triolisch wird auch in der verlinkten Aufnahme gespielt!
There’s a qui pro quo here:
“Well, in any case, we can just check out the first anecdote by the notoriously unreliable Friedrich Schlichtegroll, in his ‘Anecdotes from Mozart’s Life, Communicated by his Surviving Spouse’”.
It is not Friedrich Schlichtegroll but Friedrich Rochlitz.
Dear Sign. Zambrano, thank you so much for this correction. Honour to whom honour is due!