Zu den engsten Künstlerfreunden Günter Henles zählte fraglos der Geiger Yehudi Menuhin. Henles Autobiographie Weggenosse des Jahrhunderts. Als Diplomat, Industrieller, Politiker und Freund der Musik enthält zahlreiche unterhaltsame Schilderungen gemeinsamer Erlebnisse mit ihm, von dem er sagte, er sei „auf seinem Instrument wohl einer der größten Meister, die je gelebt haben“. Oft ging es auch beim Zusammensein beider um konkrete Notentext-Fragen. Henle und seine Urtextausgaben profitierten enorm von Menuhins geradezu intuitivem Gespür für falsche Noten.
Über ein besonders schönes Beispiel sei hier berichtet. Henle schreibt in seiner Autobiographie (S. 346):
„So rief Menuhin einmal am Tage eines Düsseldorfer Konzerts vormittags bei mir an, und wir verabredeten uns zum Mittagessen bei uns in Duisburg. Er bat mich, die Fotokopie des Autographs und der Originalausgabe der letzten Violinsonate von Beethoven op. 96 mit nach Hause zu bringen; es interessierte ihn, ob darin nicht im letzten Satz Takt 218 in Klavierbaß die Note des zweiten Achtels G statt, wie in den meisten landläufigen Ausgaben, Gis heißen müsse. Sofort untersuchte ich die Stelle in den Quellen und fand seine Vermutung bestätigt“.
Günter Henle weiter in seiner Autobiographie: „Menuhin … war von der raschen Klärung des Falles beeindruckt und sehr befriedigt. Er wollte immer schon G von seinem Klavierpartner hören und nicht Gis.“
Wann genau und durch wen sich das falsche ♯-Vorzeichen zu dieser Note in die Textüberlieferung eingeschlichen hat, könnte recherchiert werden. Der Text in der „Alten Gesamtausgabe“ bei Breitkopf & Härtel (1862-65) ist noch korrekt. Ich vermute als Urheberin die 1901 im Peters Verlag (Nummer 8762) erschienene Ausgabe der Violinsonaten Beethovens durch Joseph Joachim, vielfach nachgedruckt und bis heute im Handel (Peters, EP 3031b) – nämlich in der erstmals 1931 erschienenen Ausgabe Walther Davissons „nach der Ausgabe von Joseph Joachim“. Joachims Ausgabe wird außerdem durch den amerikanischen Musikverlag International Music Company (IMC 421) vertrieben und ist daher leider bis heute in den USA (und weit darüber hinaus) sehr verbreitet. (Bis in die 1950er-Jahre hinein hatten auch die ersten Auflagen der Urtextausgabe unseres Hauses das falsche Gis – dank Menuhin wurde das dann sofort richtig gestellt).
Dieses falsche Gis ist übrigens nur eine von vielen bis heute verbreiteten falschen Noten in den Violinsonaten Beethovens, weshalb ich in Konzerten (und Aufnahmen) an diesen Stellen sofort erkennen kann, ob aus „Henle Urtext“ musiziert wird oder nicht.
Unsere konkrete Stelle im Finale von op. 96 ist allein schon aus kompositorischen Gründen ein Juwel: Beethoven zitiert nämlich mit Beginn des völlig überraschend einsetzenden Fugatos (ab T. 217) das Hauptthema des Finales, nur erkennt man es nicht, weil es chamäleonartig verwandelt auftritt:
Allein dieser motivische Bezug klärt die Frage G oder Gis. Nun hat sich auch in einem anderen Dokument die Freundschaft zwischen Henle und Menuhin, und insbesondere das Thema „G statt Gis“ verewigt; dieses Dokument war bis gestern der interessierten Öffentlichkeit nicht zugänglich. Seit heute (!) ist es über die Webseite des G. Henle Verlags online verfügbar: das private Gästebuch von Günter und Anne-Liese Henle. Mit vorliegendem Beitrag will ich gerne auf dieses außerordentliche Buch und unsere online-Veröffentlichung davon aufmerksam machen.
Warum ist dieses Gästebuch so außerordentlich? Nun, die handschriftlichen Eintragungen der Gäste, die oftmals auch in der Duisburger Henle-Villa (zum Teil auch mit Henle selbst am Klavier) musizierten, lesen sich wie das „Who is who“ der klassischen Musik-Interpreten der damaligen Zeit. Um nur einige wenige der weit über 100 Persönlichkeiten zu nennen:
Argerich, Arrau, Backhaus, Barenboim, Bolet, Busch (alle), Fischer, Gieseking, Horszowski, Jochum, Kogan, Milstein, Oistrachs (beide), Rostal, Rubinstein, Schneiderhan, Suk, Szeryng, Zukerman – und eben Yehudi und Hephzibah Menuhin.
Auf Seite 15 des Gästebuchs (1956) findet sich von der Hand Menuhins das Notat der fraglichen Stelle aus Opus 96 von Beethoven und dazu der Jubelruf: „Es ist G! Bravo, und Tausend Dank!“ Wie stark sich bei Menuhin die profunde Klärung dieses Textproblems im Zusammenhang mit Günter Henle gewissermaßen eingebrannt hatte, erkennt man dann auf der allerletzten beschriebenen Seite des Gästebuchs. Wenige Tage nach dem Tod Günter Henles (am 13. April 1979) traf Menuhin mit der Witwe Anne-Liese Henle zusammen und notierte auf Seite 109 folgende bewegende Worte: „diese späte Frühlingsmusik Beethovens erweist das ewig Neugeborene, Erstaunende. Eine Musik, die immer in meinem Herzen mit dem gütigsten Günter und der liebsten Anne-Liese verbunden bleibt. Für die Freundschaft, und die Einigkeit unseres Fühlens und Denkens ewig dankbar. Ihr Yehudi“. Darüber noch einmal das Notenincipit von Takt 218 des 4. Satzes aus op. 96, darunter „(der gute (♮) Günter)“.
Warum Yehudi Menuhin dann bei seiner Aufnahme von 1970 seinem Pianisten Wilhelm Kempff ausgerechnet das falsche Gis in Takt 218 durchgehen ließ, wird für immer ein Rätsel bleiben. Hier zum Abschluss die Menuhin-Kempff-Aufnahme dieses wundervollen Variationssatzes (Beethoven, Violinsonate G-dur, op. 96, 4. Satz):
http://www.youtube.com/watch?v=mKOGus2I0xQ