Liebe Leser,
wir bedanken uns heute sehr herzlich bei Ihnen für Ihr Interesse am Henle-Blog. Wir freuen uns auch im nächsten Jahr auf Ihre Besuche und versprechen interessante Beiträge rund um Fragen musikalischer Notentexte.
Heute geben wir Ihnen noch einem kleinen Impuls für die Weihnachtstage, der vielleicht dazu anregen kann, sich mit den unterschiedlichen Fassungen – sowohl textlich als auch musikalisch – des ein oder anderen bekannten Advents- oder Weihnachtsliedes zu beschäftigen.
Das Weihnachtslied mit dem wohl rätselhaftesten Text ist das weit verbreitete „Es ist ein Ros entsprungen“. Beim ersten Singen stolpert man über die Verse, die auf den Bibelvers im Buch Jesaja zurückgehen „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ (Jes 11,1). Der Urheber des Liedtextes ist vermutlich der Kartäusermönch Frater Conradus aus Trier, der 1587 die ersten zwei Strophen verfasste. Das Lied wurde mit Melodie einige Jahre später im katholischen Speyerer Gesangbuch (Köln, 1599) abgedruckt, statt nur zwei inzwischen jedoch mit über 20 Strophen! Hinter dem Text verbergen sich nicht nur eine Schilderung der Weihnachtsgeschichte, sondern auch ein Bild Mariens sowie eine Schilderung der Abstammungslinie Jesu (Isaia ist der Vater Davids). Erst durch die Bearbeitung von Michael Praetorius zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde dieses Weihnachtslied auch im protestantischen Bereich populär. Praetorius baute die Melodie zu einem vierstimmigen Satz aus und wandelte auch den Text ab: Statt Maria steht nun Christus im Zentrum. Die unterschiedlichen textlichen Bearbeitungen, die sich seitdem entwickelt haben, reflektieren so immer das jeweilige Verständnis der Person und der Rolle Mariens dar. Obwohl dieses Lied sehr populär war, wurde es erst spät in die heutigen Gesangbücher aufgenommen. Sie finden es im evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 30, im neuen Gotteslob unter der Nummer 243.
Der Satz von Praetorius ist auch heute fester Programmpunkt in Weihnachtskonzerten. Eine Aufnahme der King’s Singers zeigt ihn ganz ursprünglich.
Doch Praetorius‘ Satz ist auch Grundlage vieler Bearbeitungen, wie z. B. die des schwedischen Komponisten Jan Sandström (*1954). In seiner Fassung von „Det är en ros utsprungen“ singen zwei Chöre: der erste singt den vierstimmigen Praetoruis-Satz, der zweite Chorsatz hingegen ist achtstimmig und wird gesummt. Durch das langsame Tempo und den allmählichen Aufbau der Akkorde entstehen schwebende Klangflächen, es wirkt wie eine Meditation über den Choral. Erstmals gedruckt wurde es 1995 vom Verlag des Schwedischen Chorverbundes (Sveriges Körförbund). Diese andere Perspektive auf das Weihnachtslied können Sie in einer Aufnahme des Chors des Bayrischen Rundfunks erleben.
http://www.youtube.com/watch?v=pVnMlpO_r7A
Mit dem musikalischen Gruß des WDR-Chores, allerdings in einer für dieses Lied eher ungewohnten Umgebung, wünschen wir Ihnen allen frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr 2015!
Ihre Autoren des Henle-Blogs
Norbert Gertsch
Peter Jost
Norbert Müllemann
Annette Oppermann
Dominik Rahmer
Wolf-Dieter Seiffert