Im Mai dieses Jahres schrieb ich über die tiefen Töne, heute möchte ich Balance schaffen und über Beethovens Streben nach Höherem schreiben. Litt er unter der Beschränkung der Tastatur der Klaviere des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nach oben bis f3 (heute geht’s immerhin bis c5)? Beim genaueren Hinschauen möchte man fast den Eindruck haben.
So ist es etwa auffällig, dass bei vielen Themen der Klaviersonaten ein bewusstes Ausreizen des kompletten Ambitus nach oben zu sehen ist. Hier drei Beispiele:
Für mich besteht wenig Zweifel, dass hier die Grenze des f3 Beethoven bei der Ausgestaltung der Themenmotivik nicht nur bewusst war, sondern dass sie auch kreativ-konstruktiv eingesetzt wurde. Man spürt in diesen und auch anderen Bespielen, dass die Themen vielleicht anders gestaltet worden wären, wenn Beethoven mehr Tonrepertoire nach oben zur Verfügung gestanden hätte.
Immer wieder kann man sich die Frage stellen, ob diese Grenze ihn zu Einschränkungen zwang oder seine Kreativität beflügelte. In meinem letzten Blog brachte ich ein Beispiel aus der Sturmsonate, das deutlich zeigt, wie aus der Not eine Tugend wurde – eine wunderbare Stelle, auf die niemand mehr verzichten möchte:
Den Grenzen der Tastatur verdanken wir die hochdramatische, im Vergleich zur Exposition wunderbar gesteigerte Passage mit dem gehaltenen d3.
Dieser Effekt gelang Beethoven nicht immer: Schauen Sie sich die Exposition der Sonate op. 10 Nr. 3, 1. Satz, an. Hier sieht sich der Komponist gezwungen, die konsequente Aufwärtsbewegung in alternierenden Oktaven aufzubrechen. In der Reprise dagegen läuft die Figur durch und der Effekt ist größer, nicht wahr? Dagegen klingt die Stelle in der Exposition in meinen Ohren fast misslungen (Blasphemie, ich weiß!).
Einen regelrechten Fauxpas in der Gestaltung erlaubte sich Beethoven vielleicht hier, im 1. Satz der Sonate op. 10 Nr. 1:
Welcher Pianist würde diese Stelle aus „Quellentreue“ heute ohne ges3 spielen? (Zugegeben, es war vielleicht doch kein Fauxpas, sondern kalkuliert. Denn man hört in dieser höheren Lage kaum, dass der hohe Ton nicht klingt.)
Als sich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts dann Instrumente auf dem Markt zu etablieren begannen, die den Umfang nach oben bis zum c4 öffneten, dauerte es nicht lange, bis Beethoven sich diese zusätzlichen Möglichkeiten mit Haut und Haaren eroberte, wunderbar zu sehen an der Waldsteinsonate.
Zunächst scheint sich nichts geändert zu haben: Beethoven komponiert einen Themenkomplex, der bis zum f3 geht und nicht weiter:
Doch dann schleichen sich an exponierten Stellen erste „Grenzüberschreitungen“ ein:
Aber schließlich ist es die folgende Stelle, die mit Unterstützung des Trillers im pp einen völlig neuen Klangraum erobert. Man kann sich des Eindrucks „Beethoven ist angekommen!“ nicht erwehren:
Von nun an ist der größere Umfang in dieser und den folgenden Sonaten etabliert und wird von Beethoven wie selbstverständlich genutzt. Man denke nur an das Thema des letzten Satzes der Waldsteinsonate:
Oder an das Ende der letzten Klaviersonate:
Das Nebeneinander verschiedener Klavierfabrikate machte es den Verlagen nicht immer leicht. Um einen möglichst großen Markt bedienen zu können, sah man sich zum Beispiel in England gezwungen, Beethovens Werke in einer Version für das traditionelle und für das neue Klavier zu veröffentlichen. Welche Klimmzüge dabei vollbracht werden mussten, beschreibt der Titel der englischen Erstausgabe des 5. Klavierkonzerts: “Grand Concerto for the Piano Forte, as newly constructed by Clementi & Co with additional Keys up to F, and also arranged for the Piano Forte up to C …”. Als dann schließlich auch die Barriere des c4 brach und sich die Tastatur immer weiter in Richtung c5 erweiterte, griffen englische Verlage erneut zu Hilfsmitteln, um eine möglichst große Kundschaft zu bedienen. In der englischen Erstausgabe der Hammerklaviersonate zum Beispiel brachte man ossia-Systemen, um die von Beethoven komponierte Fassung, die über das c4 hinausgeht, dorthin zu verbannen und im Haupttext eine – von wem auch immer autorisierte – Variante zu bieten, die die Grenzen berücksichtigte:
Da die Autorisierung der Änderungen im englischen Druck der Hammerklaviersonate völlig offen ist, wird sich heute niemand an diese – zugegeben schlechten – Varianten heranwagen. Hier ist der Fall leicht zu entscheiden. Aber was tun bei anderen Stellen? Ich habe es schon in meinem letzten Blog zu diesem Thema empfohlen: Lassen wir es die Interpreten entscheiden, solange sie wissen, warum! Oder?