In diesem und im letzten Jahr hört man zu meiner großen Freude den wunderbaren Antoine Tamestit mehrfach mit einem Werk im Konzertsaal, das selbst Kennern des Bratschenrepertoires lange Zeit völlig unbekannt war: Johann Nepomuk Hummels Potpourri op. 94 für Viola und Orchester.
„Obschon mir nun an der Zufriedenheit der Kenner bei weitem am meisten gelegen sein musste: so war mir doch auch an der der Nichtkenner gelegen“, schrieb Hummel 1828 in seiner Anweisung zum Piano-Forte-Spiel. Und tatsächlich war er zeit seines Lebens ein kompositorischer Diener zweier Welten: Als Großherzoglicher Kapellmeister am Weimarer Hof etwa bediente er die etablierten „seriösen“ Gattungen – Sonaten, Klaviertrios, Solokonzerte, aber auch Messen und Kantaten – genauso wie die populären, gefälligen Formen – Tänze aller Art, Amüsements, Bagatellen, Serenaden und Fantasien. In letztere Kategorie gehörten in jener Zeit auch die äußerst beliebten Potpourris. Sie zu verfassen, war für Komponisten häufig eine leichte Fingerübung. Denn die wesentliche Substanz dieser musikalischen Allerleis waren aus bekannten Opern entlehnte „Gassenhauer“, denen mit mehr oder weniger Aufwand Einleitungen, Zwischenspiele und Finale beigeordnet wurden. So entstanden mit minimalem Aufwand akustische Blumensträuße zum Mitsingen und Mitpfeifen.
Auch Hummels Potpourri op. 94 (HN 838) aus dem Jahr 1820, in dem etwa 60 Prozent entliehene Musik enthalten ist, folgt zunächst diesem Bauplan und lässt gängige Melodien aus Mozarts Don Giovanni, der Nozze di Figaro und der Entführung aus dem Serail sowie aus Rossinis Tancredi erklingen. Umrahmt werden sie von einer sehr gelungenen Grave-Einleitung und einem Rondo-Schlussabschnitt, der einen effektvollen Kehraus bietet. Schon diese beiden neu komponierten Teile zeigen, dass Hummel weit mehr konnte als die mittelmäßigen Arrangeure in dieser Zeit. Er wollte jedoch auch in diesem Potpourri den „Nichtkenner“ nicht gänzlich aus der Pflicht nehmen und platzierte daher genau in die Mitte der Komposition zusätzlich eine sehr „seriöse“ Fuge (!). Dem Bratschisten wird in alldem nicht langweilig, Opus 94 ist gespickt mit effektvollen, teilweise durchaus virtuosen Passagen.
Hatte Hummel mit der eingestreuten Fuge noch den „Kennern“ etwas Nahrung liefern wollen, so war der Verlag C. F. Peters in Leipzig da doch erheblich skeptischer. Vermutlich war er es, der den Komponisten noch vor der Veröffentlichung des Werkes im Jahr 1822 dazu drängte, einer Sprunganweisung in den Noten zuzustimmen, die genau diese „störende“ Fuge aus dem Vortrag eliminieren würde. Doch auch diese Maßnahme konnte nicht verhindern, dass das Potpourri im Laufe des 19. Jahrhunderts vollständig in Vergessenheit geriet – zum Beispiel lassen sich keinerlei Nachdrucke von anderen Verlagen nachweisen. Dasselbe Schicksal ereilte auch die alternativ mit Violoncello solo besetzte Fassung des Werks, die vermutlich von Hummel autorisiert ist und zur gleichen Zeit im Druck erschien.
Dass Hummels Potpourri heute in verstümmelter Form als „Fantasie“ unter Studierenden, Profis und Liebhabern bekannt und beliebt ist (schauen Sie sich die unzähligen Videos auf YouTube an), verdanken wir wohl zwei Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Zunächst erschien im Jahr 1900 diese Fantasie-Fassung, die nur aus der Einleitung, dem Don Giovanni-Abschnitt und dem Rondo-Kehraus besteht, in einer Sammlung ausgewählter Solo-Werke für Viola, zusammengestellt, mit Bogenstrichen und Fingersätzen versehen von Clemens Meyer (Edition Fischer No. 3253, Band 1). Und es dauerte schließlich bis 1973, bevor ein moderner Notentext dieser Fassung bei Musica Rara das Licht der Welt erblickte. Seitdem ist die Fantasie vor allem aus dem Hochschul-Leben kaum mehr wegzudenken. Ihre „Mutter“ jedoch, das Potpourri, fristet bis heute ein Schattendasein.
Vielleicht kann hier unsere 2007 erschienene Urtextausgabe Gutes tun – zusammen mit der vor einigen Jahren bei Kunzelmann vom kürzlich verstorbenen, hochverehrten Franz Beyer vorgelegten Edition. Keine geringere als Tabea Zimmermann hat unsere Ausgabe bezeichnet (eine unbezeichnete Stimme liegt ebenfalls bei). Und in unserer Henle Library App – und nur dort! – steuerte zusätzlich Antoine Tamestit seine Bezeichnung bei. Sie, liebe Bratschisten, sind also bestens gerüstet, um dem Potpourri neues Leben einzuhauchen – vielleicht auch samt der Fuge!