Der Formtypus der Variation spielt in Beethovens Schaffen eine bedeutende Rolle und hat ihn sein ganzes Leben lang beschäftigt. Seine erste veröffentlichte Komposition waren die 9 Klaviervariationen über einen Marsch von Dressler WoO 63, die sein Lehrer Christian Gottlob Neefe 1782 im Druck erscheinen ließ. „Mit Variationen beginnt Beethoven“, schrieb der Musikkritiker Paul Bekker 1911, und man könnte ergänzen, dass Beethoven auch mit Variationen endet: Die Diabellivariationen op. 120 gehören zu seinen letzten Klavierwerken und krönen nicht nur sein Schaffen, sondern finden in der Geschichte der Klaviervariation wohl nur in Bachs Goldbergvariationen ein ebenbürtiges Werk.
Daneben belegt natürlich auch die Fülle der in seine mehrsätzigen Werke eingebetteten Variationensätze, wie bedeutsam für Beethovens musikalisches Denken das Prinzip der Variation ist – man denke an den tiefgründigen Schlusssatz der letzten Klaviersonate op. 111 oder das grandiose Finale der 3. Symphonie. Diese Einzelsätze beruhen in der Regel auf eigenen thematischen Erfindungen – eine berühmte Ausnahme ist das Finale des „Gassenhauer-Trios“ op. 11. Wir wollen hier aber nur einen kurzen Blick auf die als selbständige Variationswerke komponierten Stücke werfen, die meist eine seinerzeit sehr populäre Melodie als Vorlage nehmen, und ein paar der unbekannteren Werke vorstellen.
Als kleinen Service zum Beethoven-Jahr haben wir einmal sämtliche Variationen, die im maßgeblichen neuen Beethoven-Werkverzeichnis (HN 2207) verzeichnet sind, zu einer Tabelle zusammengestellt:
Besetzung | Anzahl | Vorlage | Komponist der Vorlage | Tonart | Werknr. | komponiert |
Klavier solo | 9 | Marsch | Ernst Christoph Dressler (fraglich) | c-moll | WoO 63 | 1782 |
Klavier solo | 6 | „Es hätt’ e’ Buur e’ Töchterli“ | Volkslied (Schweiz) | F-dur | WoO 64 | 1790–92 |
Klavier solo | 24 | „Venni Amore“ | Vincenzo Righini | D-dur | WoO 65 | 1790–91 |
Klavier solo | 13 | „Es war einmal ein alter Mann“ aus Das rote Käppchen | Karl Ditters von Dittersdorf | A-dur | WoO 66 | 1792 |
Klavier solo | 12 | „Menuett à la Viganò“ aus dem Ballett Le nozze disturbate | Jakob Haibel | C-dur | WoO 68 | 1795–96 |
Klavier solo | 9 | „Quant’ è più bello“ aus La Molinara | Giovanni Paisiello | A-dur | WoO 69 | 1795 |
Klavier solo | 6 | „Nel cor più non mi sento“ aus La Molinara | Giovanni Paisiello | G-dur | WoO 70 | 1795–96 |
Klavier solo | 12 | Russischer Tanz aus dem Ballett Das Waldmädchen | Paul Wranitzky | A-dur | WoO 71 | 1796–97 |
Klavier solo | 8 | „Une fièvre brûlante“ aus Richard Cœur-de-Lion | André-Ernest-Modeste Grétry | C-dur | WoO 72 | 1795–96 |
Klavier solo | 10 | „La stessa, la stessissima“ aus Falstaff | Antonio Salieri | B-dur | WoO 73 | 1799 |
Klavier solo | 7 | „Kind, willst du ruhig schlafen“ aus Das unterbrochene Opferfest | Peter von Winter | F-dur | WoO 75 | 1799 |
Klavier solo | 8 | „Tändeln und scherzen“ aus Soliman II | Franz Xaver Süßmayr | F-dur | WoO 76 | 1799 |
Klavier solo | 6 | eigenes Thema | Beethoven | G-dur | WoO 77 | 1800–1801 |
Klavier solo | 6 | eigenes Thema | Beethoven | F-dur | op. 34 | 1802 |
Klavier solo | 15 | eigenes Thema („Eroica“) | Beethoven | Es-dur | op. 35 | 1802 |
Klavier solo | 7 | „God save the King“ | unbekannt | C-dur | WoO 78 | 1803 |
Klavier solo | 5 | „Rule Britannia“ | Thomas Arne | D-dur | WoO 79 | 1803 |
Klavier solo | 32 | eigenes Thema | Beethoven | c-moll | WoO 80 | 1806–07 |
Klavier solo | 6 | eigenes Thema | Beethoven | D-dur | op. 76 | 1810 |
Klavier solo | 33 | Walzer | Anton Diabelli | C-dur | op. 120 | 1823 |
Klavier solo | 8 | „Ich hab’ ein kleines Hüttchen nur“ | unbekannt (Text von Gleim) | B-dur | Anh. 10 (zweifelhaftes Werk) | unbekannt |
Klavier solo | 8? | eigenes Thema | Beethoven | A-dur | Unv 14 (nur Skizzen) | 1794/95 |
Klavier vierhändig | 8 | fremdes Thema | Ferdinand Ernst von Waldstein | C-dur | WoO 67 | 1790–92 |
Klavier vierhändig | 6 | „Ich denke dein“ | Beethoven (Text von Goethe) | D-dur | WoO 74 | 1799–1803 |
Klavier und Violine | 12 | „Se vuol ballare“ aus Le nozze di Figaro | Wolfgang Amadeus Mozart | F-dur | WoO 40 | 1792–93 |
Klavier und Violoncello | 12 | „See, the conqu’ring hero comes“ aus dem Oratorium Judas Maccabaeus | Georg Friedrich Händel | G-dur | WoO 45 | 1796 |
Klavier und Violoncello | 12 | „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus Die Zauberflöte | Wolfgang Amadeus Mozart | F-dur | op. 66 | 1796–98 |
Klavier und Violoncello | 7 | „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Die Zauberflöte | Wolfgang Amadeus Mozart | Es-dur | WoO 46 | 1801 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 3 | „The cottage maid“ | Volkslied (Wales) | G-dur | op. 105 Nr. 1 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 3 | „Of noble race was Shenkin” | Volkslied (Wales) | c-moll | op. 105 Nr. 2 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 6 | „A Schüsserl und a Reinderl“ aus Die Kaufmannsbude | Johann Baptist Henneberg zugeschrieben | C-dur | op. 105 Nr. 3 | 1819 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 3 | „Sad and luckless was the season” | Volkslied (Irland) | Es-dur | op. 105 Nr. 4 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 3 | „Put round the bright wine” | Volkslied (Irland) | Es-dur | op. 105 Nr. 5 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 4 | „English bulls“ | Volkslied (Irland) | D-dur | op. 105 Nr. 6 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 4 | „I bin a Tyroler Bue“ aus Der Körbchenflechter | Friedrich Satzenhofen | Es-dur | op. 107 Nr. 1 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 4 | „Bonny laddie, highland laddie“ | Volkslied (Schottland) | F-dur | op. 107 Nr. 2 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 6 | „Air de la Petite Russie“ | Volkslied (Ukraine) | G-dur | op. 107 Nr. 3 | 1819 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 5 | “The pulse of an Irishman ever beats quicker” | Volkslied (Irland) | F-dur | op. 107 Nr. 4 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 3 | „A Madel, ja a Madel“ | Volkslied (Tirol) | F-dur | op. 107 Nr. 5 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 4 | „Merch Megan“ | Volkslied (Wales) | Es-dur | op. 107 Nr. 6 | 1819 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 6 | „Air cosaque“ („Schöne Minka“) | Volkslied (Russland) | a-moll | op. 107 Nr. 7 | 1819 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 5 | „Oh Mary, at the window be“ | Volkslied (Schottland) | D-dur | op. 107 Nr. 8 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 5 | „Oh! thou art the lad of my heart“ | Volkslied (Schottland) | Es-dur | op. 107 Nr. 9 | 1818 |
Klavier und Flöte (Violine) ad lib. | 5 | „The highland watch“ | Volkslied (Schottland) | g-moll | op. 107 Nr. 10 | 1818 |
Klaviertrio | 10 | „Ich bin der Schneider Kakadu“ aus Die Schwestern von Prag | Wenzel Müller | G-dur | op. 121a | 1816? |
Klaviertrio | 14 | „Ja, ich muss mich von ihr scheiden“ aus Das rote Käppchen | Karl Ditters von Dittersdorf | Es-dur | op. 44 | 1792 |
2 Oboen und Englisch Horn | 8 | „Là ci darem la mano“ aus Don Giovanni | Wolfgang Amadeus Mozart | C-dur | WoO 28 | 1795 |
Mandoline und Klavier | 6 | eigenes Thema | Beethoven | D-dur | WoO 44b | 1796 |
Wenn man die 16 eigenständigen Variationen aus Opus 105 und Opus 107 einzeln zählt, sind es tatsächlich 48 Werke! Allerdings mit zwei kleinen Einschränkungen: Bei den Variationen über „Ich hab’ ein kleines Hüttchen nur“ gilt Beethovens Autorschaft als zweifelhaft, da die einzige Quelle ein postumer Druck von ca. 1830 ist. Und die Klaviervariationen A-dur mit der ungewöhnlichen Werkzählung „Unv 14“, sind, wie es diese Abkürzung andeutet, unvollendet und nur im sogenannten „Fischhof“-Skizzenbuch erhalten (möglicherweise waren sie ursprünglich als Teil der A-dur-Klaviersonate op. 2 Nr. 2 gedacht und nicht als eigenständiges Werk).
In dieser Gesamtschau lassen sich einige interessante Funde machen. Hätten Sie etwa gewusst, dass Beethoven auch Variationen für die Mandoline komponiert hat? Das Andante mit 6 Variationen WoO 44b entstand 1796 in Prag zusammen mit weiteren kurzen Stücken für Mandoline und Klavier (HN 499) für die Gräfin Josephine von Clary-Aldringen, die dieses Instrument spielte. Die Variationen sind übrigens ohne jegliche Änderung problemlos auch auf der Violine spielbar und somit eine ideale (und leichtere) Ergänzung zu Beethovens einzigem „richtigen“ Variationswerk für Violine, die 12 Variationen über Mozarts „Se vuol ballare“ WoO 40 (HN 291).
Kaum überraschend ist dagegen, dass Beethoven als einer der größten Klaviervirtuosen seiner Zeit die überwiegende Zahl der Variationen für Klavier solo verfasste. Mit diesen Paradestücken konnte er dem Publikum gleichermaßen seine pianistischen wie kompositorischen Fähigkeiten präsentieren. So erfordern seine frühen 24 Variationen über Righinis Arietta „Venni, Amore“ schon ein beträchtliches technisches Können – als Beethoven den 1791 den angesehenen Pianisten Franz Xaver Sterkel besuchte, meinte dieser, dass ihm diese Variationen zu schwer seien, woraufhin Beethoven seine Komposition nicht nur auswendig und vollendet am Klavier vortrug, sondern zum Erstaunen der Zuhörer auch noch weitere Variationen über das Thema virtuos improvisierte.
Zu den pianistisch anspruchsvolleren Werken dieser Art gehören auch die 7 Variationen über die Canzonetta „Kind, willst du ruhig schlafen“ aus einer Oper des heute nahezu völlig vergessenen Peter von Winter. Der Textanfang könnte an eine Art Wiegenlied erinnern, was aber so gar nicht zur koketten Melodie im 2/4-Takt passen mag:
Und tatsächlich handelt es sich um ein scherzhaftes Lied dreier Mädchen, die einer Freundin ihren Liebeskummer ausreden wollen:
Kind! willst du ruhig schlafen,
Folge meinem Brauch,
Und tändle, wie mit Affen,
Mit den Männern auch:
Neck’ und foppe sie.
Laß nicht dein Herz dir stehlen!
Dieses ist nicht klug.
Falsch sind der Männer Seelen,
Tückisch, voll Betrug:
Keiner tauget was.
[…]
Et cetera… Wer sich das Libretto der „heroisch-komischen“ Oper, die übrigens im Peru der Inkazeit spielt, einmal komplett durchlesen möchte, findet es hier in den digitalen Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek.
Auch der Titel von Dittersdorfs Oper Das rote Käppchen könnte auf eine falsche Fährte führen. Das Stück hat nichts mit dem fast gleichnamigen Märchen zu tun, sondern ist eine Eheposse um eine junge Frau, die unter der krankhaften Eifersucht ihres alten Ehemanns leidet und ihn mit einer List (einem angeblich wunderwirkenden roten Käppchen) davon kuriert. Als eine selbstreflexive Geschichte in der Geschichte dient in der Oper das etwas anzügliche Lied „Es war einmal ein alter Mann“: auch dieser Alte hat eine junge Frau, die sich verdächtig oft in die „Behandlung“ bei einem jungen Arzt begibt:
Beethoven kannte die Oper gut, da er 1792 als Bratschist in der Bonner Hofkapelle an mehreren Aufführungen mitwirkte. Unter diesem Eindruck verwendete er daraus auch noch ein weiteres Thema („Ja, ich muss mich von ihr scheiden“, eine zornige Arie des eifersüchtigen Ehemannes) für seine Variationen für Klaviertrio op. 44 (die hohe Opuszahl erklärt sich aus der viel späteren Veröffentlichung). Ein hübsches, nicht zu langes Stück für Klaviertrio – es muss nicht immer der „Schneider Kakadu“ sein… (siehe auch unsere HN 26)
Wenig bekannt ist auch, dass es nicht nur die berühmte Waldsteinsonate gibt, sondern auch Waldsteinvariationen. Namensgeber ist derselbe Ferdinand Ernst von Waldstein, der als wichtiger Mäzen in Beethovens Leben u. a. dessen Reise nach Wien 1792 förderte. Während Waldstein bei der Klaviersonate „nur“ Widmungsträger ist, steuerte er im Falle der Variationen sogar persönlich das Thema bei (möglicherweise von Beethoven noch verbessert). Der sehr musikalische Graf spielte gut Klavier – ob er die Variationen vielleicht deshalb für Klavier vierhändig in Auftrag gab, um sie zusammen mit Beethoven zu spielen…? In jedem Fall handelt es sich bei Beethovens beiden Variationswerken für vier Hände (HN 568) um wunderbare „Hausmusik“ im besten Sinne, die viel öfter den Weg auf das Klaviernotenpult finden sollte.
Einen oft übersehenen Schatz an hübschen Variationen bieten auch die beiden Opera 105 und 107 (HN 716), die allesamt auf eingängigen volkstümlichen Melodien basieren. Während der Klavierpart schon einen versierten Klavierspieler erfordert, ist die Flötenstimme (auch auf der Violine ausführbar) bewußt einfach gehalten und könnte sehr gut auch schon von jüngeren Schülern bewältigt werden. Wer effektvolle Vortragsstücke für den Flöten- und Geigenunterricht sucht, wird hier sicher fündig. Da die Flötenstimme von Beethoven auf Wunsch des Auftraggebers nur ad libitum hinzugefügt wurde, lassen sich diese Variationen durchaus auch einmal nur mit Klavier solo vortragen – eine ideale kleine und pfiffige Zugabe für einen Beethoven-Klavierabend. Auch nach 250 Jahren Beethoven gibt es in seinem Œuvre noch so manches zu entdecken…!
Und dann gibt es dazu noch die Variationssätze in den instrumentalen bzw. orchestralen Werken, wie z.B. im Gassenhauertrio, in der Eroica, oder in opus 111….