Die hier er­zähl­te An­ek­do­te ist zwar frei er­fun­den, könn­te sich je­doch so oder ähn­lich durch­aus ab­ge­spielt haben; siehe dazu auch die ge­si­cher­ten Be­le­ge in den Fuß­no­ten[i]

Johann Nepomuk Hummel (1778 – 1837)

Jo­hann Ne­po­muk Hum­mel (1778 – 1837)

Als uns der sech­zehn­jäh­ri­ge Lud­wig Beet­ho­ven Mitte Fe­bru­ar 1787 be­such­te, hing Meis­ter Mo­zart sei­nen schö­nen Er­in­ne­run­gen an Prag nach. Erst kurz zuvor war er zu uns nach Wien zu­rück­ge­kehrt[ii] und hatte uns be­geis­tert von sei­nem Be­such in der böh­mi­schen Haupt­stadt er­zählt. Über­schwäng­lich ge­fei­ert und auf Hän­den ge­tra­gen hät­ten sie ihn. Meis­ter Mo­zart schwärm­te re­gel­recht von „sei­nen Pra­gern“, die ihn „ver­stün­den“[iii]. Die Grä­fin Thun[iv] hatte ihm noch vor sei­ner Prag-Rei­se von einem ge­wis­sen „Lud­wig Beet­ho­ven aus Bonn“ vor­ge­schwärmt, er „müsse“ ihn am Kla­vier hören. Er sei ein „gött­lich Wun­der“ (nun, das ken­nen wir ja …). Ohne seine El­tern werde die­ser Lud­wig als­bald hier nach Wien kom­men, ei­gens um ihn, Mo­zart, zu sehen. Die­ser Lud­wig liebe seine Musik so sehr und er wün­sche sehn­lichst sei­nen Un­ter­richt.

Aber Mo­zart woll­te par­tout nicht: „Ich be­fass mich halt nit gern mit Un­ter­rich­ten; ´s nimmt mir zu viel von mei­ner Zeit und stört mich in mei­nen Ar­bei­ten“[v]. Bis dann Con­stan­ze auf ihn ein­ge­re­det hat wie auf einen Kran­ken: „Wie kannst Du nur der Grä­fin Thun die­sen Wunsch ab­schla­gen? Du weißt doch, wel­che Freun­din wir an ihr haben. Die­ser Lud­wig mag be­gabt sein oder nicht …“ usw. Schließ­lich wil­lig­te Meis­ter Mo­zart dann doch ein: „Mag er vor­bei­kom­men, wann er will. Aber Un­ter­richt gebe ich ihm par­tout kei­nen. Im­mer­hin haben wir hier schon un­se­ren Ne­po­ma­gnus“, schmei­chel­te er mir.

an­geb­lich Lud­wig van Beet­ho­ven (ca. 1783)

Meis­ter Mo­zart dach­te also die ganze Zeit über weh­mü­tig an die schö­nen Pra­ger Wo­chen zu­rück. Den von der Grä­fin Thun an­ge­kün­dig­ten Be­such die­ses an­geb­li­chen Wun­der­kinds aus Bonn hatte er völ­lig ver­ges­sen. Plötz­lich stan­den die bei­den in der Stube, die Grä­fin und der Lud­wig. Mo­zart saß ge­ra­de am Kla­vier und pro­bier­te Ideen für seine neue Oper aus, die üb­ri­gens „Don Gio­van­ni“ hei­ßen soll. Da stand dann nun also die­ser recht klein ge­wach­se­ne, nicht allzu hüb­sche Lud­wig aus der kur­k­öl­ni­schen Re­si­denz­stadt im Raume, aber adrett her­aus­ge­putzt muss ich sagen. Neben ihm die ele­gan­te Thu­nin. Ich war so­gleich über­rascht, denn wider Er­war­ten blick­te der Junge den Meis­ter mit sei­nen gro­ßen schwar­zen, fast glü­hen­den Augen nicht etwa be­schei­den oder gar un­ter­wür­fig an, son­dern vol­ler her­aus­for­dern­der Er­war­tung.

„Nun, aus Bonn vom Rhein kommt er also ei­gens hier­her an die Donau zu mir ge­reist?“ be­ginnt Mo­zart etwas ge­lang­weilt das Ge­spräch. Ich stehe die ganze Zeit lang im Eck und werde gar nicht be­ach­tet. „Ja mei, Euer Erz­her­zog Ma­xi­mi­li­an Franz hätte mich ja gar zu gerne nach Köln ge­holt[vi]; aber, gänz­lich entre nous, ist er nicht a recht dum­mer, fet­ter Kerl?[vii] Ha ha, er wird ihn doch nicht etwa her­ge­schickt haben, um mich doch noch aus Wien ab­zu­wer­ben?“[viii] Beet­ho­vens Auf­merk­sam­keit gilt aber von An­fang an dem gro­ßen Fort­epia­no mit dem dar­un­ter ge­stell­ten Pedal, das mit den Tas­ten zum Fens­ter steht[ix]. „Darf ich für ihn spie­len? Bitte! Und funk­tio­nie­ren etwa die Pe­da­le wie bei einer Orgel?“ – „Nun mal nicht so rasch mein Junge. Wie alt ist er denn und wer sind seine El­tern? Er ist ver­mut­lich beim Erz­her­zog in An­stel­lung? Wel­che In­stru­men­te spielt er denn noch außer dem Kla­vier?“ So ent­spinnt sich erst ein­mal ein klei­ner Dia­log, der je­doch nicht recht vom Fleck kom­men mag. Der junge Beet­ho­ven ist bo­ckig, mag nicht recht reden. Aber nicht etwa, weil er auf­ge­regt oder un­si­cher wäre. Nein, es ist of­fen­sicht­lich, dass er ein­zig und al­lein un­se­rem Meis­ter Mo­zart am Kla­vier etwas vor­spie­len will. Na, wer­den ja gleich sehen, ob er’s so gut kann wie ich.

Mo­zart äfft kurz den lus­ti­gen rhei­ni­schen Dia­lekt des Jun­gen nach, dann er­kun­digt er sich noch, ob sein Gast denn auch schon etwas kom­po­niert habe und was es sei. Denn in sei­nem Alter habe er schon hun­der­te Sa­chen pro­du­ziert, bei­spiels­hal­ber meh­re­re Opern, Sin­fo­ni­en, Kla­vier- und Kam­mer­wer­ke. Das schüch­tert nun den jun­gen Lud­wig, der mir immer sym­pa­thi­scher wird, dann doch kurz­zei­tig ein wenig ein, denn of­fen­bar kann er als Kom­po­nist bis­her recht wenig vor­wei­sen[x]. Seine Stär­ke sei das Kla­vier: „Des Herrn Mo­zarts Cla­vier­kon­zer­ten rech­ne ich zum größ­ten, was je ge­macht wurde. Ich werde auch ein­mal eines aus c moll kom­po­nier‘n“. Und ohne wei­ters zu fra­gen eilt er ans Kla­vier und so­fort be­ginnt er in ge­wal­ti­gem Forte das Uni­so­no des An­fangs des Kon­zerts in c-moll.[xi] „Halt ein, halt ein!“ un­ter­bricht ihn so­gleich der Meis­ter. „Das geht doch an­fangs im piano, leise und ge­fähr­lich – woher hat er denn über­haupt die Noten? Das hat er ja falsch ein­stu­diert. Mo­du­lie­re er doch ein­mal aus dem c-Moll in an­de­re Töne und fan­ta­sie­re uns etwas Schö­nes“.

Der Lud­wig, zu­erst zu­sam­men­ge­zuckt, jetzt aber sicht­lich an­ge­spornt von die­ser An­wei­sung, be­ginnt also noch­mals in zar­tem Piano die ers­ten Moll-Tak­te vom Mo­zart-Kon­zert, greift aber so­gleich die gro­ßen Sprün­ge des Haupt­mo­tivs auf und mo­du­liert in an­de­re Har­mo­ni­en. Immer wei­ter und wei­ter, ganz an­ders als es der Meis­ter kom­po­niert hatte. Es ist wirk­lich stau­nens­wert, wie weit er sich dabei – ge­wagt, ei­gen­sin­nig und doch für uns Ken­ner immer ver­ständ­lich – aus der Grund­ton­art ent­fernt. Meis­ter Mo­zart wird immer auf­merk­sa­mer, seine Span­nung steigt. Sicht­lich er­regt steht er dann plötz­lich auf und geht ans Kla­vier. Beet­ho­ven hat seine Um­ge­bung aber völ­lig ver­ges­sen; immer wei­ter geht es, ra­sen­de Läufe und Ak­kord­bre­chun­gen der Rech­ten, die Fin­ger flie­gen über zum Teil schmerz­haft dis­so­nan­te Ak­kor­de der Lin­ken; in stau­nens­wert sau­be­rem Le­ga­to eilen Uni­so­no- und Ter­zen-Pas­sa­gen bei­der Hände hin­auf und wie­der hin­un­ter, über die ganze Tas­ta­tur bis ganz hinab; es er­klingt auch rhyth­misch al­ler­hand Ver­track­tes. Ein­mal, kurz vor Ende sei­ner Fan­ta­sie mün­det das Fu­rio­so ge­schickt in eine kurze, ru­hi­ge Pas­sa­ge er­le­se­ner Klän­ge: er deu­tet hier­bei zart das himm­li­sche Es-Dur-The­ma aus dem lang­sa­men Satz des c-Moll-Kon­zerts an. Nach einem do­mi­nan­ti­schen Dop­pel­t­ril­ler geht es dann in wil­der Jagd dem Ende zu. Noch kurz ein re­tar­die­ren­der nea­po­li­ta­ni­scher Sex­t­ak­kord als Trug­schluss und dann schließt eine mehr­fach wie­der­hol­te Ka­denz in c-moll die spon­tan im­pro­vi­sier­te Vor­füh­rung ab.

Wolf­gang Ama­de­us Mo­zart (1756 – 1791)

Ich bin wahr­haft be­ein­druckt. Gran­di­os. Er ist min­des­tens so gut wie ich, eine un­glaub­lich star­ke linke Hand, viel­leicht ins­ge­samt etwas der­ber im Spiel, aber wirk­lich ein Wun­der­kna­be; beim Im­pro­vi­sie­ren ist er viel si­che­rer und viel wa­ge­mu­ti­ger als ich. Aber ob das wohl alles dem Meis­ter recht ge­fiel? „Der­art Spiel habe ich noch nie ge­hört – in ihm steckt wahr­lich der Satan, jun­ger Herr“[xii] meint Meis­ter Mo­zart nach dem letz­ten ver­klun­ge­nen Ak­kord. Er legt ver­trau­lich seine Hand auf Lud­wigs Schul­ter. Wie ich weiß, ist dies eine Aus­zeich­nung, ja fast ein Rit­ter­schlag. Lud­wig, seine dunk­len Haare in­zwi­schen etwas zer­zaust, die Wan­gen ge­rö­tet, schaut ihn di­rekt, ohne Scheu, ge­ra­de­zu pro­vo­zie­rend an. „Er spielt bra­vou­rös!“ Dann wech­selt er ins ver­trau­li­che „Du“. „An Fin­ger­fer­tig­keit man­gelt es Dir nun wirk­lich gar nicht, viel­leicht aber doch noch ein wenig an gutem Ge­schmack. Ich fürch­te­te auch ein ums an­de­re Mal um mei­nen guten Wal­ter. Das Fort­epia­no, mein Lie­ber, wie der Name schon sagt, und an­ders als das Cla­vicem­ba­lo, er­laubt uns Kla­vier­spie­lern viele Nu­an­cen. Nüt­zen wir sie doch zum Aus­druck. Nun ja, Du bist noch jung. Ich meine, Du soll­test noch mehr das feine Spiel auf­su­chen; und meide das Grobe. Mehr Sin­ge-Kla­vier als Ham­mer-Kla­vier, mein Bes­ter! Und noch wich­ti­ger: Mehr Aus­druck als hohle Ra­se­rei und Kraft­meie­rei.“

Beet­ho­ven ist ent­täuscht, schaut auf die Tas­ten. Er hatte wohl mit grö­ße­rem Lob und mit we­ni­ger Kri­tik aus dem Mund sei­nes ver­göt­ter­ten Idols ge­rech­net. Ob er wohl nicht be­merkt hat, dass ihn Meis­ter Mo­zart mit sei­nen Wor­ten – wie we­ni­ge sonst – als Mu­si­kus an­er­kennt? Sel­ten hörte ich ihn so wohl­wol­lend reden. „Noch ein­mal: Du bist ein wah­rer Vir­tu­os, Dein Ta­lent ist su­pe­ri­eur. Man wird noch von Dir hören in der Welt[xiii]. Al­lein …, es fehlt Dir … ein wenig der Schliff und gutes Vor­bild.“

Plötz­lich wen­det sich der Meis­ter di­rekt an mich, den Beet­ho­ven bis­her völ­lig über­se­hen hatte. „Ne­po­mukl, magst Du dem jun­gen Herrn aus Bonn nicht ein paar Va­ria­tio­nes aus dem Steg­reif spie­len? Ich will dem Lud­wig zei­gen, wie sin­gen­des und run­des Kla­vier­spiel gehen kann. Lud­wig, Du wirst es kaum glau­ben: schau, die­ser schmäch­ti­ge Junge, kaum mehr als die Hälf­te Dei­nes Al­ters, ist schon ein aus­ge­wach­se­ner Vir­tu­os, einer un­se­rer Bes­ten. Er geht bei mir, so­zu­sa­gen, in die Lehre, ja er wohnt auch meist hier bei mir. Ich setze viel auf ihn. Er ist na­tür­lich noch nicht ganz fer­tig, so auch Du noch nicht. Du wirst gleich hören, wo der Un­ter­schied liegt, woran Du noch ar­bei­ten sollst. Pu­mukl: Du kennst doch mei­nen „Fi­ga­ro“. Wie wär‘s mit Se vuol ball­are?“[xiv]

Und Meis­ter Mo­zart selbst setzt sich auf die Kla­vier­bank, schiebt den Lud­wig rut­schend auf die Seite und spielt leise das Se vuol ball­are-The­ma an. F-dur, mit Dämp­fung, zart ge­tupft, wie ein piz­zi­ca­to, fast wie eine Harfe. Ein sim­pler Trio­satz, pure Musik. Den mit der Do­mi­nan­te öff­nen­den Schluss­teil wie­der­holt er dabei ab­run­dend. Welch ein Kon­trast zum zuvor Ge­hör­ten. Ele­ganz, Klang­sinn, Form, ein­fachs­te tech­ni­sche Mit­tel, und: wie ge­macht für Va­ria­tio­nen.

Ich zö­ge­re nicht. Setze mich an die Tas­ten und spie­le, so gut es halt geht und wie es mir grad ein­fällt. Zu­erst noch ein­mal das Thema, um es bes­ser in die Fin­ger und in den Sinn zu be­kom­men. Und dann in etwa so, wie es mir der Meis­ter als Richt­schnur immer wie­der an­gibt: Erst ein paar ra­sche Fi­gu­ra­tio­nes über das Thema, dann auch mal die Me­lo­die ver­schwin­den las­sen und nur über die Har­mo­nie im­pro­vi­siert. Die linke Hand nicht ver­ges­sen. Auch eine lang­sa­me Va­ria­ti­on und eine in der ter­zia minor ist dabei. Letz­te­re ge­lingt mir sehr gut. Und zum Be­schluss Tem­po­wech­sel vom 3/4tel- zum ge­ra­den Takt. Der Meis­ter ist es zu­frie­den, und als ich den jun­gen Lud­wig an­se­he, ruft er spon­tan „Bravo! For­mi­da­ble. Das hätt‘ ich nie ge­glaubt. Du bist ein ech­ter Kerl!“

Meis­ter Mo­zart rät dem schei­den­den Lud­wig noch, sich ins­be­son­de­re der Va­ria­ti­on an­zu­neh­men und sich darin am Kla­vier be­stän­dig fan­ta­sie­rend zu üben: „Die Va­ria­tio setzt doch all un­se­re Fan­ta­sie frei; je ein­fa­cher das Ma­te­ri­al desto bes­ser. Das Va­ri­ie­ren lässt uns viele Frei­hei­ten und hält uns doch gleich­zei­tig in einem engen Käfig. Merk‘ er sich das! Ich glau­be, er wird der Welt einst­mals Gro­ßes in der Va­ria­tio leis­ten“, setzt er la­chend-schul­ter­klop­fend hinzu und ver­ab­schie­det rasch den dank­ba­ren Lud­wig und die Grä­fin. „Komm er doch recht bald wie­der her!“

* * *

Wir haben uns so­fort da­nach ein biss­chen an­ge­freun­det. Aber lei­der muss­te der Lud­wig bald wie­der nach Bonn zu­rück, ich weiß bis heute nicht genau warum. Er hat dazu immer ge­schwie­gen. Und als er dann 5 Jahre spä­ter wie­der­kam … war unser Mo­zart schon tot.

Als Com­po­si­teur ist mir der Lud­wig heute him­mel­weit über­le­gen, das gebe ich gerne zu. Als Vir­tu­os am Kla­vier aber wohl dann doch nicht[xv]. Wie mir Lud­wig er­zähl­te, hatte er – zu­rück in Bonn – dann oft und viel am Kla­vier über ver­schie­de­ne The­men va­ria­ti­ons­mä­ßig im­pro­vi­siert. Vor allem über The­men aus Opern un­se­res viel zu früh hin­ge­schie­de­nen Meis­ters, vor­nehm­lich aus der Zau­ber­flö­te, die er sehr liebe. Er will dazu bald ein­mal etwas aus­kom­po­nie­ren, viel­leicht mit der Be­glei­tung eines Vio­lon­cells, hat er mir neu­lich er­zählt. Noch in Bonn hat der Lud­wig dann in Er­in­ne­rung an seine ein­zi­ge und ihm so wert­vol­le Be­geg­nung mit dem Meis­ter 12 Va­ria­tio­nen über „un­se­re“ Fi­ga­ro-Ca­vati­na Se vuol ball­are rich­tig­ge­hend kom­po­niert und für‘s Kla­vier al­lein auf­ge­schrie­ben[xvi]. Kurz bevor der Lud­wig dann end­lich zu uns nach Wien zu­rück­kam, er­gänz­te er noch eine Vio­lin-Stimm, somit Va­ria­tio­nen für Kla­vier und Vio­li­ne – die bei­den „Mo­zart“-In­stru­men­te. Er hat diese Va­ria­tio­nen zu Ehren des Meis­ters in Wien zum Druck geben. Dort kamen sie beim Dru­cker Ar­ta­ria schon im Juli 1793 her­aus. Nota bene mit der Opus­zahl 1[xvii], und mit einer Wid­mung an seine Freun­din Eleo­no­ra aus Bonn[xviii].

Aber bevor es der Ar­ta­ria zum Druck er­hielt, setz­te der Lud­wig hier in Wien noch rasch eine Coda hinzu[xix]. Aber was für eine! Man meint ja zu­nächst, sie sei nach ein paar Tak­ten be­en­det und ist er­freut. Aber nein, wel­cher Schreck: nach einer stil­len Pause setzt die Musik er­neut ein, jetzt auf dem tie­fen D.

Beet­ho­ven, Va­ria­tio­nen über Mo­zarts “Se vuol ball­are”, Coda T. 28 ff.

Und dann schwingt sie sich erst lom­bar­disch dann chro­ma­tisch in glück­li­che, ju­belnd tril­lern­de Höhen auf. Unser viel zu früh ver­stor­be­ne Meis­ter hätte es nicht schö­ner hin­ge­bracht. Na­tür­lich ver­leug­net auch diese Coda nicht den neuen Meis­ter: Plötz­lich tritt näm­lich noch zum hohen Tril­ler in der Rech­ten ver­trackt die Me­lo­die­stim­me hinzu.

Beet­ho­ven, Va­ria­tio­nen über Mo­zarts “Se vuol ball­are”, Coda T. 49 ff.

Das kann kaum einer spie­len[xx]. Aus­ge­nom­men na­tür­lich wir beide, der Lud­wig und ich.


[i] In den Jah­ren ca. 1787/88 lebte der etwa 9-jäh­ri­ge Jo­hann Ne­po­muk Hum­mel (1778 – 1837) an­geb­lich in Mo­zarts Haus­halt und war über län­ge­re Zeit des­sen Schü­ler. In den ein­schlä­gi­gen Mo­zart-Brie­fen oder an­de­ren Pri­mär­quel­len gibt es dazu kei­ner­lei Beleg; sehr wohl je­doch aus dem Um­kreis der Hum­mel-Bio­gra­fik. An der Tat­sa­che selbst hegt auch die Mo­zart-For­schung kei­nen Zwei­fel. Siehe: Otto Erich Deutsch, Mo­zart. Die Do­ku­men­te sei­nes Le­bens, Kas­sel 1961 [im Fol­gen­den zi­tiert als: Deutsch/Do­ku­men­te], S. 303, 452, 481 f. („Der klei­ne Hum­mel wird 1787 Mo­zarts Schü­ler“), in: Jo­han­nes Hum­mel über sei­nen Sohn Jo­hann Ne­po­muk (1873). Siehe auch: http://​www.​jnhummel.​info/​en/​lif​eear​lyli​fe.​php und https://​en.​wikipedia.​org/​wiki/​Johann_​Nepomuk_​Hummel
Beet­ho­vens ers­ter Wien-Auf­ent­halt fand, neue­ren Er­kennt­nis­sen zu­fol­ge, be­reits ab Ja­nu­ar 1787 statt, muss­te dann aber, an­geb­lich wegen der plötz­li­chen Er­kran­kung sei­ner Mut­ter, etwa März/April wie­der zu­rück nach Bonn; siehe: Jo­han­nes Hoyer, Wann reis­te Beet­ho­ven erst­mals nach Wien?, in: https://​en.​wikipedia.​org/​wiki/​Beethoven_​and_​Mozart. Ob er in Wien sein gro­ßes Idol, Mo­zart, tat­säch­lich per­sön­lich traf, ist um­strit­ten aber gut mög­lich. Zwar gibt es dazu keine be­last­ba­ren Do­ku­men­te, und weder er noch Mo­zart selbst ver­lo­ren auf­fäl­li­ger Weise je ein Wort dar­über. Be­kannt ist je­doch die im fol­gen­den ver­link­te An­ek­do­te, die sich in der durch­aus se­riö­sen Mo­zart-Bio­gra­phie von Otto Jahn (S. 306 f.) fin­det, der in Fuß­no­te noch be­kräf­ti­gend hin­zu­setzt: „Der obige Be­richt ist mir aus Wien aus guter Quel­le mit­get­heilt“: https://​books.​google.​de/​books?​redir_​esc=y&​hl=de&​id=b4U​fAAA​AYAA​J&​q=beethoven#​v=snippet&​q=beethoven&​f=false.

[ii] Mo­zarts ers­ter Prag-Auf­ent­halt da­tiert 11. Ja­nu­ar bis ca. 8. Fe­bru­ar 1787 (Deutsch/Do­ku­men­te, S. 250 f.)
[iii] https://​www.​moz​artb​iogr​afie.​de/​uebersicht/​prag/​prag.​htm.

[iv] Maria Wil­hel­mi­ne von Thun und Ho­hen­stein https://​en.​wikipedia.​org/​wiki/​Maria_​Wilhelmine_​von_​Thun_​und_​Hohenstein.

[v] Zi­tiert aus: „Der klei­ne Hum­mel …“ (Deutsch/Do­ku­men­te, S. 481).

[vi] Brief Mo­zarts an sei­nen Vater, 23.1.1782 http://​dme.​mozarteum.​at/​DME/​briefe/​letter.​php?​mid=1226&​cat= „bey die­sem [Erz­her­zog Ma­xi­mi­li­an Franz] kann ich sagen daß ich alles gelte – er streicht mich bey allen ge­le­gen­hei­ten her­vor – und ich woll­te fast gewis sagen kön­nen, daß wenn er schon Chur­fürst von kölln wäre, ich auch schon sein ka­pell­meis­ter wäre“ (Brief­aus­ga­be, Bau­er-Deutsch Nr. 660, Z. 38 – 41).

[vii] Brief Mo­zarts an sei­nen Vater, 17.11.1781 http://​dme.​mozarteum.​at/​DME/​briefe/​letter.​php?​mid=1207&​cat= (Brief­aus­ga­be, Bau­er-Deutsch Nr. 641, Z. 40 ff.).

[viii] Siehe die ent­spre­chen­de Spe­ku­la­ti­on bei Lewis Lock­wood, Beet­ho­ven. The Music and the Life, New York und Lon­don, 2003, S. 40.

[ix] https://​mozarteum.​at/​mozarts-​ins​trum​ente/#​mozarts-​ori​gina​lins​trum​ente-​section (unter: „Mo­zarts Ham­mer­kla­vier“)

[x] Gemäß Beet­ho­ven-Werk­ver­zeich­nis (https://​www.​henle.​de/​de/​detail/?​Tit​el=The​mati​sch-​bib​liog​raph​isch​es+Wer​kver​zeic​hnis​_​2207), Band 2, S. 799, sind es bis 1787 nur ca. 12 Kom­po­si­tio­nen, dar­un­ter die 3 Kla­vier­so­na­ten WoO 47 („Kur­fürs­ten“) und die drei Kla­vier­quar­tet­te WoO 36.

[xi] KV 491.

[xii] Die­ser Aus­ruf Ge­lineks ist einem Be­richt Carl Czer­nys zu einem an­geb­li­chen Kla­vier­wett­be­werb zwi­schen Beet­ho­ven und dem Pia­nis­ten Abbé Jo­seph Ge­linek ent­nom­men: https://​bachtrack.​com/​de_​DE/​beethoven-​gelinek-​duell-​com​peti​tion​s-​november-​2017.
Man sehe sich auch die wun­der­ba­re Film­se­quenz Da­ni­el Stei­belt „gegen“ Beet­ho­ven an: https://​www.​youtube.​com/​watch?​v=qT8​cBX8​93ic&​t=4s.

[xiii] Mo­zart soll aus­ge­ru­fen haben: „Auf den gebt Acht, der wird ein­mal in der Welt von sich reden ma­chen!“ (Otto Jahn, S. 307).

[xiv] Fi­ga­ros Ca­vati­na „Se vuol ball­are“ aus Mo­zarts Oper „Die Hoch­zeit des Fi­ga­ro“: https://​www.​youtube.​com/​watch?​v=3Md​XqtQ​1vJQ.

[xv] Beet­ho­ven und Hum­mel gal­ten zeit­le­bens als eben­bür­ti­ge, wenn auch gänz­lich un­ter­schied­li­che Kla­vier­vir­tuo­sen: https://​www.​deu​tsch​land​funk.​de/​der-​sozial-​engagierte-​unt​erst​uetz​er-​beethovens.​871.​de.​html?​dram:​article_​id=224405

[xvi] Laut Beet­ho­ven-Werk­ver­zeich­nis ist es gut mög­lich, dass der end­gül­ti­gen Fas­sung der Va­ria­tio­nen für Kla­vier und Vio­li­ne WoO 40 über Mo­zarts „Se vuol ball­are“ eine ur­sprüng­li­che Bon­ner Fas­sung für Kla­vier solo vor­aus­ging; Band 2, S. 101 (WoO 40, Zur Ge­schich­te).

[xvii] Tat­säch­lich trug der Druck in sei­nen ers­ten Auf­la­gen diese pro­mi­nen­te Opus-Zahl, die erst nach Er­schei­nen der drei Kla­vier­tri­os „Opus 1“, 1795, vom Ti­tel­blatt ver­schwand (Beet­ho­ven-Werk­ver­zeich­nis, eben­da). Wei­ter­füh­ren­de An­ga­ben zum Druck und zum Werk: https://​da.​beethoven.​de/​sixcms/​detail.​php?​id=15110&​tem​plat​e=wer​ksei​te_​digitales_​archiv_​de&_​eid=1502&_​ug=Kla​vier%20u​nd%20e​in%20w​eite​res%20I​nstr​umen​t&_​werkid=205&_​mid=Werke&​suc​hpar​amet​er=&_​seite=1.

[xviii] WoO 40 ist Beet­ho­vens Bon­ner Ju­gend­freun­din Eleo­no­re Bri­git­te von Bre­u­ning ge­wid­met (ge­tauft 23.4.1771, Bonn, ge­stor­ben 13.6.1841, Ko­blenz): „Com­posées et De­dies a Ma­de­moi­sel­le Eleo­no­re de Bre­u­ning par Mr. Beet­ho­ven”: https://​da.​beethoven.​de/​sixcms/​detail.​php?​id=15110&​tem​plat​e=dok​seit​e_​digitales_​archiv_​de&_​eid=1502&_​ug=Kla​vier%20u​nd%20e​in%20w​eite​res%20I​nstr​umen​t&_​werkid=205&_​dok​id=T00​0029​73&_​opu​s=WoO%204​0&_​mid=Werke&​suc​hpar​amet​er=&_​suc​hein​stie​g=&_​seite=1.

[xix] Tat­säch­lich fin­den sich Skiz­zen zur Coda aus­schließ­lich auf Wie­ner No­ten­pa­pier, wäh­rend das ganze Üb­ri­ge auf Bon­ner Pa­pier no­tiert ist (Beet­ho­ven-Werk­ver­zeich­nis, eben­da).

[xx] Aus Beet­ho­vens Brief an Eleo­no­re von Bre­u­ning vom 2.11.1793 (Wid­mungs­schrei­ben): „… die Va­ria­tio­nen wer­den etwas schwer zum spie­len seyn, be­son­ders die Tril­ler in der Coda, das darf sie aber nicht ab­schre­cken, es ist so ver­an­stal­tet, das sie nichts als den Tril­ler zu ma­chen brau­chen, die üb­ri­gen Noten las­sen sie aus, weil sie in der Vio­lin Stim­me auch vor­kom­men. nie würde ich so etwas ge­sezt haben, aber ich hatte schon öfter be­merkt, daß hier und da einer in Wien war, wel­cher meis­tens, wenn ich des Abends fan­ta­sirt hatte, des an­dern Tages viele von mei­nen Ei­gen­hei­ten auf­schrieb, und sich damit Brüs­te­te; weil ich nun vor­aus sahe, daß bald sol­che Sa­chen er­schei­nen wür­den, so nahm ich mir vor ihnen zu vor zu kom­men. eine an­de­re Ur­sa­che war noch dabey, nem­lich: die hie­si­gen Kla­wi­er­meis­ter in ver­le­gen­heit zu sezen, man­che davon sind meine Todtfein­de, und so woll­te ich mich auf diese Art an ihnen rä­chen, weil ich vor­aus wußte, daß man ihnen die Va­ria­tio­nen hier und da vor­le­gen würde, wo die Her­ren sich denn übel dabey pro­du­ci­ren wür­den.“ https://​da.​beethoven.​de/​sixcms/​detail.​php?​id=15110&​tem​plat​e=dok​seit​e_​digitales_​archiv_​de&_​eid=1502&_​ug=Kla​vier%20u​nd%20e​in%20w​eite​res%20I​nstr​umen​t&_​werkid=205&_​dokid=b188&_​opu​s=WoO%204​0&_​mid=Werke&​suc​hpar​amet​er=&_​suc​hein​stie​g=&_​seite=1.

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3 Antworten auf »Beethoven bei Mozart zu Besuch. Zur Entstehungsgeschichte von Beethovens Mozart-Variationen WoO 40 aus den Erinnerungen von Johann Nepomuk Hummel (Erstveröffentlichung)«

  1. Jacob Buis sagt:

    Gratuliere. Schön erfundene und geschriebene Anekdote.

    Nur eine kleine Frage: reiste Beethoven wirklich angeblich wegen der plötzlichen Erkrankung seiner Mutter wieder zurück nach Bonn?
    Tatsächlich war die Mutter schon zur Zeit der Abreise nach Wien bestimmt nicht in einer guten Verfassung und letztendlich starb sie denn auch am 17.Juli.

    Aber falls die Krankheit (TBC) wirklich so dramatisch verschlimmerte UND ein Schreiben aus Bonn Beethoven so schnell wie möglich in Wien erreichte, warum reiste Beethoven dann über einen Umweg über München und Augsburg, wo er den Klavierfabrikanten Johann Georg Stein besuchte?
    [s. Büning, Sprechen wir über Beethoven, München (2018) p.53, z.B.]

    • Julia Ronge sagt:

      Seit den Forschungen von Dieter Haberl, der Fremdenlisten im Regensburger Diarium ausgewertet hat, wissen wir ein wenig mehr über Beethovens erste Wienreise, auch wenn immer noch das meiste im Dunkel liegt und archivalische Quellen zum Aufenthalt in Wien fehlen. Demnach hat sich Beethoven auf der Heimreise – er ist spätestens am 28. März 1787 dort abgereist – tatsächlich die Zeit genommen, in München, Regensburg und Augsburg Station zu machen. Der Routenverlauf macht deutlich, dass Beethoven keineswegs auf dem schnellsten Weg nach Bonn zurückgekehrt ist. Joseph von Schaden in Augsburg schrieb Beethoven im September 1787, er habe seine Mutter bei der Rückkehr noch lebend angetroffen. Er schreibt allerdings auch: “je näher ich meiner vaterstadt kam, je mehr briefe erhielte ich von meinem vater, geschwinder zu reisen als gewöhnlich, da meine mutter nicht in günstigen gesundheitsumständen wär”. Diese Briefe müssen ihn aber erreicht haben, als er sich bereits im süddeutschen Raum oder noch näher an Bonn befand, da er sonst eine andere, schnellere Reiseroute für die Rückkehr gewählt hätte.

  2. jony sagt:

    Die Überschneidung von Beethoven und Mozart in der Musikgeschichte ist ein faszinierendes Thema für Erkundungen und Diskussionen, wie die engagierten Kommentare zu diesem Blogbeitrag zeigen.

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