Das Beethoven-Jahr 2020 geht zu Ende, und keine Frage: das hatten wir uns anders vorgestellt… Die COVID-19-Pandemie hat weltweit den meisten Feierlichkeiten, Festkonzerten, Kongressen und sonstigen Beethoven gewidmeten Veranstaltungen den Garaus gemacht, das Motto „Seid umschlungen, Millionen“ scheitert an der Abstandsregelung, und Küsse an die ganze Welt sollte man derzeit ebenfalls nicht verteilen.
Freilich gilt es die Relationen klarzustellen: Beethoven und seine Musik werden dieses Jahr mit seinem Virus problemlos überleben – Millionen von Menschen haben es tragischerweise nicht. Für die meisten von uns bringt Corona starke persönliche und wirtschaftliche Einschränkungen mit sich, und in die Arbeitswelt ist der neudeutsche Ausdruck „Home Office“ eingezogen, der zu den Wörtern des Jahres 2020 gehört wie Lockdown, Maskenpflicht und Aerosol.
In unserem letzten Beethoven-Blog dieses Jahres, der ebenfalls am sicheren heimischen Schreibtisch verfasst wurde, soll es daher einmal nicht um seine Musik gehen, sondern darum, wo diese Musik entstand: Wie sah eigentlich Beethovens „Home Office“ aus? Nach dem Verlassen der Bonner Hofkapelle und seinem Umzug nach Wien hatte er ja keine feste Anstellung mehr, sondern musste seinen Unterhalt als freischaffender Künstler durch Konzerte, Unterricht und den Verkauf seiner Kompositionen an Musikverlage verdienen. So entstanden Beethovens Werke in seiner Wiener Zeit einerseits in der heimischen Stube, also am Schreibtisch und zum Teil auch am Klavier, an dem er neue Einfälle ausprobierte, und andererseits auf seinen ausgedehnten Spaziergängen durch das Wiener Umland. Beethoven liebte es, allein in der freien Natur zu sein und brachte von dort unzählige neue Einfälle in seinen Notizbüchern mit nach Hause, wo er sie ausarbeitete und ins „Reine“ (für seine Verhältnisse) schrieb.
Wilhelm Faßbender: Beethoven beim Komponieren im Studierzimmer
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Beethoven Haus Bonn.
Die zahlreichen Berichte seiner Zeitgenossen über seine unordentlichen, ständig wechselnden Behausungen (Beethoven bewohnte in Wien mindestens 29 Wohnungen, nicht eingerechnet seine Sommeraufenthalte außerhalb der Stadt), über sein chaotisches Junggesellenleben und seine Erscheinung im Straßenbild sind legendär und vermitteln einen faszinierenden Eindruck von seiner Lebens- und Arbeitsweise.
Eine kleine Auswahl dieser Zeitzeugenberichte habe ich für Sie im Folgenden zusammengestellt; sie sind entnommen der im G. Henle Verlag erschienenen zweibändigen Anthologie Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen, die auf fast 1200 Seiten faszinierende Rezeptionszeugnisse in Form von Artikeln, Erinnerungen, Anekdoten, Briefen, Tagebucheinträgen, Interviews etc. bietet.
Louis Baron de Trémont, Militärbeamter und Schriftsteller, 1809:
„Seine Wohnung bestand, glaube ich, nur aus zwei Räumen. Im ersten war ein geschlossener Alkoven, in dem sein Bett stand, aber klein und dunkel, so dass er seine Toilette im zweiten Zimmer oder Wohnzimmer machte. Stellen Sie sich die größtmögliche Unsauberkeit und das größte Durcheinander vor, das es geben kann: Wasserlachen auf dem Fußboden, ein ziemlich alter Flügel, auf dem sich der Staub ebenso behauptete wie handschriftliche und gedruckte Musikstücke. Darunter (ich übertreibe nichts) ein nicht geleerter Nachttopf. Daneben ein kleiner Tisch aus Nussbaumholz, der es gewohnt war, dass die auf ihm stehende Schreibgarnitur oft umgestoßen wurde, jede Menge mit Tinte verkrustete Federn, neben denen jene sprichwörtlichen Gasthausfedern ausgezeichnet gewesen wären, und noch mehr Noten. Die Sitzgelegenheiten, beinahe alles Rohrgeflechtsessel, waren bedeckt von Tellern mit den Resten des Nachtmahls vom Vortag sowie von Kleidungsstücken usw.“
Bettina Brentano, Schriftstellerin, 1810:
„Seine Wohnung ist ganz merkwürdig, im ersten Zimmer zwei bis drei Flügel, alle ohne Beine auf der Erde liegend, Koffer, worin seine Sachen, ein Stuhl mit drei Beinen, im zweiten Zimmer sein Bett, welches Winters wie Sommers aus einem Strohsack und dünner Decke besteht, ein Waschbecken auf einem Tannentisch, die Nachtkleider liegen auf dem Boden…“
Fanny Giannattasio del Rio, Bekannte Beethovens:
„Als er bei seinen künstlerischen Spaziergängen bis gegen Wienerneustadt kam, machte seine auffallende Erscheinung, da er immer aufschaute und seine Noten ins Taschenbuch schrieb, die Leute glauben er sei ein Spion; denn es war in Kriegszeit und die Stadt befestigt. Er ward deshalb genöthigt aufs Rathhaus zu kommen, und kam erst los, als ein musikliebender anwesender Rath oder dergleichen in ihm Beethoven erkannte.“
Wenzel Johann Tomaschek, Komponist, 1814
„Das Empfangzimmer, in dem er mich freundlich begrüßte, war nichts weniger als glänzend möblirt, nebstbei herrschte auch darin eine eben so große Unordnung, als in seinem Haare. Ich fand hier ein aufrechtstehendes Pianoforte, und auf dessen Pulte den Text zu einer Kantate (der glorreiche Augenblick) von Weißenbach; auf der Claviatur lag ein Bleistift, womit er die Skizze seiner Arbeiten entwarf; daneben fand ich auf einem so eben beschriebenen Notenblatte die verschiedenartigsten Ideen ohne allen Zusammenhang hingeworfen, die heterogensten Einzelnheiten neben einander gestellt, wie sie ihm eben in den Sinn gekommen sein mochten. Es waren die Materialien zu der neuen Kantate. So zusammengewürfelt, wie diese musikalischen Theilchen, war auch sein Gespräch…“
Beethovens Schreibtisch (aufgeräumt)
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Beethoven Haus Bonn.
Joseph Rudolph Lewy, Hornvirtuose:
„Es war im Jahre 1822, als ich Beethoven eines Tages in der Kärntnerthorstraße traf. Er stand mitten im größten Menschengewühle, ganz in sich versunken und komponierte. Lange Zeit sah ich zu, wie er, das Notenpapier an das Thor eines Gasthauses gepreßt, eifrig schrieb.“
Gioachino Rossini, Komponist, 1822:
„Als ich die Treppe hinaufstieg, die zu der armseligen Wohnung führte, in welcher der große Mann lebte, hatte ich einige Mühe, meine Gefühle zu beherrschen. Als sich die Tür öffnete, befand ich mich in einer Art finsterem Loch, das ebenso schmutzig war wie es von einer schrecklichen Unordnung zeugte. Ich erinnere mich vor allem, dass die Decke, die unmittelbar unter dem Dach lag, breite Risse zeigte, durch welche der Regen in Strömen eindringen konnte.“
Samson Moses de Boer, Cellist, 1825
„Nachdem wir einige Zeit über Kunst gesprochen hatten, zeigte mir dieser große Mann ein dünnes Taschenbuch, liniert für die Schrift der Musik, und auf mehreren Seiten mit kleinen Noten in Bleistift gefüllt. ‚Sehen Sie, mein Spaziergang‘, sagte er mir.“
Julius Schmidt: Beethoven beim Spaziergang in der Natur (ohne Ausgangsbeschränkung)
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Beethoven Haus Bonn.
Ludwig Rellstab, Dichter und Musikschriftsteller, 1825:
„…ich wurde gemeldet, gab meinen Brief von Zelter als Einlaßkarte mit, und stand harrend im Vorzimmer. Noch könnte ich es malen, in seiner wüsten halb Leere, halb Unordnung. Auf dem Fußboden standen eine Menge geleerter Flaschen; auf einem schlichten Tisch einige Teller, zwei Gläser, eins halb gefüllt. […] Beethoven lud mich ein, mich zu setzen: er selbst nahm seinen Platz auf einem Stuhl vor dem Bett, und rückte ihn an einen Tisch, der, zwei Schritte davon, ganz mit Schätzen bedeckt war, mit Noten von Beethoven’s Hand, mit den Arbeiten, die ihn eben jetzt beschäftigten. Ich nahm einen Stuhl neben dem seinigen. Schnell werfe ich noch einen Blick über das Zimmer. Es ist so groß wie das Vorzimmer, hat zwei Fenster. Unter diesen steht ein Flügel. Sonst ist Nichts darin zu entdecken, was irgend Behaglichkeit, Bequemlichkeit, vollends Glanz oder Luxus verriethe. Ein Schreibschrank, einige Stühle und Tische, weiße Wände mit alten, verstaubten Tapeten, – das ist Beethoven’s Gemach.“
Ignaz Jeitteles, Schriftsteller und Jurist, 1826:
„Wir zogen die Schelle an der Wohnungsthür. Niemand macht auf. Wir versuchen die Klinke, die Thüre ist offen, das Vorzimmer leer! Wir klopfen an der Thüre von Beethoven’s Stube und da Niemand ‚herein‘ ruft, klopfen wir wieder, endlich stärker. Vergebens! und doch hörten wir, daß Jemand in der Stube sei. Wir treten ein. Wunderliche Ueberraschung! An der uns entgegenstehenden Wand, an welcher kolossale mit Kohle rastrirte Papierbogen klebten, stand, uns den Rücken zugewendet, Beethoven – aber wie? Es mochten ihm an dem übermäßig heißen Sommertage die Kleider zu unbequem geworden sein, und so hatte er sie abgelegt und schrieb, nur mit einem kurzen Hemde angethan, zuweilen mit rothem Stifte flüchtige Noten an die Wand. Dann trat er vor und zurück, taktirte wohl auch und schlug auf seinem saitenlosen Klavier einige Tasten an. Zufällig wendete er sich der Thüre nicht einmal zu.“
Tintenfass Beethovens
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Beethoven Haus Bonn.
Ignaz von Seyfried, Dirigent und Freund Beethovens, Erinnerungen 1832
„…wiewohl übrigens in seinem Haushalt eine wahrhaft admirable Confusion dominirte. Bücher und Musikalien in allen Ecken zerstreut, – dort das Restchen eines kalten Imbisses, – hier versiegelte oder halbgeleerte Bouteillen, – dort auf dem Stehpulte die flüchtige Skizze eines neuen Quatuors, – hier die Rudera des Dejeuner’s, – dort am Piano, auf bekritzelten Blättern, das Material zu einer herrlichen, noch als Embryo schlummernden, Symphonie, – hier eine auf Erlösung harrende Correctur, – freundschaftliche und Geschäftsbriefe den Boden bedeckend, – zwischen den Fenstern ein respectabler Laib Stracchino, ad latus erkleckliche Trümmer einer echten Veroneser Salami…“
Grundriß der letzten Wohnung Beethovens im sogenannten „Schwarzspanierhaus“ in Wien
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Beethoven Haus Bonn.