Ein Gast­bei­trag von Jo­han­nes Behr von der Jo­han­nes Brahms Ge­samt­aus­ga­be, Kiel.

Jo­han­nes Brahms, auf­ge­nom­men im Juni 1896
(Brahms-In­sti­tut an der Mu­sik­hoch­schu­le Lü­beck)

Am 3. April 1897, vor nun­mehr 125 Jah­ren, starb Jo­han­nes Brahms. Etwa ein Drei­vier­tel­jahr zuvor hatte er, von sei­ner To­des­krank­heit zu­neh­mend nie­der­ge­drückt, die Kom­po­nis­ten­fe­der end­gül­tig aus der Hand ge­legt. Noch im Mai und Juni 1896 hatte er sich mit der Aus­ar­bei­tung von ins­ge­samt elf Cho­ral­vor­spie­len für Orgel be­schäf­tigt. Er übe „in klei­nen Scho­sen Buß und Reu“, schrieb er da­mals an Eu­se­bi­us Man­dy­czew­ski – und lie­fer­te damit ein Bei­spiel für seine Art, sich desto schnodd­ri­ger über ei­ge­ne Musik zu äu­ßern, je erns­ter es ihm ei­gent­lich damit war. Erst 1902 wurde diese von der be­son­de­ren Aura des ‚letz­ten Wer­kes‘ um­weh­te Samm­lung aus dem Nach­lass als Opus 122 ver­öf­fent­licht. Die elf Cho­ral­vor­spie­le sind in der Neuen Brahms-Ge­samt­aus­ga­be be­reits er­schie­nen (Serie IV) und auch in einer hier­auf ba­sie­ren­den Ur­text­aus­ga­be zu­gäng­lich (HN 1368).

Un­mit­tel­bar vor sei­ner Be­schäf­ti­gung mit Cho­ral­vor­spie­len hatte Brahms noch einen Zy­klus von vier Ge­sän­gen voll­endet, den er im Som­mer 1896 als letz­tes Opus selbst zum Druck brach­te. Am 7. Mai zeig­te er Max Kal­beck ein „Ma­nu­skript­heft“ mit vier Kom­po­si­tio­nen nach Bi­bel­tex­ten und sagte dazu: „Das habe ich mir heute zum Ge­burts­tag ge­schenkt.“ Schon we­ni­ge Tage spä­ter sand­te er die ab­schrift­li­che Stich­vor­la­ge an sei­nen Ber­li­ner Ver­le­ger Fritz Sim­rock, und be­reits im Juli lag die erste Auf­la­ge der Vier erns­ten Ge­sän­ge op. 121 in ihrer Ori­gi­nal­fas­sung für Bass und Kla­vier ge­druckt vor. Wie „ernst“ es Brahms auch mit die­sem Werk war, ist wie­der­um an be­tont sa­lop­pen Äu­ße­run­gen zu er­ken­nen. So kün­dig­te er im Mai dem Ver­le­ger die Ge­sän­ge mit den Wor­ten an: „sie sind ver­flucht ernst­haft und dabei so gott­los, daß die Po­li­zei sie ver­bie­ten könn­te – wenn die Worte nicht alle in der Bibel stän­den.“ Und als er im Juni die Kor­rek­tur­ab­zü­ge an Man­dy­czew­ski zur Wei­ter­lei­tung an Sim­rock schick­te, nann­te er die Stü­cke „gott­lo­se Schna­dahüp­ferl“. Ein grö­ße­rer Ge­gen­satz als der­je­ni­ge zwi­schen lus­ti­gen „Schna­dahüp­ferln“ (einer ge­wis­sen Sorte al­pen­län­di­scher Tanz­lie­der) und den vier tief­grün­di­gen Re­fle­xio­nen über die letz­ten Dinge ist wohl kaum vor­stell­bar.

Brahms selbst war es, der die in Opus 121 ver­ton­ten Texte aus ver­schie­de­nen Bü­chern der Bibel sinn­reich zu­sam­men­stell­te, wie er es bei­spiels­wei­se auch beim Deut­schen Re­qui­em op. 45 und bei der Mo­tet­te „Warum ist das Licht ge­ge­ben dem Müh­se­li­gen?“ op. 74 Nr. 1 getan hatte. Auch diese bei­den Werke be­fass­ten sich schon mit den gro­ßen Fra­gen um Leben und Tod des Men­schen, die nun in den Vier erns­ten Ge­sän­gen noch ein­mal mit scho­nungs­lo­ser Härte durch­ge­nom­men wer­den: Der Mensch stirbt eben­so wie das „Vieh“ und kann nicht wis­sen, was nach dem Tod ge­sche­hen wird, so dass ihm nichts an­de­res üb­rig­bleibt, als im Leben „fröh­lich in sei­ner Ar­beit“ zu sein (Nr. 1). Es wird „unter der Sonne“ von Mäch­ti­gen viel Un­recht aus­ge­übt, wofür es kei­nen Trost gibt; darum ist der Tod bes­ser als das Leben und das Nicht­ge­bo­r­en­sein sogar noch bes­ser (Nr. 2). Der Ge­dan­ke an den Tod ist für Wohl­ha­ben­de und Ge­sun­de bit­ter, doch für die „Dürf­ti­gen“ und Hoff­nungs­lo­sen ist er wohl­tu­end (Nr. 3). Alles Reden mit Men­schen- und En­gel­zun­gen, alle Er­kennt­nis, aller Glau­be, alle Wohl­tä­tig­keit und sogar der Mär­ty­rer­tod sind nichts wert ohne die Liebe. „Nun aber blei­bet Glau­be, Hoff­nung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die grö­ßes­te unter ihnen.“ (Nr. 4).

Im Schluss­ab­schnitt des letz­ten Ge­san­ges, Brahms’ in­ni­ger Ver­to­nung der letz­ten Worte des „Hohen Lie­des der Liebe“ (1. Ko­rin­ther 13), be­geg­net eine ir­ri­tie­ren­de Un­klar­heit der mu­si­ka­li­schen No­ta­ti­on. In den Tak­ten 83–87 (Ab­bil­dung 1) über­la­gern sich drei mu­si­ka­li­sche Schich­ten: ers­tens die Sing­stim­me in Vier­teln und ge­wöhn­li­chen (duo­li­schen) Ach­teln; zwei­tens die bei­den un­te­ren Stim­men im Kla­vier­part, deren ge­bro­che­ne Ak­kor­de in Ach­tel­trio­len ver­lau­fen; drit­tens die obere, nach oben ge­hals­te Stim­me im Kla­vier­part, die ei­ner­seits (wie die Sing­stim­me und rhyth­misch mit ihr über­ein­stim­mend) duo­lisch no­tiert ist und an­de­rer­seits (durch ver­ti­ka­le Pla­zie­rung bzw. Ge­mein­sam­keit der No­ten­köp­fe) in die Trio­len­be­we­gung der mitt­le­ren Kla­vier­stim­me in­te­griert ist.

Ab­bil­dung 1: Vier erns­te Ge­sän­ge op. 121 Nr. 4, T. 83–87, Fas­sung für Bass und Kla­vier.

An­ge­sichts die­ses No­ten­bil­des ist zu fra­gen, wie sich Brahms die drei Schich­ten in ihrem klin­gen­den Ver­hält­nis zu­ein­an­der ge­dacht haben mag, wie die Stel­le also im Sinne des Kom­po­nis­ten aus­ge­führt wer­den soll. Vor allem be­trifft dies die Sing­stim­me und die Kla­vier-Ober­stim­me: Sol­len sie rhyth­misch über­ein­stim­mend als kla­rer „Zwie­ge­sang“ in Sex­ten und Ter­zen er­klin­gen, oder sind punk­tu­ell mi­ni­ma­le Ver­schie­bun­gen zwi­schen duo­li­schen und trio­li­schen Ach­teln ge­wünscht?

Eine münd­li­che oder schrift­li­che Äu­ße­rung von Brahms ist dazu nicht über­lie­fert, und auch Er­in­ne­run­gen von Zeit­ge­nos­sen an Brahms’ ei­ge­nen Vor­trag des Lie­des am Kla­vier gehen auf die­sen As­pekt nicht ein. Kann ein Blick auf die vor­lie­gen­den No­ten­quel­len hel­fen, die Frage nach der in­ten­dier­ten Aus­füh­rung zu be­ant­wor­ten?

Zu Leb­zei­ten des Kom­po­nis­ten er­schie­nen drei se­pa­ra­te Aus­ga­ben der Vier erns­ten Ge­sän­ge. Nach der Ori­gi­nal­fas­sung für Bass vom Juli 1896 ver­öf­fent­lich­te Brahms im De­zem­ber zwei wei­te­re Aus­ga­ben für Alt/Ba­ri­ton bzw. So­pran/Tenor, um auch die­ses Lie­der-Opus für Sän­ge­rin­nen und Sän­ger an­de­rer Stimm­la­gen leich­ter zu­gäng­lich zu ma­chen. Ein Ver­gleich der frag­li­chen Stel­le in den drei Aus­ga­ben führt zu der über­ra­schen­den Fest­stel­lung, dass die Stim­men in ihrem Ver­hält­nis zu­ein­an­der je­weils un­ter­schied­lich ge­sto­chen sind, womit auch ver­schie­de­ne Arten der Aus­füh­rung na­he­ge­legt wer­den:

Die Aus­ga­be für Bass (Ab­bil­dung 1) pla­ziert, wie be­reits be­schrie­ben, die Ach­tel der Sing­stim­me duo­lisch, die­je­ni­gen der Kla­vier-Ober­stim­me aber trio­lisch. Das No­ten­bild der Aus­ga­be sug­ge­riert also an die­ser Stel­le ein Nicht-Zu­sam­men­fal­len der be­tref­fen­den Ach­tel und damit ein stel­len­wei­se ver­scho­be­nes Er­klin­gen der bei­den Stim­men.

Die Aus­ga­be für Alt oder Ba­ri­ton (Ab­bil­dung 2) be­hält die Ori­gi­nal­ton­ar­ten bei, ver­setzt aber die Sing­stim­me um eine Ok­ta­ve nach oben in den Vio­lin­schlüs­sel. Die Sing­stim­me ist auch hier duo­lisch wie­der­ge­ge­ben, je­doch ist die Kla­vier-Ober­stim­me nun in der Ach­tel-Pla­zie­rung zum Teil daran an­ge­passt, was am deut­lichs­ten an der vor­ge­zo­ge­nen Note am Ende des zwei­ten Tak­tes zu er­ken­nen ist. Aus die­sem No­ten­bild ist also zu­min­dest an­satz­wei­se die In­ten­ti­on einer Aus­füh­rung als duo­li­scher Zwie­ge­sang ab­leit­bar.

Ab­bil­dung 2: Vier erns­te Ge­sän­ge op. 121 Nr. 4, T. 83–87, Fas­sung für Alt oder Ba­ri­ton und Kla­vier.

Die Aus­ga­be für So­pran oder Tenor (Ab­bil­dung 3) bringt trans­po­nier­te Fas­sun­gen aller vier Ge­sän­ge, so­dass der frag­li­che Ab­schnitt in G-dur statt Es-dur er­klingt. Hier sind nicht nur die Ach­tel der Kla­vier-Ober­stim­me (wie in der Aus­ga­be für Bass) trio­lisch pla­ziert, son­dern auch die Ach­tel der Sing­stim­me. Indem somit alle Noten der bei­den Stim­men exakt über­ein­an­der ste­hen, zeigt das No­ten­bild noch deut­li­cher die In­ten­ti­on eines un­ge­trüb­ten Zwie­ge­sangs an. An­ders als in der Aus­ga­be für Alt/Ba­ri­ton wird je­doch hier der Ein­druck er­weckt, dass nicht die Kla­vier-Ober­stim­me, son­dern die Sing­stim­me durch rhyth­mi­sche Fle­xi­bi­li­tät für das ge­naue Zu­sam­men­klin­gen zu sor­gen hat. Eine Aus­füh­rung nach die­ser Weise führt also zu einem Zwie­ge­sang, der zu­min­dest in der je­weils zwei­ten Hälf­te der drei mitt­le­ren Takte trio­lisch ver­läuft.

Ab­bil­dung 3: Vier erns­te Ge­sän­ge op. 121 Nr. 4, T. 83–87, Fas­sung für So­pran oder Tenor und Kla­vier.

Den drei ge­druck­ten Aus­ga­ben, die nach­weis­lich alle von Brahms per­sön­lich vor­be­rei­tet und Kor­rek­tur ge­le­sen wur­den, ist somit keine ein­deu­ti­ge Ant­wort auf die Frage nach der vom Kom­po­nis­ten ge­wünsch­ten Aus­füh­rung zu ent­neh­men. Er­ge­ben die hand­schrift­li­chen Quel­len ein kla­re­res Bild?

Es sind zwei au­then­ti­sche Ma­nu­skrip­te der Vier erns­ten Ge­sän­ge über­lie­fert: die von Ko­pis­ten­hand ge­schrie­be­ne und von Brahms über­ar­bei­te­te Stich­vor­la­ge zur Ori­gi­nal­fas­sung für Bass (Brahms-In­sti­tut an der Mu­sik­hoch­schu­le Lü­beck) und ein Au­to­graph, wel­ches je­doch nicht un­mit­tel­ba­re Vor­la­ge für jene Ab­schrift war (Ar­chiv der Ge­sell­schaft der Mu­sik­freun­de in Wien). So­wohl im Au­to­graph (Ab­bil­dung 4) als auch in der Ab­schrift (Ab­bil­dung 5) ste­hen die Ach­tel­no­ten bei­der Stim­men der rech­ten Kla­vier­hand je­weils exakt über­ein­an­der, wie es auch in den Aus­ga­ben für Bass (Ab­bil­dung 1) und für So­pran/Tenor (Ab­bil­dung 3) der Fall war. Das Ver­hält­nis zwi­schen Sing­stim­me und Kla­vier-Ober­stim­me ist zwar we­ni­ger genau fi­xiert, doch ver­mit­teln beide Ma­nu­skrip­te wohl eher die Ab­sicht einer ver­ti­kal über­ein­stim­men­den als einer be­wusst ver­setz­ten Pla­zie­rung der frag­li­chen Ach­tel. Der Be­fund in den hand­schrift­li­chen Quel­len stimmt somit recht genau mit der No­tie­rung in der Aus­ga­be für So­pran/Tenor über­ein (Ab­bil­dung 3).

Ab­bil­dung 4: Vier erns­te Ge­sän­ge op. 121 Nr. 4, T. 83–87.
Au­to­graph, Ar­chiv der Ge­sell­schaft der Mu­sik­freun­de in Wien.

Ab­bil­dung 5: Vier erns­te Ge­sän­ge op. 121 Nr. 4, T. 83–87.
Ko­pis­ten­ab­schrift, von Brahms über­ar­bei­tet, Brahms-In­sti­tut an der Mu­sik­hoch­schu­le Lü­beck.

Ist also die Frage damit ent­schie­den? Wünsch­te sich Brahms zu Be­ginn des Schluss­ab­schnitts einen trio­lisch-be­schwing­ten Zwie­ge­sang von Sing­stim­me und Kla­vier-Ober­stim­me in rhyth­mi­scher Har­mo­nie mit der üb­ri­gen trio­li­schen Kla­vier­par­tie? Oder dach­te er doch an einen duo­li­schen Zwie­ge­sang über trio­li­scher Be­glei­tung, im Sinne einer zur Zwei­stim­mig­keit ge­stei­ger­ten Wie­der­ho­lung der frü­he­ren Takte 48–52 (Ab­bil­dung 6)? Oder schweb­te ihm eine ab­sichts­voll un­ge­naue Ver­bin­dung der bei­den Stim­men vor – wo­mög­lich um noch einen lei­sen Zwei­fel an der hu­ma­nen Bot­schaft des „Hohen Lie­des der Liebe“ an­klin­gen zu las­sen?

Ab­bil­dung 6: Vier erns­te Ge­sän­ge op. 121 Nr. 4, T. 48–52.

Aus­ge­hend von die­sen Be­ob­ach­tun­gen und Über­le­gun­gen war es in­ter­es­sant, exis­tie­ren­de Tonauf­zeich­nun­gen von Opus 121 Nr. 4 auf die je­wei­li­ge In­ter­pre­ta­ti­on der Stel­le hin an­zu­hö­ren. Mit Hilfe der In­ter­net-Res­sour­cen YouTube und Naxos Music Li­bra­ry konn­ten ins­ge­samt 45 Ein­spie­lun­gen her­an­ge­zo­gen wer­den, die zwi­schen 1936 und 2020 ent­stan­den und zum größ­ten Teil ur­sprüng­lich auf Schall­plat­te bzw. CD er­schie­nen waren. Der hö­ren­de Ver­gleich ergab, dass alle drei be­schrie­be­nen Vor­trags­va­ri­an­ten tat­säch­lich in die Auf­füh­rungs­pra­xis ein­ge­gan­gen sind. Je­weils ein Bei­spiel möge das klin­gend ver­an­schau­li­chen:

  • Na­tha­lie Stutz­mann (Alt) / Inger Sö­der­gren (Kla­vier): Sing­stim­me und Kla­vier-Ober­stim­me trio­lisch (an­hö­ren)
  • Ro­bert Holl (Ba­ri­ton) / András Schiff (Kla­vier): Sing­stim­me und Kla­vier-Ober­stim­me duo­lisch (an­hö­ren)
  • Chris­ti­an Ger­ha­her (Ba­ri­ton) / Ge­rold Huber (Kla­vier): Sing­stim­me duo­lisch, Kla­vier-Ober­stim­me trio­lisch (an­hö­ren)

Die zwei­te der drei Va­ri­an­ten be­geg­net weit­aus häu­fi­ger als die bei­den an­de­ren und kann ohne Zwei­fel als tra­di­tio­nel­le In­ter­pre­ta­ti­on die­ses Ab­schnitts gel­ten. Zu Recht oder zu Un­recht? Die Blog-Le­ser­schaft ist ein­ge­la­den, selbst auf Hör-Ent­de­ckung zu gehen und sich eine ei­ge­ne Mei­nung über die von Brahms mut­maß­lich in­ten­dier­te Aus­füh­rung der Stel­le zu bil­den.

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