Viele Mu­sik­lieb­ha­ber ken­nen das: Man hört zu­fäl­lig, meist im Radio, ein Mu­sik­stück, aber es fällt einem par­tout nicht der Kom­po­nist ein. Ver­zweif­lung steigt auf: Das kann doch nicht wahr sein, jede Note kann ich mit­sin­gen – und doch weiß ich ein­fach nicht, wel­ches Stück es ist. Genau so er­ging es mir vor ei­ni­gen Mo­na­ten. Al­ler­dings wuss­te ich be­reits beim Hören (im Au­to­ra­dio) des schlich­ten, kla­vier­be­glei­te­ten Du­etts, dass hier etwas „nicht stim­men“ konn­te. Zwar kann­te ich die zu Be­ginn des Stücks er­klin­gen­de, wun­der­schö­ne Me­lo­die allzu gut, doch das Stück selbst hatte ich si­cher noch nie zuvor ge­hört. Die Me­lo­die kann­te ich also aus an­de­rem Zu­sam­men­hang – aber woher nur, woher? Und wer war der Kom­po­nist des Ra­dio-Du­etts? Viel­leicht ein mir un­be­kann­ter Mo­zart (shame on me …)?

Der Ra­dio-Spre­cher löste das zwei­te Rät­sel: Es han­del­te sich um Jo­seph Haydns Du­et­to „Saper vor­rei se m’ami“ Hob. XXVa:2. Hören Sie sich es hier an – und stim­men Sie mir zu: Die­ses Lie­bes­du­ett ist doch ein­fach wun­der­schön! Schnell war es im Hen­le-Ka­ta­log aus­fin­dig ge­macht. Wir bie­ten „Saper vor­rei“ zu­sam­men mit einem wei­te­ren Haydn-Du­ett als schma­le Ur­text­edi­ti­on an, des­sen No­ten­text der Haydn-Ge­samt­aus­ga­be (Reihe XXIX, Band 2) ent­nom­men ist.

Doch woher nur kann­te ich die wun­der­schö­ne, zarte An­fangs­me­lo­die? Sie er­klingt zu­nächst zu Be­ginn im Kla­vier­vor­spiel, dann hebt der So­pran par­al­lel mit der rech­ten Kla­vier­hand damit an: „Saper vor­rei se m’ami“ (Ich wüss­te gerne, ob du mich liebst).

Weil der Me­lo­die­ver­lauf doch sehr mar­kant ist, mach­te ich mich so­gleich auf die Suche und gab hoff­nungs­froh die ers­ten acht Noten („H-D-G-H-A-G-C-A“) in die Kla­via­tur-Such­ma­schi­ne des RISM-OPAC („Er­wei­ter­te Suche“) ein. Ob RISM wohl das mir be­kann­te Stück „aus­spu­cken“ würde? Tat­säch­lich er­hielt ich (Stand: 5. Juni 2022) zwei Tref­fer: Al­ler­dings nur den mir be­reits be­kann­ten Haydn-Ti­tel in zwei Quel­len (üb­ri­gens unter Ti­telan­ga­be der bei­den Prot­ago­nis­ten „Nisa [So­pra­no] et Tirsi [Te­no­re]“). Ich muss­te also die Suche er­wei­tern und ließ „C-A“ weg: Jetzt fand RISM 389 (!) Titel mit die­ser spe­zi­fi­schen Drei­klangs-No­ten­fol­ge, jede Menge „Fehl­tref­fer“ dar­un­ter, denn die RISM-Such­ma­schi­ne un­ter­schei­det (lei­der!) nicht die Ok­tav­la­gen des ein­ge­ge­be­nen Me­lo­die-In­ci­pits. 21 Tref­fer spuck­te RISM aus, als ich die ers­ten sie­ben Noten des Haydn-Stü­ckes ein­tipp­te. Wie­der taucht mehr­fach „unser“ Haydn auf und auch – sehr in­ter­es­sant! – ein hüb­sches Kla­vier-Me­nu­ett von An­to­nin Dvořák, op. 28 Nr. 1. Um es kurz zu ma­chen: Das­je­ni­ge Mu­sik­stück, an das mich der Haydn so stark er­in­ner­te, war nicht dar­un­ter[1]. Ich gab ver­zwei­felt auf.

Die Mo­na­te ver­gin­gen und, wie im „rich­ti­gen“ Leben, wich die Ver­zweif­lung einem all­mäh­li­chen Ver­ges­sen. Dann saß ich im Kon­zert des „Qua­tu­or Ébène“ und sie spiel­ten – himm­lisch schön – den zwei­ten Satz aus Brahms B-dur-Streich­quar­tett op. 67. Ein (lei­ser) Schrei ent­wich mir: da war sie, die ge­such­te Me­lo­die:

 

Es ist doch wirk­lich frap­pant, oder?: 10 iden­ti­sche An­fangs­no­ten hin­ter­ein­an­der, zwar rhyth­misch leicht ver­schie­den, aber im Duk­tus wie Ge­schwis­ter kom­po­niert (näm­lich Schwer­punkt­set­zung der Hoch­tö­ne a2 und b2, sowie schließ­lich die star­ke Vor­halts­no­te f2):

Das Rät­sel war ge­löst. Das im Au­to­ra­dio ge­hör­te Haydn-Du­ett löste in mir die Er­in­ne­rung an einen mei­ner Streich­quar­tett-Lieb­lings­sät­ze aus. (Die­sen „Fund“ teil­te ich üb­ri­gens gleich nach dem Kon­zert dem Ébène-Quar­tett mit – und sie waren so­fort über­zeugt von die­ser bis­lang völ­lig un­be­kann­ten Par­al­le­le).

Blie­be nur noch die (viel­leicht letzt­lich un­wich­ti­ge?) Frage, ob Brahms hier be­wusst oder un­be­wusst tat­säch­lich Haydn „zi­tiert“ oder ob diese Me­lo­die so­zu­sa­gen „auf der Stra­ße liegt“, also viel­leicht doch völ­lig un­ab­hän­gig von­ein­an­der von Haydn und Brahms ver­wen­det wurde. Dafür spricht viel­leicht das oben ge­nann­te Dvořák-Bei­spiel. Denn es zeigt ja eben­falls die­sel­be No­ten­fol­ge wie bei Haydn und bei Brahms. Ich blei­be aus Er­fah­rung skep­tisch, denn bei Dvořák geht es in mun­te­ren gleich­mä­ßig-glat­ten Ach­tel­no­ten dahin, wäh­rend Brahms und Haydn hin­ge­gen (na­he­zu iden­tisch) rhyth­mi­sie­ren und damit aus der blo­ßen No­ten­fol­ge recht ei­gent­lich erst eine „Me­lo­die“ ma­chen. Ab­ge­se­hen davon, konn­te Brahms die Dvořák-„Me­lo­die” aus Chro­no­lo­gie-Grün­den gar nicht ge­kannt haben.

Also doch Haydn als Zi­tat­vor­la­ge? Wie sehr Brahms sei­nen Haydn kann­te, ja lieb­te!, weiß man. Wer es nicht so genau weiß und so­li­de, an­re­gen­de In­for­ma­tio­nen dazu sucht, be­sor­ge sich den aus­ge­zeich­net in­for­mie­ren­den und auch wun­der­bar be­bil­der­ten Ka­ta­log des Brahms-In­sti­tuts in Lü­beck: „Kon­ti­nui­tä­ten? Sym­po­si­um: Jo­seph Haydn im Wan­del der In­ter­pre­ta­tio­nen – Aus­stel­lung: Jo­seph Haydn und Jo­han­nes Brahms“. Die Frage, ob Brahms wohl doch das Haydn-Du­ett kann­te, trieb mich um. Ich wand­te mich also an einen der bes­ten Ken­ner bei­der (!) Kom­po­nis­ten. Otto Biba war so freund­lich (Danke bes­tens, lie­ber Herr Biba), mir zu hel­fen. Er kon­sul­tier­te im Ar­chiv der „Ge­sell­schaft der Mu­sik­freun­de“ in Wien sämt­li­che dort greif­ba­ren No­ten­quel­len, die auf ein Zu­sam­men­tref­fen von Brahms mit dem Haydn-Stück hät­ten Hin­wei­se geben kön­nen[2]: Fehl­an­zei­ge.

So bleibt es also vor­erst ein Rät­sel,

  1. ob Brahms beim Haupt­the­ma des An­dan­te in op. 67 Haydn an­onym „zi­tiert“,
  2. oder ob er le­dig­lich un­be­wusst von Haydns Duett in­spi­riert war, weil er viel­leicht Haydns Noten doch ein­mal in Hän­den ge­hal­ten hatte oder gar einst­mals einer Auf­füh­rung bei­wohn­te,
  3. oder ob es sich schlicht um einen „himm­li­schen“ Zu­fall han­delt.

Woll­te man tat­säch­lich von einem – ei­ner­lei ob ver­steck­ten oder un­be­wuss­ten – Zitat aus­ge­hen, ließe frei­lich der Text des Haydn-Du­etts auf­hor­chen: „Ich wüss­te gerne, ob du mich liebst“. Ein Schelm, wer leug­ne­te, da nicht so­gleich an Clara Schu­mann als ge­hei­me Adres­sa­tin zu den­ken. Im Vor­wort un­se­rer Ur­text­edi­ti­on wird Clara Schu­manns Ta­ge­buch-Ein­trag zi­tiert: „Das Ada­gio [sic] (zwei­ter Satz) ist mir für Brahms nicht be­deu­tend genug“, wor­auf­hin die Ur­text-Her­aus­ge­be­rin (ver­mut­lich zu­recht) mut­maßt, dass die mas­si­ven Kor­rek­tu­ren im Au­to­graph des 2. Sat­zes wo­mög­lich auf Cla­ras Un­zu­frie­den­heit zu­rück­ge­hen könn­ten. Spe­ku­la­tio­nen seien hier­mit gerne die Schleu­sen ge­öff­net …

Viel­leicht soll­ten wir es aber doch lie­ber bei der Un­ge­wiss­heit be­las­sen. Und we­nigs­tens fest­hal­ten, dass Brahm­sens wun­der­ba­re (immer wie­der­keh­ren­de) F-dur-Me­lo­die im An­dan­te sei­nes Streich­quar­tetts op. 67 einen Lie­bes­ge­sang dar­stellt. Das lässt sich nun durch den Text des wun­der­schö­nen Haydn-Du­etts mit Ge­wiss­heit „be­le­gen“. Wer al­ler­dings Ohren hat zu hören, der wuss­te das auch schon vor mei­nem heu­ti­gen Blog-Bei­trag.

[1] Die Me­lo­die-Su­che von IMSLP funk­tio­niert nicht. (SO ETWAS zu pro­gram­mie­ren, wäre doch ein­mal ein wah­rer Fort­schritt für die mu­si­ka­li­sche Mensch­heit, an­statt le­dig­lich flei­ßi­gen Mu­sik­no­ten-Ko­pie­rern eine Platt­form für ihren trau­ri­gen All­tag zu bie­ten.) Und auch die bei­den Mu­sik-Fin­de-Apps „Sound Hound“ und „Shazam“ von Apple konn­ten weder den Haydn noch gar „mei­nen“ Such­ti­tel iden­ti­fi­zie­ren.

[2] Siehe: Kri­ti­scher Be­richt des oben zi­tier­ten, ein­schlä­gi­gen Ban­des der Haydn-Ge­samt­aus­ga­be, S. 103: [1] Frühe Ko­pis­ten-Ab­schrift von Hob. XXVa:2 „Saper vor­rei…“, A-Wgm, Si­gna­tur VI 6096/2 (Q 5942); [2] Früh­druck bei Sim­rock (RISM H 2592); [3] Früh­druck bei Breit­kopf & Här­tel, „Œuvres com­plet­tes“ Heft VIII.

 

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