Ich kann mich nicht erinnern, wann ich Alfred Einsteins Mozart-Biographie[i] zum ersten Mal gelesen habe. Höchstwahrscheinlich während meiner ersten Semester am Münchener Musikwissenschaftlichen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität, in denselben Räumen also, in denen Alfred Einstein ca. 80 Jahre vor mir dort ebenfalls Musikwissenschaft studiert hatte. Ende der 1930er-Jahre musste er als Jude mit seiner Familie aus München fliehen und emigrieren. Im Internet fand ich eine bewegende biografische Erinnerung von Einsteins Tochter Eva. Ihr, sowie Einsteins Ehefrau Hertha und seiner Schwester Bertha ist die Mozart-Biografie gewidmet: „Meinen ‚Drei Damen‘“ heißt es mozärtlich im Frontispiz.
Was ich aber weiß: Seit meiner ersten Lektüre dieses Buches bin ich ein glühender Verehrer von Einsteins Diktion. Er schreibt immer aus Liebe und Begeisterung zur Sache, auch aus der Warte großer Menschenkenntnis, nämlich persönlich wertend, empathisch, manchmal dick auftragend hymnisch, gerne auch mal etwas herablassend. Ihm geht es allein um den Wesenskern (er sagt „Charakter“) der Person Mozart und seiner Kompositionen. Dank seines immensen Wissens ist Einsteins Mozart-Buch außerdem auf jeder Seite informativ. Geschenkt, dass heute nicht mehr alle seine faktischen Behauptungen „haltbar“ sind. Einstein wäre der Erste gewesen, Erkenntnisse der Mozart-Forschung anzuerkennen[ii]. Vor allem aber: Sein Stil ist unprätentiös, abhold jeglicher geschwurbelter Fach-Präpotenz. Das imponiert mir. Abgesehen davon, hat Alfred Einstein die dritte Auflage des Köchelverzeichnis grundlegend überarbeitet (1937) und er hat als Erster eine auf philologisch überprüfbaren Beinen stehende Edition der „Zehn berühmten Streichquartette“ herausgebracht (1945)[iii] – nur als Beispiele seiner viel umfassenderen Lebensleistung.
Die von mir antiquarisch erworbene deutsche Erstausgabe (1947) von Mozart. Sein Charakter, sein Werk ist eines der sehr wenigen Bücher, welches ich mehrmals komplett gelesen habe. Kostproben?
„In Dingen der Kunst kennt Mozart keine Kompromisse; und seine helle Beobachtungsgabe läßt ihn – wie das auch bei Kindern so ist – eher die lächerlichen und schwachen Seiten eines Menschen entdecken als die wertvolleren.“ (S. 126)
„Mozarts Musik, in der so manches den Zeitgenossen ‚tönern‘ erschien, hat sich längst in Gold verwandelt, leuchtend im Licht, wenn auch von immer wechselndem Glanz für jede neue Generation.“ (S. 613)
„Die Prager Sinfonie enthält, im langsamen Satz, noch ein weiteres Beispiel für die wundersame Verschmelzung von ‚Galant‘ und ‚Gelehrt‘, die Mozart am Ende seines Lebens erreicht hat … [KV 504, 2. Satz, T. 8 ff.] Es gibt dergleichen Dinge bei Mozart hundert und tausend; sie sind Zeugnisse jener ‚zweiten Naivität‘, für die nur ein paar Meister in allen Künsten prädestiniert waren und die eigentlich ein langes Leben voraussetzen – bei Mozart sind sie umso wunderbarer, als er nur sechsunddreißig Jahre alt wurde“. (S. 220)
Da fällt er, der Begriff von der „zweiten Naivität“. Einstein verwendet ihn an mehreren Stellen des Buches (ich habe nicht gezählt, wie oft), an denen es um das „Spätwerk“ Mozarts geht.[iv] Im Kapitel zu den Klavierkonzerten kommt er beschreibend gleich zweimal auf die „zweite Naivität“ zu sprechen:
Das Seitenthema im Kopfsatz des C-dur-Klavierkonzertes KV 467 sei „von einer letzten Einfachheit, nur den großen Menschen möglich, Menschen im Besitz jener zweiten Naivität, der letzten Errungenschaft künstlerischer und menschlicher Erfahrung“ (S. 410):
In Einsteins Beschreibung von Mozarts letztem Klavierkonzert in B-dur KV 595 – ich ediere das Werk derzeit für den G. Henle Verlag – fällt ebenfalls der ungewöhnlich suggestive Begriff: „Dies letzte Klavierkonzert ist auch wiederum ein Werk letzter Meisterschaft in der Erfindung – Erfindung von jener uns bekannten [!] ‚zweiten Naivität‘ … Sie ist so vollkommen, daß die Frage des Stils wesenlos geworden ist. Der Abschied ist zugleich die Gewißheit der Unsterblichkeit“. (S. 419):
Und bei der Beschreibung des Larghettos aus dem c-moll-Konzert KV 491 verkneift sich Einstein zwar den Begriff, meint ihn aber, wenn er sagt, diese Musik bewege sich „in der reinsten und rührendsten Region …und [sei] von einer letzten Simplizität des Ausdrucks.“ (S. 414)
Alfred Einstein gelingt es meines Erachtens dank dieser Formulierung verblüffend, ein zentrales Wesensphänomen der Musik des späten Wiener Mozart überzeugend auf den Punkt zu bringen, ohne sich in (meist ohnehin ungenießbares) musikanalytisches Kleinklein begeben zu müssen. Die „zweite Naivität“ mag zwar terminologisch diffuser sein als etwa „Quartsextakkord“, aber sie hat damit die Macht, unsere kindliche Freude und erwachsene Erschütterung darüber beim Hören oder Spielen zahlreicher Stellen in Mozarts Musik besser einordnen und tiefer verstehen zu können. „Quartsextakkord“ nicht.
Wenn Einstein speziell Mozarts Befähigung zu dieser „zweiten Naivität“ als „letzte Einfachheit, nur den großen Menschen möglich … [als] letzte Errungenschaft künstlerischer und menschlicher Erfahrung“ bezeichnet (S. 410), liest sich das, zugegebenermaßen, mindestens mystisch, wenn nicht gar pseudo-religiös. Und tatsächlich stammt der Begriff gar nicht von Einstein, sondern aus einem einflussreichen theologischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts. Dazu gleich mehr.
Intuitiv wusste ich bereits beim ersten Lesen sofort, was Einstein mit „zweiter Naivität“ meint: Unsere ganz ursprüngliche, „erste“, also kindliche Naivität staunt, ist unschuldig, harmlos, schlicht, arglos, unverstellt, natürlich, gesund, vertrauensselig, mitteilsam und oft genug auch originell. Wer Kinder hat, weiß, wovon ich spreche. Viele Melodien des späten Mozart sprechen uns genau in diesem Sinne unmittelbar an, berühren uns im Innersten, weil sie offenkundig nicht (mehr) „konstruiert“ sind (zum Beispiel durch Kontrapunkt, komplexe Harmonisierung, Überraschungseffekte etc.), sondern eben gerade von einem erwachsenen Komponisten stammen, der einerseits als Mensch längst schon seine kindliche Unschuld verloren hat (u.a. durch Reflexionsfähigkeit und Leid- und Verlusterfahrung), andererseits als Künstler seine Wunderkind-Naivität hinter sich lassen musste. Und wir Hörer empfinden intuitiv und schmerzhaft-sehnsuchtsvoll den Verlust unserer eigenen unschuldigen Kindheit – sofern wir uns überhaupt eine Offenheit für solch tiefen emotionalen Zugang zur Musik bewahren konnten.
Einstein hat recht: es gibt zahllose solcher uns tief betroffen machender Stellen „zweiter Naivität“ in Mozarts Œuvre. Würde man genauer in sie hineinleuchten mit unserer musikanalytischen Taschenlampe, könnten wir das Raffinement solcher Erfindung und seiner genialen Verarbeitung ganz gut umschreiben, aber damit wohl nie wirklich bis zu ihrem Wesenskern durchdringen. Einstein wählt hierfür an zahllosen Stellen die recht vage Formulierung einer „Verschmelzung von ‚Galant‘ und ‚Gelehrt‘“.
Meine Beobachtung nun ist, dass dieses „Material“ aus einer Art Mozartschen „Urquelle“ geschöpft zu sein scheint. Denn zahlreiche der vordergründig „naiven“ Melodien weisen untereinander Verwandtschaftsbeziehungen auf: sie gleichen sich musikalisch stark. Ich gebe im Folgenden nur ein einziges Beispiel dafür, nämlich den berührenden Anfang des Klarinettenkonzerts KV 622 – eines von Mozarts allerletzten Werken. Und ich setze zwei Melodie-Verwandte anderer Werke hintan, die für mich aus derselben reinen, geheimen Quelle „zweiter Naivität“ stammen. Die Notenbeispiele mögen für sich sprechen:
Und jetzt kommt „auf die Letzt“, wie sich Mozart ausdrücken würde, noch eine überraschende Wende. Denn der Ausdruck „zweite Naivität“ stammt gar nicht von Alfred Einstein. Er wurde vor ziemlich genau 100 Jahren, nämlich 1925, vom Religionsphilosophen Peter Wust (1884–1940) geprägt. Der im Internet als PDF downloadbare, grandios geschriebene einschlägige Essay aus der Feder des Fundamentaltheologen Joachim Negel sei allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ans Herz gelegt, sofern sie sich für philosophische, religionspädagogische oder theologische Fragestellungen interessieren[v].
Es geht im theologischen Diskurs der „zweiten Naivität“ um das Kernproblem des unmöglich gewordenen Glauben-Könnens an einen (Schöpfer-) Gott in post-aufklärerischen Zeiten. Vernunft, Skepsis und naturwissenschaftliche Erkenntnisse stehen fundamental gegen die Naivität des Glaubens. Bibelworte, sofern sie überhaupt noch in unserer modernen Zeit eine Rolle spielen, werden üblicherweise kopfschüttelnd als längst entmythologisierte Geschichten aus der Kinder-Märchenstunde entlarvt und bieten somit keinen mittelbaren Zugang mehr zu Gott oder zum Glauben. Die „zweite Naivität“ möchte nun dem modernen, aufgeklärten, in höchstem Grade misstrauischen Erwachsenen den Weg zurück – oder besser hinab – zum gewissermaßen wieder kindlichen, staunenden Glauben eröffnen:
„Nachdem er alles Lernbare gelernt, alles Wißbare erfahren und alles Fragbare gefragt hatte, stieg die Glaubenswelt, in Innersten unzerstört, wieder in ihm auf, und er ergriff sie mit wiedergewonnener Kindlichkeit … eine neue seelische Haltung, die der zweiten Naivität“
– ein Satz des deutschstämmigen, israelischen Religionsphilosophen Ernst Akiba Simon (1900–1988), den man im Essay Negels in Fußnote 28 findet und dem auch ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Denn Simon entwickelte den Gedankengang der „zweiten Naivität“ in den 1930er-Jahren, erstaunlicherweise ohne Peter Wusts Wortschöpfung und dessen grundlegende Überlegungen zu kennen. (Und, um das Angelesene hier noch notwendig abzurunden: Der bekannteste Repräsentant und prominenteste Vertreter der „Zweiten Naivität“ war dann kurz darauf der vielgelesene französische Philosoph Paul Ricœur [1913–2005].)
Zurück zu Alfred Einstein. Was ich vor meiner Beschäftigung mit dem also weit über eine suggestive rhetorische Figur hinausweisenden Diskurs gar nicht bemerkt hatte: Einstein setzt sie in seiner Mozart-Biografie jedes Mal in Anführungszeichen oder kursiviert sie. Ich habe das immer als ein „sozusagen“ verstanden, vielleicht wollte er aber damit den Begriff als Zitat kenntlich machen? Einstein deckt jedoch seine Quelle nicht auf. Das für einen großen Leserkreis geschriebene Buch hat kaum Fußnoten und kein Sekundärliteratur-Verzeichnis; wenn überhaupt, gibt Einstein seine Zitat-Quelle an Ort und Stelle an. Wir könnten also spekulieren, welchen Autor der umfassend gebildete Alfred Einstein wohl rezipiert haben könnte. Ich vermute am ehesten die Schriften oder Ideen des Ernst Akiba Simon, der, etwa gleichaltrig, wegen der nationalsozialistischen Barbarei ebenfalls aus Deutschland fliehen musste. Einsteins Nachlass könnte hierzu womöglich Auskunft geben. Er wird in der Musikbibliothek der Universität Berkeley/USA („Hargrove Music Library“) aufbewahrt; die online gebotenen Kurzregesten bleiben bei den Namen Wust, Ricœur und vor allem Simon jedoch stumm. Meine entsprechenden Anfragen blieben leider unbeantwortet.
Die bewusste oder unbewusste Übertragung der Formulierung „zweite Naivität“ aus der theologischen in die musik-hermeneutische Sphäre, insbesondere in dem so hellsichtigen Bezug zu Mozarts Kreativität, bleibt in jedem Fall, soweit ich sehe, das alleinige Verdienst Alfred Einsteins.
[i] Alfred Einstein, Mozart. Sein Charakter, sein Werk, Stockholm: Bermann-Fischer-Verlag 1947; Volltext verfügbar hier. Einsteins Vorwort ist sicherlich nicht zufällig auf den 9. Mai 1945 (Ende des II. Weltkriegs) datiert.
Englische Originalausgabe: Alfred Einstein, Mozart. His Character, His Work, übersetzt von Arthur Mendel und Nathan Broder, New York: Oxford University Press 1945; Taschenbuch-Reprint ebd. 1962 und später. Leseprobe verfügbar hier. Das Buch wurde von Einstein natürlich auf Deutsch geschrieben (s. a. Eva Einsteins Erinnerung).
[ii] Ein Beispiel: Zum fragmentarischen Allegro in g-moll KV 312, komponiert vermutlich 1790/91 (KV6: 590d), gibt Alfred Einstein klaglos zu, er habe es in seinem KV3 „leider völlig falsch placiert…, als ich es unter die ‚Münchner‘ Klaviersonaten stellte“ (S. 339).
[iii] W. A. Mozart, The ten celebrated string quartets. First authentic edition in score based on autographs in the British Museum and on early prints, ed. by Alfred Einstein, London: Novello 1945.
[iv] In der englischen Ausgabe: „second naïveté“. Im Zusammenhang mit dem „Ave verum“ KV 618 formuliert er: „zweite Einfachheit“ (S. 465).
[v] Joachim Negel, Zweite Naivität. Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu einem vielbemühten, aber selten verstandenen Konzept, in: Thomas Möllenbeck und Ludger Schulte (Hg.), Weisheit – Spiritualität der Menschheit, Münster: Aschendorff 2021, S. 279–305; Volltext verfügbar hier.