Vor genau einem Jahr, als Weihnachten 2023 vor der Tür stand, stand ich (Andreas Pernpeintner) zugleich vor der Entscheidung, ob ich als Lektor zum Henle-Verlag wechsle oder nicht. Beides trat ein, Henle und Weihnachten. Ob denn der musikalische Lektorenberuf durch KI nicht bald überflüssig werde, wurde ich damals aus meinem Umfeld gefragt. Wissen kann man das nicht, aber das Gefühl, alsbald virtuell ersetzbar zu sein, will sich bislang nicht einstellen. Dabei wäre es natürlich unsinnig, sich KI zu verweigern. Online-Übersetzer sind eine segensreiche Unterstützung. Digitaler Notensatz ohne intelligente Scan-Erkennungssoftware wäre ein zeitraubendes Geschäft. ChatGPT kann bei Recherchefragen helfen (Vorsicht beim anschließenden Faktencheck) – oder bei der Vorbereitung der Henle-Weihnachtsfeier. Dort erklingt traditionsgemäß der Henliden-Chor. Das ist kein vokales Schwesterwerk der Hebriden-Ouvertüre, sondern die Summe singender Verlagsmitarbeiter*innen. Eine der lustigsten Spielarten von ChatGPT ist es, nach bestimmten inhaltlichen und stilistischen Vorgaben Literarisches hervorzubringen. So gelangt man schnell zu einem möglichen Henle-Weihnachtsfeierhit 2024:
ChatGPT
Weihnachtslied im Stile von Walther von der Vogelweide
In frost’ger Nacht ward klar das Sternenzelt,
der Engel sang: „O Henliden auf dem Feld,
freut euch! Das Christkind ist euch heut’ geboren,
zu retten, was die Welt hat längst verloren!“
Ein Esel trägt mit treuem Tritt die Last,
die Mutter hält ihr Kindlein fest umfasst.
Vom Urtext alter Zeit klingt heut’ die Kunde,
dass Gott sich neigt zur Menschheit in der Stunde.
O Wonne groß, die Welt ist neu gemacht,
die Nacht entflieht, der Morgen fröhlich lacht.
Die Henliden eilen, preisen laut den Herrn,
die Sterne funkeln klar und nah wie fern.
Ein Esel brüllt, das Kindlein schlummert still,
die Gnade Gottes jedem zeigen will:
Im Urtext glimmt die Hoffnung tief verfangen,
dass wir in seiner Liebe Glück erlangen.
Fehlt noch die Musik. Auch das kann KI. Aber zu entscheiden, was Bach in einer Handschrift mit einem undefinierten Tintenklecks meinte, dafür braucht es auch 2025 uns. Und auf die Tintenkleckse kommt es in der Musik ja letztlich an. Deshalb sind für das kommende Jahr auch ganz wunderbare, menschengemachte Editionen in Vorbereitung, die sich etwa um das anstehende Ravel-Jubiläum, um die Klarinette, um Prokofjew oder vergessene Komponistinnen ranken. Darauf darf man sich freuen. Zuvor wünschen wir Ihnen frohe Weihnachten, schöne, nahrhafte und hoffentlich auch musikalische Feiertage und einen guten, glücklichen Start ins neue Jahr!
Norbert Gertsch
Peter Jost
Norbert Müllemann
Annette Oppermann
Andreas Pernpeintner
Dominik Rahmer