Vor ei­ni­ger Zeit er­hiel­ten wir eine in­ter­es­san­te An­fra­ge einer Pia­nis­tin, die in Jo­han­nes Brahms’ Va­ria­tio­nen über ein Thema von Pa­ga­ni­ni op. 35 über eine for­ma­le Merk­wür­dig­keit ge­stol­pert war. Be­kannt­lich ließ sich auch Brahms, wie zuvor schon Schu­mann oder Liszt, von Nicolò Pa­ga­ni­nis 24 Ca­pric­ci op. 1 für Vio­li­ne solo an­re­gen und ver­fass­te einen Zy­klus von 28 höchst vir­tuo­sen Va­ria­tio­nen (in 2 Hef­ten zu je 14 Num­mern) über das be­kann­te a-moll-The­ma aus dem Ca­pric­cio Nr. 24 – hier in Brahms’ Kla­vier­fas­sung:

Be­trach­tet man das Thema in for­ma­ler Hin­sicht, er­kennt man eine sehr klare Glie­de­rung in 2×4 + 2×8 Takte – Lo­ri­ot hätte viel­leicht dazu ge­sagt: „Das sieht sehr über­sicht­lich aus“… Brahms folgt nun in sei­nem Opus 35 genau die­ser Vor­ga­be und be­hält das struk­tu­rel­le Mo­dell des The­mas in allen Va­ria­tio­nen fast schon scha­blo­nen­haft bei (wobei er oft die Wie­der­ho­lun­gen aus­no­tiert und dabei auch klei­ne Va­ri­an­ten an­bringt, wie Ok­ta­vie­run­gen, Ver­tau­schen der Fi­gu­ra­ti­on in rech­ter und lin­ker Hand u.ä.). Eine ge­wis­se Aus­nah­me stel­len nur die je­weils letz­ten, als län­ge­re Coda die­nen­den Va­ria­tio­nen von Heft 1 und 2 dar, doch auch hier ist die üb­li­che „8+16“-Ein­tei­lung deut­lich zu er­ken­nen.

Hin­ter die­sem „Sche­ma­tis­mus“ steht Ab­sicht: Brahms be­han­delt in­ner­halb die­ses for­mal streng ab­ge­steck­ten Rah­mens ex­em­pla­risch je­weils eine be­son­de­re spiel­tech­ni­sche Her­aus­for­de­rung, was den Va­ria­tio­nen einen etü­den­haf­ten Cha­rak­ter ver­leiht – nicht von un­ge­fähr lau­tet der ori­gi­na­le Titel der Erst­aus­ga­be: „Stu­di­en für Pia­no­for­te | Va­ria­tio­nen über ein Thema von Pa­ga­ni­ni“. Der Her­aus­ge­ber un­se­rer Ur­text-Edi­ti­on (HN 394), Hans Kann, spricht in sei­nem Vor­wort von einem „Spek­trum pia­nis­ti­scher Spiel­for­men mit allen Pro­ble­men der Dop­pel­griff- und Sprung­tech­nik, po­ly­rhyth­mi­schen Kom­bi­na­tio­nen usw. In jeder Va­ria­ti­on wird ein be­stimm­tes tech­ni­sches Pro­blem kon­zen­triert, fast fin­ger­übungs­ar­tig ver­ar­bei­tet.“ Brahms selbst soll laut sei­nem Bio­gra­phen Max Kal­beck über das Werk ge­scherzt haben: „Das sind meine Fin­ger­übun­gen!“

So wäre ei­gent­lich alles klar und in bes­ter Ord­nung – wäre da nicht die 6. Va­ria­ti­on im Heft 2… Hier das voll­stän­di­ge No­ten­bei­spiel (die letz­te Note ist schon der Auf­takt zur 7. Va­ria­ti­on):

Wie man sieht, fin­det sich hier eine auf­fäl­li­ge Ab­wei­chung von dem oben be­schrie­be­nen Sche­ma: müss­te aus Sym­me­trie­grün­den nicht ein Wie­der­ho­lungs­zei­chen nach den ers­ten vier Tak­ten ste­hen?

Diese Ver­mu­tung ist sehr na­he­lie­gend, doch die Quel­len kom­men uns in die­ser Frage lei­der gar nicht ent­ge­gen. Als Haupt­quel­le un­se­rer Edi­ti­on dient Brahms’ Hand­ex­em­plar der Erst­aus­ga­be mit au­to­gra­phen Kor­rek­tu­ren und Ein­trä­gen, dazu kommt die von Brahms gründ­lich kor­ri­gier­te Stich­vor­la­ge, und seit ei­ni­ger Zeit steht sogar wie­der das Au­to­graph zur Ver­fü­gung, das lange Zeit als ver­schol­len galt, aber heute in der Rus­si­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek St. Pe­ters­burg kon­sul­tier­bar ist. Die Quel­len­la­ge ist also sehr gut und in­halt­lich be­last­bar, und das Er­geb­nis ein­hel­lig: nir­gend­wo steht in die­ser Va­ria­ti­on nach dem 4.​Takt ein Wie­der­ho­lungs­zei­chen. Im di­gi­ta­len Ar­chiv des Brahms-In­sti­tuts Lü­beck kann die ent­spre­chen­de Seite der Erst­aus­ga­be be­trach­tet wer­den. Die fol­gen­de Ab­bil­dung zeigt die Stel­le im Au­to­graph, wo Brahms die Wie­der­ho­lungs­klam­mer sogar ex­pli­zit nur nach rechts zum 2. Teil hin öff­net (die ge­stri­che­nen Noten ge­hö­ren schon zu T.5, den Brahms aus Platz­grün­den hier ab­bricht und in der nächs­ten Zeile neu be­ginnt):

Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung der Rus­si­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek St. Pe­ters­burg

Es lässt sich also nur dar­über spe­ku­lie­ren, ob es sich um eine Kette von Ver­se­hen han­deln kann. Aus dem Au­to­graph lässt sich zu­min­dest er­schlie­ßen, dass diese 6. Va­ria­ti­on ur­sprüng­lich gar nicht in der Ab­fol­ge des Zy­klus ent­hal­ten war (auf die 5. Va­ria­ti­on folg­te die nach heu­ti­ger Zäh­lung 7. Va­ria­ti­on) und erst nach­träg­lich (mit an­de­rer Tinte und Feder) auf der letz­ten Seite des No­ten­hef­tes no­tiert wurde. Soll­te es sich um einen spä­te­ren spon­ta­nen Ein­fall han­deln, bei dem Brahms seine ur­sprüng­li­che For­mein­tei­lung be­reits ver­ges­sen hatte…? Un­wahr­schein­lich, wenn man be­denkt, wie häu­fig Brahms sein ei­ge­nes Werk – auch öf­fent­lich – spiel­te. Brahms gilt dar­über hin­aus als sorg­fäl­ti­ger Kor­rek­tur­le­ser, und in der Stich­vor­la­ge hat er just bei der 6. Va­ria­ti­on noch eine Be­mer­kung zur kor­rek­ten Hals­rich­tung hin­zu­ge­fügt („Die Vor­schlä­ge durch­weg nach unten, die gr[oßen] Noten nach oben schwän­zen.“) Hätte er nicht spä­tes­tens hier­bei auch den Wie­der­ho­lungs-„Feh­ler“ be­merkt? Auch Eu­se­bi­us Man­dy­czew­ski, enger Freund Brahms’ und Her­aus­ge­ber der ers­ten Brahms-Ge­samt­aus­ga­be, der 1927 diese Quel­len für den Band 13 zur Edi­ti­on her­an­ge­zog, sah kei­ner­lei An­lass, die ori­gi­na­le No­ta­ti­on in Frage zu stel­len oder we­nigs­tens mit einer An­mer­kung im kri­ti­schen Be­richt zu ver­se­hen:

Wel­che Lö­sung soll­te also ge­wählt wer­den? Die Mu­sik­pra­xis scheint sich in die­ser Frage einig zu sein, die 4 Takte zu wie­der­ho­len. Der Pia­nist und Brahms-For­scher Det­lef Kraus merkt zu die­ser Stel­le an: „Aus Grün­den for­ma­ler Ba­lan­ce wie­der­ho­le ich den 1. Teil der 6. Va­ria­ti­on. Sie wäre sonst auch allzu kurz.“ (Jo­han­nes Brahms als Kla­vier­kom­po­nist, Wil­helms­ha­ven 1986, S.67). Auch in der fol­gen­den Aus­wahl von Klang­bei­spie­len wie­der­ho­len die Pia­nis­ten (aller Ge­ne­ra­tio­nen) al­le­samt die ers­ten 4 Takte (die Wie­der­ga­be be­ginnt je­weils di­rekt bei der Va­ria­ti­on 6).

Es gibt je­doch durch­aus Mu­sik­wis­sen­schaft­ler, die diese sin­gu­lä­re Stel­le als be­wuss­ten Sym­me­trie­bruch Brahms’ auf­fas­sen (siehe die Pu­bli­ka­ti­on von Ju­li­an Litt­le­wood, The va­ria­ti­ons of Jo­han­nes Brahms, Lon­don 2004, S.103; hier der Aus­schnitt bei Goog­le­Books). Ich denke, die Frage ist in jedem Fall zu viel­schich­tig, als dass man in der Edi­ti­on die Stel­le „still­schwei­gend an­gleicht“, wie es oft so schön heißt. Die Ent­schei­dung soll­te jeder Mu­si­ker auf Basis die­ses Wis­sens für sich selbst tref­fen. Aber die gute Nach­richt zum Schluss: wer diese ver­teu­felt schwe­ren Va­ria­tio­nen so spie­len kann, um vor die­ser Frage über­haupt zu ste­hen, hat das größ­te Pro­blem schon hin­ter sich…

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2 Antworten auf »„Play it again…“ Fehlt ein Wiederholungszeichen in Brahms’ Paganini-Variationen?«

  1. Johannes Walsch sagt:

    Nachdem Sie sehr schön dargelegt haben
    a) wie sich dieser Taktstrich in den verschiedenen Quellen darstellt und
    b) dass dennoch ein Großteil der Interpreten von der also eindeutigen Notation abweicht,
    würde mich sehr interessieren:
    Was gibt denn die Quellenlage bei den anderen Variationen her? Hat Brahms denn in Autograph oder Stichvorlage auch einmal anderswo ein Wiederholungszeichen vergessen, d.h. könnte man hier wenigstens Wiederholungstäterverhalten unterstellen?

    Falls nein, wundere ich mich doch, dass Ihr Fazit so uneindeutig ausfällt. Denn anhand der Fakten, die Sie dargelegt haben, spricht doch wirklich alles für Absicht und demnach müsste diese bewusste Abweichung vom formalen Ablauf der anderen Variationen auf jeden Fall berücksichtigt – wenn nicht sogar besonders hervorgehoben! – werden.

    • Danke für den ergänzenden Hinweis – in der Tat gibt es keinen weiteren Fall in irgendeiner Quelle zu den Variationen, bei dem eine Wiederholung fehlte oder von der Grundstruktur abgewichen würde. Brahms hat sogar in denjenigen Variationen, bei denen er die Wiederholung der ersten 4 Takte ausnotiert, die Gliederung durch einen doppelten Taktstrich zwischen den beiden 4-Taktern explizit betont. Aus diesem Grund verzichtet unsere Ausgabe eben auch bei Var.6 auf eine Ergänzung des Wiederholungszeichens (nicht einmal in Klammern) und selbst auf eine Fußnote der Art “Besser mit Wiederholung? Vgl. Thema”. Aber die Hartnäckigkeit sämtlicher Interpreten (ich habe noch viel mehr Aufnahmen angehört als angegeben) macht einen doch nachdenklich…

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