Wenn Sie un­se­re Neu­er­schei­nun­gen auf­merk­sam stu­die­ren, wer­den Sie immer wie­der ein­mal fest­stel­len, dass sich dar­un­ter auch Werke fin­den, die be­reits bei uns er­schie­nen waren und nun in einer neuen Ur­text-Aus­ga­be vor­ge­legt wer­den – mit dem ex­pli­zi­ten Hin­weis „re­vi­diert“. Aber was heißt ei­gent­lich Re­vi­si­on und wozu ist sie nötig? Schließ­lich soll­te man mei­nen, dass der Ur­text doch be­reits in der alten Aus­ga­be ent­hal­ten war und ist – oder haben Ur­text-Aus­ga­ben ein Ver­falls­da­tum?

In ge­wis­ser Weise schon, denn die wis­sen­schaft­li­che Grund­la­ge, auf der un­se­re prak­ti­schen Ur­text-Aus­ga­ben ent­ste­hen, kann sich aus ver­schie­de­nen Grün­den än­dern. Ein ge­ra­de­zu klas­si­scher Grund ist das Auf­tau­chen neuer Quel­len. Die Au­to­gra­phe vie­ler Werke von Bach, Beet­ho­ven, Mo­zart oder Brahms sind ja seit lan­gem ver­schol­len oder in un­zu­gäng­li­chem Pri­vat­be­sitz, so dass man bei der Edi­ti­on nur auf ver­läss­li­che Ab­schrif­ten oder Erst­aus­ga­ben zu­rück­grei­fen kann. Taucht aber eine sol­che bis­lang ver­schol­le­ne Quel­le plötz­lich wie­der auf, ist dies na­tür­lich immer ein Grund zur Über­prü­fung der vor­han­de­nen Aus­ga­be.

So wurde Mo­zarts be­lieb­tes Dop­pel­werk Fan­ta­sie und So­na­te c-moll KV 475/457 (HN 345) nach Auf­tau­chen des Au­to­graphs gründ­lich re­vi­diert. Dabei än­der­ten sich zwar nur ei­ni­ge we­ni­ge Töne (z. B. ent­pupp­te sich der erste Ak­kord in Takt 41 der Fan­ta­sie noch als schlich­tes D-dur an­stel­le des Sep­tak­kor­des mit c1, der dar­aus ver­se­hent­lich in der Erst­aus­ga­be wurde und folg­lich in vie­len spä­te­ren Aus­ga­ben steht), aber so man­che vor­mals schwie­ri­ge edi­to­ri­sche Ent­schei­dung fand sich nun durch das Au­to­graph be­stä­tigt. Auch bei Beet­ho­vens Gro­ßer Fuge für Kla­vier zu 4  Hän­den op. 134 (HN 954; vor Re­vi­si­on HN 271) half der Blick ins neu zu­gäng­li­che Au­to­graph: In der alten Aus­ga­be hatte sich der Her­aus­ge­ber am Be­ginn des Meno mosso (Takt 161) in der Pri­mo-Par­tie bei zwei wi­der­sprüch­li­chen, aber gleich­wer­ti­gen Va­ri­an­ten in der Über­lie­fe­rung für die der Streich­quar­tett­fas­sung der Gro­ßen Fuge (in Opus 130) ent­spre­chen­de Va­ri­an­te A ent­schie­den.

Nun wurde aber Va­ri­an­te B durch das Au­to­graph be­stä­tigt:

Und Beet­ho­vens Wille ist an die­ser Stel­le sogar durch eine ver­deut­li­chen­de Kor­rek­tur der letz­ten Note be­son­ders klar er­kenn­bar:

Auch un­se­re Ge­samt­aus­ga­ben von Haydn, Beet­ho­ven und Brahms lie­fern immer wie­der Grün­de zur Re­vi­si­on. So ist der 2010 in der Neuen Brahms-Aus­ga­be von Egon Voss und Jo­han­nes Behr her­aus­ge­ge­be­ne Band mit den Vio­lon­cel­lo- und Kla­ri­net­ten­so­na­ten (HN 6013) Grund genug, un­se­re be­währ­ten Ur­text-Aus­ga­ben die­ser Stü­cke auf den Prüf­stand zu stel­len. Für die ge­ra­de in Vor­be­rei­tung be­find­li­che Re­vi­si­on der So­na­ten für Kla­vier und Kla­ri­net­te (Viola) op. 120 (HN 987/988; vor Re­vi­si­on HN 274/231) ist ein be­deu­ten­der Quel­len­zu­wachs zu be­rück­sich­ti­gen: Erst­mals wird das Au­to­graph für eine prak­ti­sche Edi­ti­on aus­ge­wer­tet und so man­cher Stich­feh­ler der bis­lang immer als Haupt­quel­le her­an­ge­zo­ge­nen Erst­aus­ga­be kor­ri­giert.

Mit­un­ter braucht es al­ler­dings gar keine neuen Quel­len für eine Re­vi­si­on, son­dern nur ein neues Be­wusst­sein – soll hei­ßen, eine neue wis­sen­schaft­li­che Ein­schät­zung be­stimm­ter Quel­len oder Quel­len­grup­pen. So be­wer­te­te man Schu­manns erste Nie­der­schrift sei­ner Toc­ca­ta op. 7 von 1830 frü­her als ein mit Aus­ar­bei­tung der end­gül­ti­gen Fas­sung für den Druck (1834) über­hol­tes Werk­sta­di­um, wäh­rend die Schu­mann-For­schung heute sol­chen zwar nicht ver­öf­fent­lich­ten, aber in ihrem Sta­di­um durch­aus „ab­ge­schlos­se­nen“ frü­he­ren Fas­sun­gen einen we­sent­lich hö­he­ren Sta­tus bei­misst – han­delt es sich doch oft genug um ein ganz ei­ge­nes Werk. Unser Her­aus­ge­ber Ernst Herttrich kam beim Ver­gleich der bei­den Ver­sio­nen zur Toc­ca­ta zu dem Er­geb­nis: „Die Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen den bei­den Fas­sun­gen sind so ge­ring, dass die Druck­ver­si­on im Grun­de eher eine Neu­kom­po­si­ti­on dar­stellt“ – wes­halb wir uns ent­schlos­sen, die Schu­mann­sche Toc­ca­ta in un­se­rer neuen Aus­ga­be auch in bei­den Ver­sio­nen wie­der­zu­ge­ben (HN 201). Deren Dif­fe­ren­zen zei­gen sich üb­ri­gens gleich in den ers­ten Tak­ten – und zwar nicht nur im ganz an­dern mu­si­ka­li­schen Ges­tus des An­fangs, son­dern auch in der dy­na­mi­schen Be­zeich­nung, die in der Früh­fas­sung be­mer­kens­wer­ter­wei­se viel de­tail­lier­ter nie­der­ge­legt ist als in der spä­te­ren Druck­fas­sung.

 

Die Cho­pin-For­schung der letz­ten Jahre hat auf­ge­deckt, dass der Kom­po­nist sich bei der Druck­le­gung sei­ner Werke stär­ker en­ga­giert hat, als frü­her an­ge­nom­men. Ent­spre­chend be­wer­tet man heute Va­ri­an­ten der Cho­pin-Erst­dru­cke höher, wie Nor­bert Mül­le­mann in sei­ner Re­vi­si­on der Cho­pinschen Bal­la­den (HN 862; vor Re­vi­si­on HN 295) aus­führ­lich dar­legt. Für die As-dur-Bal­la­de op. 47 wähl­te er daher nicht (mehr) das Au­to­graph, son­dern die von Cho­pin durch­ge­se­he­ne 2. Auf­la­ge der fran­zö­si­schen Erst­aus­ga­be als Haupt­quel­le. Folg­lich wan­dern die frü­her im Be­mer­kungs­teil nur er­wähn­ten Va­ri­an­ten die­ses Dru­ckes heute in den Haupt­text, wäh­rend die vor­mals im Haupt­text be­find­li­chen Les­ar­ten des Au­to­graphs jetzt in einer Fuß­no­te wie­der­ge­ge­ben wer­den, wie man an Takt 176 nach­voll­zie­hen kann:

vor Re­vi­si­on

 

nach Re­vi­si­on

So bie­tet die re­vi­dier­te Aus­ga­be den nach neu­es­tem For­schungs­stand als „Fas­sung letz­ter Hand“ ein­zu­schät­zen­den No­ten­text im Haupt­text und zu­gleich die frü­he­re (dem Mu­si­ker mög­li­cher­wei­se aus äl­te­ren Auf­nah­men oder Aus­ga­ben be­kann­te) Va­ri­an­te des Au­to­graphs in der Fuß­no­te – und nicht nur das: Ganz ne­ben­bei wird in den Fuß­no­ten ein gan­zes Spek­trum der Cho­pin-Über­lie­fe­rung auf­ge­fä­chert, indem zum einen von Cho­pin au­to­ri­sier­te Va­ri­an­ten, die in den von sei­nen Schü­lern be­nutz­ten Ex­em­pla­ren über­lie­fert sind, do­ku­men­tiert, zum an­de­ren durch spä­te­re Aus­ga­ben ein­ge­bür­ger­te Va­ri­an­ten be­schrie­ben wer­den. So gibt es kein Stut­zen („Das kenne ich doch an­ders?“) mehr ohne die zu­ge­hö­ri­ge Auf­klä­rung – und der Mu­si­ker wird in den Stand ge­setzt, seine Ent­schei­dun­gen auf Grund­la­ge die­ser In­for­ma­tio­nen zu tref­fen (oder bis­he­ri­ge Ge­wohn­hei­ten zu hin­ter­fra­gen…). Genau die­sem An­spruch wol­len wir mit un­se­ren Ur­text-Aus­ga­ben ge­recht wer­den – wes­we­gen wir sie immer wie­der mal auf den Prüf­stand stel­len.

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