2011 mach­te der Brahms-Ex­per­te Mi­cha­el Struck eine ver­blüf­fen­de Ent­de­ckung – in einem Buch, das be­reits vor 100 Jah­ren er­schie­nen ist…

Als Ur­text­ver­lag ste­hen wir na­tür­lich in der Pflicht, un­se­ren ge­sam­ten Ka­ta­log auf dem ak­tu­el­len Stand der For­schung zu hal­ten. Auch seit Jahr­zehn­ten vor­lie­gen­de Aus­ga­ben wer­den re­gel­mä­ßig auf den Prüf­stand ge­stellt und ge­ge­be­nen­falls re­vi­diert, wenn zu einem Werk neue, re­le­van­te Quel­len auf­tau­chen oder sich die Quel­len­be­wer­tung än­dern soll­te (siehe dazu den Blog vom 15.10.2012).

Zu­wei­len er­ge­ben sich auch neue Er­kennt­nis­se, die zwar den No­ten­text nicht un­mit­tel­bar be­rüh­ren, aber wert­vol­le Auf­füh­rungs­hin­wei­se für die Spie­ler lie­fern und einen Platz als Fuß­no­te oder Nach­wort ver­dient haben. So ge­schah es 2011, dass dem Mu­sik­wis­sen­schaft­ler und Mit­ar­bei­ter der Brahms-Ge­samt­aus­ga­be Mi­cha­el Struck eine ganz er­staun­li­che Ent­de­ckung in einem alten Buch ge­lang: In der Stu­die „Jo­han­nes Brahms“ des Mu­sik­schrift­stel­lers Wolf­gang Alex­an­der Tho­mas-San-Gal­li, be­reits 1912 er­schie­nen, lag offen vor allen Augen die Re­pro­duk­ti­on einer Post­kar­te von Brahms, deren ge­nau­er In­halt aber ein Jahr­hun­dert lang nicht zur Kennt­nis ge­nom­men wor­den war.

Dies lag zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen auch an drei Um­stän­den: ers­tens an Brahms’ schwer les­ba­rer Hand­schrift (sehen Sie selbst…), zwei­tens an der fal­schen Be­wer­tung durch Tho­mas-San-Gal­li, der in der Bild­un­ter­zei­le einen Bezug zu Brahms’ Haydn-Va­ria­tio­nen ver­mu­te­te, und drit­tens am feh­len­den Kon­text, denn Brahms ant­wor­tet of­fen­sicht­lich auf eine Frage, die uns nicht er­hal­ten ist.

Abb. aus: W. A. Tho­mas-San-Gal­li, Jo­han­nes Brahms, Mün­chen 1912, S. 160f.

Mi­cha­el Struck ent­zif­fer­te nun nicht nur den Text voll­stän­dig, son­dern konn­te den In­halt trotz der ir­re­füh­ren­den Bild­le­gen­de mit de­tek­ti­vi­schem Spür­sinn kor­rekt zu­ord­nen, ob­wohl Brahms’ te­le­gram­mar­ti­ge Ant­wort kei­ner­lei Werk­ti­tel er­wähnt. Das er­staun­li­che Er­geb­nis war: Brahms geht hier ein­deu­tig auf eine sehr be­kann­te Stel­le in sei­nem Un­ga­ri­schen Tanz Nr. 5 für Kla­vier zu 4 Hän­den ein, über deren ge­naue Aus­füh­rung sich schon Ge­ne­ra­tio­nen von Pia­nis­ten den Kopf zer­bro­chen haben. Es han­delt sich um die mit Bögen ver­se­he­nen Ach­tel­no­ten im Mit­tel­teil des Tan­zes (in der Pri­mo-Stim­me), im fol­gen­den No­ten­bei­spiel gelb her­vor­ge­ho­ben (Bild zum Ver­grö­ßern an­kli­cken):

Üb­li­cher­wei­se liest man diese Bögen als Hal­te­bö­gen und spielt daher die 2 Ach­tel als Vier­tel­no­te, wie etwa in die­ser Auf­nah­me zu hören ist. Doch Brahms mein­te mit den Bögen tat­säch­lich etwas ganz an­de­res, näm­lich ein Wie­der­ho­len der Note mit frei­er, quasi „spre­chen­der“ Phra­sie­rung. In sei­ner No­ta­ti­on folgt er dabei einem Bei­spiel Beet­ho­vens, auf das er in der Post­kar­te ex­pli­zit ver­weist: dem re­zi­ta­ti­vi­schen Takt zu Be­ginn des Schluss­sat­zes von Beet­ho­vens As-dur-So­na­te op. 110 (hier nach un­se­rer Ur­text-Aus­ga­be HN 363 wie­der­ge­ge­ben):

Eine dem­entspre­chend kor­rek­te Aus­füh­rung nach der Vor­stel­lung von Brahms würde also etwa so klin­gen.

Diese span­nen­de Er­kennt­nis darf na­tür­lich in un­se­rer Ur­text-Aus­ga­be von Brahms’ Un­ga­ri­schen Tän­zen (HN 68) nicht feh­len, und so wird der in Kürze an­ste­hen­de Nach­druck der Aus­ga­be um ein in­for­ma­ti­ves Nach­wort von Mi­cha­el Struck er­wei­tert. Dort kön­nen Sie dann wei­te­re in­ter­es­san­te De­tails er­fah­ren – und auch den ge­nau­en Wort­laut von Brahms’ Post­kar­te…

Dieser Beitrag wurde unter Artikulation, Brahms, Johannes, Brief, Klavier zu vier Händen, Montagsbeitrag, Ungarische Tänze (Brahms) abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort auf »Brahms’ „Ungarische Tänze“ – Neue Funde in alten Quellen«

  1. Nick sagt:

    Wieder einmal ein sehr interessanter Beitrag! Herzlichen Dank!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert