„Warum gibt’s bei Henle nicht das berühmte Klaviertrio von Schostakowitsch?“ oder: „Wann kommt endlich die siebte Klaviersonate von Prokofjew?“ Solche Fragen zu unserem Programm erhält das Lektorat immer wieder einmal.
Sie sind zunächst ja auch sehr naheliegend, denn von einem Verlag, der sich auf die Klavier- und Kammermusik der so genannten klassischen Musik spezialisiert hat, darf man erwarten, dass nicht nur die herausragenden Werke des 17. bis 19. Jahrhunderts, sondern auch diejenigen des jüngst vergangenen Jahrhunderts, die „Klassiker der Moderne“, im Verlagsverzeichnis vertreten sind.
Aber es gibt nicht nur gewichtige Gründe, um eine Urtextedition eines Werkes zu realisieren, sondern auch solche, um es nicht zu tun. Genauer gesagt, sind es drei Vorbehalte, wovon zwei unmittelbar einleuchtend sind, nämlich die Verkaufsaussichten und die Quellenlage. Es liegt auf der Hand, dass sich die Ausgaben rechnen und die Quellen für eine neue kritische Edition zugänglich sein müssen. Ein dritter Grund ist noch gewichtiger, aber nicht so stark im allgemeinen Bewusstsein verankert: Das Werk darf, um es ohne gültigen Vertrag mit dem Komponisten oder seinen Rechtsnachfolgern edieren zu können, nicht mehr urheberrechtlich geschützt sein.
Das heute durch die digitale Präsentation von geschützten Noten erneut heiß diskutierte Urheberrecht mit genau festgelegten Schutzfristen für musikalische Werke haben sich Musiker und Komponisten über Jahrhunderte hinweg Stück für Stück erkämpft. War ursprünglich der leitende Gedanke für eine mit dem Tod des Urhebers beginnende Schutzfrist die Versorgung der Hinterbliebenen, so nutzen die (Rechts-)Erben heute oft die Tantiemen aus Veröffentlichungen und Aufführungen auch gezielt zur Förderung der Musik des Verstorbenen. Als Beispiel sei die in der Schweiz ansässige Fondation Hindemith genannt, die aus den Einnahmen der geschützten Werke das Hindemith Institut in Frankfurt/Main finanziert, das den Nachlass des Meisters verwahrt und erforscht sowie die Gesamtausgabe seiner Werke erarbeitet.
Unterschiedliche nationale Traditionen und Rechtsauffassungen verhinderten bislang eine weltweit einheitliche Schutzfrist, die Dauern reichen von 50 Jahre (China, Japan) bis 100 Jahre (Mexiko). Bis 1996 waren auch in Europa zum Teil erheblich voneinander abweichende Fristen maßgeblich, beispielsweise 70 Jahre in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 50 Jahre in Großbritannien, 80 Jahre in Spanien sowie 84,8 Jahre (70 + 14,8 Jahre als Entgelt für Verluste während der beiden Weltkriege) in Frankreich. Immerhin wurde seither für die Mitglieder der Europäischen Union die Dauer der Schutzfrist auf 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers verbindlich festgelegt – eine Regelung, der sich inzwischen viele weitere europäische und außereuropäische Länder angeschlossen haben. Für die USA gilt seit 1998 eine zwischen Autor und Unternehmen als Rechteinhaber differenzierende Regelung zwischen 70 und 95 Jahren.
Für uns bedeutet die 70-jährige Schutzfrist, dass die Werke von Prokofjew († 1953) und Schostakowitsch († 1975) sowie von vielen weiteren Komponisten noch eine Weile warten müssen, bis sie das berühmte Henle-Blau zieren wird.