Im Jahre 1821 trafen drei berühmte Persönlichkeiten in Weimar zusammen: Goethe, Mendelssohn Bartholdy und Mozart. Mozart natürlich nicht leibhaftig, sondern in Form einer Originalhandschrift, die damals Goethe besaß (und die er eigenhändig auf Seite 2 mit „Mozart.“ kennzeichnete):
Es handelt sich dabei um ein Fragment gebliebenes Stück in c-moll, das im Köchelverzeichnis die Nummer KV 396 (385f) erhielt und bis heute als Klavier-„Fantasie in c-moll“ bekannt ist. Das Ereignis von 1821 ist so bekannt wie berückend: Der alte Goethe wollte den außergewöhnlich begabten, erst 12-jährigen Felix, der ihn zusammen mit Carl Friedrich Zelter in Weimar besucht hatte, mit dem Mozart-Fragment auf die Probe stellen. Er ließ Felix das Mozart-Autograph am Klavier vom Blatt abspielen. Dieser dürfte seine Sache gut gemacht haben: Die Bewunderung Goethes für den Knaben Mendelssohn („neuer Mozart“ – „mein David“) ist legendär.
Und jetzt, Geiger und Pianisten, die Ohren gespitzt: In Kürze erscheint im G. Henle Verlag diese c-moll-Fantasie KV 396 (385f) neu, aber eben in Originalbesetzung. Es handelt sich nämlich gar nicht um ein Klavier-Solo-Werk, sondern um ein weit gediehenes Fragment für Klavier und Violine. Das Stück hat sich nur wegen der sehr gelungenen Ergänzung von Maximilian Stadler als Klavierstück etabliert und wird von vielen Pianisten wegen des „tragischen“ c-moll-Tonfalls geliebt.
Vor einigen Jahren wurde diese Stadler-Fassung für Violine und Klavier umarrangiert und publiziert. Solch ein Arrangement entspricht aber sicherlich nicht den Absichten Mozarts, sondern widerspricht vielmehr dem von Mozart Notierten. Also baten wir den fabelhaften Musiker und eminenten Mozart-Experten Robert D. Levin, dieses schöne Stück nun endlich in einer adäquaten, eigenständigen Originalbesetzungsgestalt auferstehen zu lassen. Gefragt, getan – und nun sind wir gespannt, was die Musikwelt dazu sagen wird.
Um auf diese inhaltlich besondere Urtextausgabe mit sämtlichen Violin-Klavier-Fragmenten Mozarts (HN 1039) noch ein wenig mehr Appetit zu machen, seien hier einige wissenswerte und unterhaltsame Hintergrundinformationen zur sogenannten c-moll-Fantasie KV 396 (385f) berichtet:
Das Mozart-Fragment besteht aus zwei beschriebenen Seiten mit 27 vollständig ausgeführten Klaviertakten, sie gehen also genau bis zum Wiederholungsstrich. Es wäre in der letzten Akkolade der 2. Seite noch genügend Platz geblieben, um das Stück fortzufahren, aber Mozart brach hier ab. Warum, bleibt ein Rätsel, denn die zuvor niedergeschriebenen Takte sind wirklich großer Mozart: Aus einer quasi-Improvisation der ersten Takte entwickelt sich eine mit herber Chromatik versetzte Schicksalsmusik, durch scharfe Punktierungen an eine französische Ouvertüre erinnernd.
Formal hat das Stück mit einer „Fantasie“ nichts zu tun (man vergleiche etwa die beiden berühmten Klavier-Fantasien in d-moll und c-moll); es handelt sich letztlich um den ersten Teil eines Sonatensatzes, der vor dem Beginn der Durchführung abbricht.
Mozarts Autograph zeigt eindeutig ein über den Klaviersystemen mitlaufendes Leersystem. Man kann zwar den Instrumentenvorsatz nicht erkennen, weil die Handschrift stark beschnitten wurde, aber dass es sich dabei um eine Violine und nichts anderes handelt, geht aus den fünf letzten Takten der zweiten Seite hervor: Mozart schreibt Doppelgriffe, zum Teil mit leerer G-Saite. (An dieser Stelle finden sich übrigens auch seine einzigen Angaben zur Dynamik.)
Wie kam es dann zu der bis heute bekannten „falschen“ Klavierfassung der c-moll-„Fantasie“? Nun, dazu gibt es ebenfalls eine interessante kleine Anekdote. Maximilian Stadler sichtete zusammen mit Constanze Mozarts zweitem Ehemann Georg Nikolaus Nissen viele Jahre nach Mozarts Tod dessen gesamten Notennachlass. Darunter befand sich ein gehöriger Anteil unvollendeter Werke. So auch unser Stück in c-moll für Klavier und Violine. Den autographen Nachlass verkaufte Constanze an den Offenbacher Musikverleger Johann Anton André in den Jahren um 1800. Maximilian Stadler wurde vermutlich von Constanze Mozart gebeten, einige der lohnendsten Fragmente zu Ende zu komponieren – damit man sie überhaupt aufführen und somit besser vermarkten konnte. Das c-moll-Fragment hatte es Stadler dabei wohl besonders angetan, denn es befand sich vertragswidrig nicht unter dem Autographen-Konvolut, das André gekauft hatte. Vielmehr behielt Stadler das Mozart-Autograph, schrieb es ab und komponierte daraus seine außerordentlich gut gelungene Klavierfantasie. Vermutlich konnte er mit den wenigen originalen Violintakten Mozarts darin nichts anfangen. Und er überreichte seine „Co-Schöpfung“ der Eigentümerin des Mozart-Autographs in einer besonders noblen Geste: Die c-moll-„Fantasie“ erschien 1802 bei dem Wiener Musikverleger Cappi mit Widmung an sie – ich vermute zum 40. Geburtstag von Constanze.
Gleich drei Unwahrheiten finden sich auf dem Titelblatt dieser Druckausgabe: Weder handelt es sich um eine „Fantaisie“ (sondern um einen Sonatensatz), noch ist die Besetzung korrekt „Clavecin ou Piano-Forte“ (ohne Violine!), und der genannte Komponist „W. A. Mozart“ hat davon nur die Exposition geschrieben (Stadler als Vollender wird mit keinem Wort erwähnt). Hier der Abdruck der Titelseite eines Exemplars der Erstausgabe, das einst im Besitz von Johannes Brahms war:
Robert Levin hat sich nun, 232 Jahre nach Mozarts Niederschrift (1782) der wahrlich nicht einfachen Aufgabe gestellt, aus dem Fragment endlich eine von Stadler unabhängige, eigenständige Version in der Originalbesetzung anzufertigen. Und wir im Verlag sind schlicht entzückt und wirklich begeistert von dieser Neu-Fassung. Wir können uns gut vorstellen, dass Mozart selbst über diese Vervollständigung seiner Musik erstaunt und beglückt wäre, könnte er sie denn hören. Die neue Fassung, wie sie in wenigen Wochen bei Henle erscheinen wird, erklang bislang erst einmal öffentlich: Robert Levin und Noah Bendix-Balgley (Konzertmeister des Pittsburgh Symphony Orchestra und künftiger Konzertmeister der Berliner Philharmoniker) spielten sie am 29. April 2014 in Pittsburgh in einem Kammerkonzert. Wie man hört, mit großer Zustimmung. Es gehört nicht viel dazu sich vorzustellen, dass sich das neue Werk, auch wegen seiner Kürze, als viel gespieltes Zugabestück durchsetzen wird.