Betrachtet man die Themen der inzwischen über 70 Beiträge dieses Blogs, so befassen sich die meisten mit Fragen der musikalischen Notation – Vorzeichen, Tonhöhen oder Angaben zu Artikulation und Dynamik. Das ist natürlich nicht verwunderlich, steht doch die Arbeit mit den musikalischen Quellen und die Erstellung eines korrekten und verlässlichen Notentexts im Mittelpunkt unserer Arbeit.

Ein weiterer, kaum weniger wichtiger Aspekt bei der Vorbereitung einer Urtext-Ausgabe ist aber auch die genaue Betrachtung der Entstehungsgeschichte einer Komposition, die manchmal recht verschlungene Wege geht und für die Bewertung der überlieferten Quellen natürlich sehr bedeutsam ist. In den Vorworten unserer Ausgaben finden sich daher in der Regel hierzu ausführliche Darstellungen, auf Grundlage des aktuellen musikwissenschaftlichen Forschungsstands und auch eigener Erkenntnisse. Daher soll der heutige Blogbeitrag einmal den Vorworten gewidmet sein, in denen so manche spannende und auch neue Information schlummert…

Als aktuelles Beispiel kann unsere in Kürze erscheinenden Neuausgabe von Sergej Rachmaninows Vocalise op. 34 Nr.14 (HN 1237) dienen, zu der in der Literatur (und im Internet) erstaunlich viele unkorrekte Angaben kursieren.

Antonina Neschdanowa (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Antonina Neschdanowa (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Rachmaninow komponierte das Stück für Gesang und Klavier im Jahr 1915 für die Sopranistin Antonina Neschdanowa, was durch seine eigenen Angaben und die eigenhändigen Datierungen auf den Autographen (1. Fassung: 1. April 1915, 2. Fassung 21. September 1915) eindeutig belegt ist. Dennoch geistert durch vorwiegend westliche Publikationen nicht selten irrtümlich das Entstehungsjahr „1912“ (etwa im englischen Wikipedia-Artikel). Auch die heute noch vielgelesene Rachmaninow-Biographie von Sergei Bertensson und Jay Leyda („A Lifetime in Music“, NY 1956, Nachdruck 2001) nennt als Entstehungszeit „April 1912“ sowie „published January 1913“. Die irrtümlichen Angaben gehen sicher auf eine Vermischung mit den Datierungen der übrigen 13 Lieder aus Opus 34 zurück, die in der Tat schon 1912 komponiert wurden; die Vokalise entstand jedoch trotz gleicher Opuszahl erst 3 Jahre später.

 

Die Uraufführung der Vocalise fand am 25. (nicht 24.) Januar 1916 in Moskau statt, und zwar bereits in Rachmaninows eigener Fassung für Gesang und Orchester, nicht Klavier. Dies geht u.a. aus den Erinnerungen Neschdanowas eindeutig hervor – auch hier irrt die Biographie von Bertensson/Leyda, wenn sie schreibt, dass Rachmaninow die Idee zu einer Orchestrierung erst nach der Uraufführung bekam. Serge Koussevitzky, der dieses Konzert als Dirigent leitete, ist übrigens noch in einer weiteren, bislang kaum bekannten Weise mit dem Werk verbunden: wie der russische Musikwissenschaftler Victor Yuzefovich in seiner grundlegenden mehrbändigen Arbeit zu Serge Koussevitzky (Moskau 2004ff.) herausgefunden hat, fand bereits im Dezember 1915 in Moskau eine Vor-Aufführung der Vocalise statt. Dabei spielte Koussevitzky, der auch legendärer Kontrabass-Virtuose war, eine instrumentale Bearbeitung für Kontrabass und Orchester. Dies geschah ganz sicher mit Zustimmung des Komponisten, der mit Koussevitzky eng befreundet war – vielleicht brachte Rachmaninow ihn sogar selbst auf diese Idee, denn es ist ein Briefzeugnis überliefert, das von einem geselligen Abend bei den Koussevitzkys Anfang September 1915 berichtet, bei dem Rachmaninow zu später Stunde seine gerade in Arbeit befindliche Vocalise am Klavier vorspielte (vgl. Brief von Anna Medtner an Marietta Schaginjan, Vospominanija o Rachmaninove, hrsg. von Zarui Apetjan, Moskau 1988, Bd. 2, S. 137)

Der überraschendste Fund, der sich im Zuge der Recherchen zur Vocalise ergab, betrifft allerdings das Erscheinungsjahr der Erstausgabe. Hierfür wird in der einschlägigen Rachmaninow-Literatur stets 1916 angegeben, was auch mit dem Copyrightvermerk in der Erstausgabe übereinzustimmen scheint (siehe unterer Seitenrand):

Ausgabe A. Gutheil, Moskau 1916 (zum Vergrößern anklicken)

Ein seltenes Exemplar, das wir in der Russischen Staatsbibliothek ausfindig machten, belegt aber, dass die allererste Auflage bereits 1915, also noch im Jahr der Komposition, erschien:

Ausgabe A. Gutheil, Moskau 1915 (zum Vergrößern anklicken)

Man beachte im Copyrightvermerk neben der Jahreszahl auch die Schreibfehler „Britisch“, „Amerika“ und „Chéster“, die genau so in Rachmaninows Autograph stehen; erst bei der Neuauflage 1916, die ansonsten die identischen Druckplatten weiterverwendete, wurde dies korrigiert. Bestätigt wird diese frühere Datierung auch durch einen Verlagsvermerk auf dem Autograph: „zum Stich 23/IX/15“ (im Original auf russisch), d.h. 2 Tage nach der Fertigstellung der Komposition. Sicher lag die Erstausgabe daher schon im Oktober oder Anfang November 1915 vor.

Es lohnt sich also immer, auch einen Blick in die Vorworte zu unseren Ausgaben zu werfen, selbst wenn man das Stück gut kennt, denn dort finden sich nicht selten neue Erkenntnisse zu Werkentstehung, Uraufführung und Datierung der Quellen. Übrigens: ein Großteil unserer Vorworte und Kritischen Berichte ist auf unserer Website frei zugänglich und kann gelesen, heruntergeladen und ausgedruckt werden. Viel Vergnügen beim Stöbern!

Dieser Beitrag wurde unter Klavier + Gesang, Montagsbeitrag, Rachmaninow, Sergej, Vocalise op. 34 Nr. 14 (Rachmaninow), Werkentstehung abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten auf »Ohne Worte, aber mit Vorwort – Neues zu Rachmaninows „Vocalise“«

  1. Anne Heeg sagt:

    Ich würde so gern erfahren, was Rachmaninoff selbst erlebte, als er dieses Stück erschuf.
    Anne Heeg

  2. Monika Tohsche sagt:

    @Anne Heeg: Das interessiert mich auch….es ist ja so wichtig für den Ausdruck und die Interpretation…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert