Das neue Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis

Hand aufs Herz: Wer hat nicht schon mal bei einem span­nen­den Krimi oder den dra­ma­ti­schen Ver­wick­lun­gen eines Lie­bes­ro­mans in das letz­te Ka­pi­tel ge­blät­tert, um zu wis­sen wie es aus­geht – auch wenn dies na­tür­lich kei­nes­wegs im Sinne des Au­tors ist! Was bei Bel­le­tris­tik ein Tabu, ist in wis­sen­schaft­li­chen Wer­ken al­ler­dings durch­aus er­laubt. Ja, fast möch­te man auch bei un­se­rem brand­neu­en Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis (HN 2207) allen Le­sern zu­ru­fen: „Schau­en Sie doch mal ans Ende“, denn hin­ter den Ein­zelein­trä­gen zu sämt­li­chen Wer­ken mit und ohne Opus­zahl er­öff­net sich in Bd. 2 ab S. 573 auf mehr als 300 Sei­ten noch ein gan­zes Uni­ver­sum von In­for­ma­tio­nen um diese Werke herum.

Das neue Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis - Aus­schnitt aus dem In­halts­ver­zeich­nis (Dop­pel­klick zur Ver­grö­ße­rung)

So wer­den zu­nächst mal fast zwei Dut­zend „neue“ Werke be­schrie­ben, die zwar un­voll­endet blie­ben, aber doch in mu­si­ka­li­schen Nie­der­schrif­ten fass­bar sind und nun als Unv 1 bis 23 unser Beet­ho­ven-Bild ent­schei­dend be­rei­chern. Oder hät­ten Sie ge­wusst, dass hier neben ei­ni­gen mehr oder min­der be­kann­ten In­stru­men­tal­sät­zen oder der viel­dis­ku­tier­ten „10.“ Sym­pho­nie auch La­men­ta­tio­nes Je­re­miae (Unv 20) aus der Bon­ner Zeit ste­hen? Dass auch ein Beet­ho­ven mal ein Hei­den­rös­lein (Unv 23) skiz­zier­te und 1808 gar einen Mac­beth ins Vi­sier nahm? In die­ser Hin­sicht geht das neue Ver­zeich­nis üb­ri­gens einen gro­ßen Schritt über den Vor­gän­ger-Ka­ta­log von Georg Kin­s­ky und Hans Halm hin­aus, in dem per de­fi­ni­tio­nem nur die ab­ge­schlos­se­nen Werke be­ar­bei­tet wur­den.

Das neue Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis - Ein­trag zu Unv 23

Da sich zum Mac­beth im­mer­hin zwei au­to­gra­phe No­ta­te er­hal­ten haben, wird er mit einem ei­ge­nen Ein­trag als Unv 16 ge­führt. Dass der Shake­speare’sche Held aber um 1808 mit Ario­sts Or­lan­do fu­rio­so und Goe­thes Faust um Beet­ho­vens mu­si­ka­li­sche Gunst kon­kur­rier­te, er­schließt sich nur aus Brie­fen und se­kun­dä­ren Quel­len. Julia Ron­ges Ka­pi­tel zu den Opern- und Ora­to­ri­en­plä­ne ver­ra­ten uns, wie viele sol­che Büh­nen­pro­jek­te Beet­ho­ven le­bens­lang ver­folg­te, ohne sie zu rea­li­sie­ren. „Was wäre ge­we­sen, wenn …“, seufzt man nach jedem Ab­satz die­ser höchst span­nen­den Ge­schich­te (siehe die Le­se­pro­be auf un­se­rer Web­site).

Um­ge­kehrt ge­winnt auch der „ler­nen­de“ Beet­ho­ven im neuen Werk­ver­zeich­nis Kon­tur: durch Auf­lis­tung sei­ner Nie­der­schrif­ten aus dem Kom­po­si­ti­ons­un­ter­richt und sei­ner Ab­schrif­ten aus theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Wer­ken der Musik. Beet­ho­vens Ver­traut­heit mit und Ver­eh­rung für Bach, Hän­del, Mo­zart und Haydn ist hin­läng­lich be­kannt, aber dass er Hän­dels Mes­siah eben nicht nur als Druck besaß, son­dern sich Mo­zarts Be­ar­bei­tung die­ses Ora­to­ri­ums aus­zugs­wei­se ko­pier­te, be­legt eine sehr kon­kre­te Be­schäf­ti­gung mit dem Werk, dem Genre und dem da­ma­li­gen Um­gang mit der äl­te­ren Musik.

Das neue Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis - Ein­trag zu Anh. 3 (Aus­schnitt)

Lie­fern diese Ka­pi­tel ganz we­sent­li­che In­for­ma­tio­nen zur schöp­fe­ri­schen Ar­beit des gro­ßen Meis­ters, lenkt der an­schlie­ßen­de An­hang den Fokus in die an­de­re Rich­tung, näm­lich ihre öko­no­mi­sche Ver­wer­tung. Wel­che Kauf­kraft der Name Beet­ho­ven besaß, zeigt sich nicht zu­letzt in den zahl­rei­chen unter sei­nem Namen pu­bli­zier­ten Wer­ken, die sich in­zwi­schen als un­echt oder zu­min­dest zwei­fel­haft her­aus­ge­stellt haben. Auch wenn diese sach­ge­mäß na­tür­lich nicht in ein Beet­ho­ven-Ver­zeich­nis ge­hö­ren, lie­fert das neue Werk­ver­zeich­nis zu­min­dest für die noch im Vor­gän­ger-Ver­zeich­nis von Kin­s­ky und Halm ge­führ­ten Werke eine ak­tu­el­le Ein­schät­zung und kann so auch manch spä­te­re Fehl­zu­schrei­bung kor­ri­gie­ren (auch wenn es mit­un­ter in der Fa­mi­lie bleibt, wie im Fall des heute Beet­ho­vens Bru­der Kas­par Karl zu­ge­schrie­be­nen D-dur-Trio Anh. 3).

Einen wei­te­ren Beleg für die Ab­satz­mög­lich­kei­ten von Beet­ho­ven-Aus­ga­ben lie­fert Kurt Dorf­mül­lers Über­blick über die zahl­rei­chen Sam­mel­aus­ga­ben, in denen vor­ran­gig Beet­ho­vens Kla­vier- und Kam­mer­mu­sik er­schien, aber auch erste Ver­su­che einer Ge­samt­aus­ga­be vor­ge­legt wur­den. Na­tür­lich fin­den sich diese auch je­weils im Wer­k­ein­trag er­wähnt. Pro­fil und Um­fang der ver­schie­de­nen Samm­lun­gen, zahl­rei­che De­tails zur Da­tie­rung und auch der Kon­text kon­kur­rie­ren­der Aus­ga­ben wer­den je­doch erst in der dis­kur­si­ven Dar­stel­lung im An­hang deut­lich.

Das gilt last but not least auch für das letz­te und um­fang­reichs­te Ka­pi­tel des An­hangs, das sich dem zeit­ge­nös­si­schen Ver­lags­we­sen wid­met: Hier schöpft der Alt­meis­ter der Beet­ho­ven-Druck­for­schung Kurt Dorf­mül­ler aus dem Vol­len und prä­sen­tiert his­to­ri­sche Ab­ris­se zu gro­ßen wie kleins­ten Ver­la­gen der Beet­ho­ven-Zeit, bün­delt jahr­zehn­te­lang ge­sam­mel­te In­for­ma­tio­nen zu Ver­lags- und Werk-Ka­ta­lo­gen, zu Druck­tech­ni­ken, Ti­tel­blatt­va­ri­an­ten und der Ent­wick­lung von Preis- und Wäh­rungs­an­ga­ben (bis hin zur vier­fach un­ter­teil­ten Grup­pie­rung der von Schott ge­brauch­ten Kreu­zer-Zei­chen!) – womit er so ganz ne­ben­bei Kri­te­ri­en zur Mu­si­ka­li­en­da­tie­rung im 19. Jahr­hun­derts lie­fert, die so man­cher Leser dank­bar für ei­ge­ne Stu­di­en nut­zen wird.

Das neue Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis - Grup­pie­rung der Kreu­zer-Zei­chen

Die Be­dürf­nis­se der Be­nut­zer haben uns auch ge­lei­tet bei der Kon­zep­ti­on der ins­ge­samt elf Re­gis­ter und Über­sich­ten, die das neue Werk­ver­zeich­nis be- und er­schlie­ßen. In Um­fang und An­spruch weit über das Vor­gän­ger­ver­zeich­nis hin­aus­ge­hend bie­ten wir hier nicht nur ganz „neue“ Re­gis­ter wie das der Po­pu­lär­ti­tel oder die um­fang­rei­che Hess-Kon­kor­danz, son­dern auch we­sent­lich er­wei­ter­te Re­gis­ter wie das der Ver­le­ger: Das alte Werk­ver­zeich­nis lis­te­te hier auf ge­ra­de mal zwei Sei­ten nur die Ver­le­ger der zeit­ge­nös­si­schen Ori­gi­nal­aus­ga­ben auf, das neue bie­tet auf 30 Sei­ten eine Ge­samt­schau sämt­li­cher Ver­la­ge und Ver­öf­fent­li­chun­gen, die in den Ein­trä­gen ge­nannt sind. Die Un­ter­glie­de­rung in­ner­halb der ein­zel­nen Ein­trä­ge er­laubt zu­gleich eine schnel­le Ein­schät­zung, wer pri­mär Ori­gi­nal­aus­ga­ben ver­leg­te (wie z. B. das Wie­ner Kunst- und In­dus­trie-Comp­toir) und wer auf wei­te­re Ver­wer­tun­gen in Nach­dru­cken und Ar­ran­ge­ments setz­te (wie der gleich­na­mi­ge Ver­lag in Ber­lin).

Das neue Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis - Aus­schnitt aus dem Re­gis­ter "Ver­la­ge, Sam­mel­dru­cke, Mu­sik­pe­ri­odi­ka und Zeit­schri­ten"

Sie sehen: Es gibt viele Grün­de, bei der Lek­tü­re auch mal hin­ten zu be­gin­nen. Viel Spaß dabei!

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