Das Repertoire des G. Henle Verlags ist traditionell sehr deutsch-österreichisch geprägt – von Bach und Händel über Haydn, Mozart, Beethoven bis Schumann, Brahms und Berg. Doch dieses Jahr 2015 steht bei uns ganz im Zeichen der russischen Musik…
So wird auf der in Kürze stattfindenden Frankfurter Musikmesse einer der Schwerpunkte unseres Standes die Musik russischer Komponisten sein. Damit wollen wir den Blick einmal darauf lenken, wie viele bedeutende Werke russischer Meister wir im Urtext-Programm führen: etwa Mili Balakirews halsbrecherisch schwierige Klavierfantasie Islamey (HN 793), Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung (HN 477) oder die 24 Préludes op. 11 von Alexander Skrjabin (HN 484). Natürlich darf auch Peter Tschaikowsky nicht fehlen, der mit dem beliebten Klavierzyklus Die Jahreszeiten (HN 616) und seinem einzigartigen Violinkonzert (HN 685) vertreten ist. Und besonders stolz sind wir auf den „Neuzugang“ Sergej Rachmaninow, aus dessen Oeuvre wir seit letztem Jahr bereits zentrale Werke wie die 24 Préludes, die Études-Tableaux, die Corelli-Variationen op. 24 sowie die Vocalise für Singstimme und Klavier vorgelegt haben.
Gerade das Jahr 2015 der russischen Musik zu widmen, ist kein Zufall, denn es ist in mehrerer Hinsicht ein wichtiges Gedenkjahr. 1915 starb Alexander Skrjabin, den wir mit einer prächtigen Faksimile-Ausgabe seiner 7. Klaviersonate ehren werden (HN 3228). Zudem haben wir gerade zum Jahresbeginn mit Erscheinen der Sonate Nr. 4 Fis-dur das langjährige Editionsprojekt sämtlicher zehn Klaviersonaten Skrjabins abgeschlossen.
Außerdem feiern wir dieses Jahr den 175. Geburtstag Tschaikowskys, und zugleich ist auch der 150. Geburtstag Alexander Glasunows, der am 10. August 1865 in St. Petersburg das Licht der Welt erblickte. Glasunows Musik steht heute etwas zu Unrecht im Schatten seiner russischen Zeitgenossen, denn er hat neben großen Orchesterwerken und Balletten auch eine Vielzahl hinreißender Kammermusikstücke hinterlassen, die es (wieder) zu entdecken gilt. Mit unserer Urtext-Ausgabe der Élégie für Viola und Klavier op. 44 (HN 1241), die zum ersten Mal das Autograph in St. Petersburg auswertet, möchten wir dazu einen kleinen Beitrag leisten. (Sollten Sie dieses wunderbare Stück voll russischer Schwermut noch nicht kennen – unbedingt anhören!)
Bei allen Hornisten bestens bekannt und beliebt ist auch Glasunows tiefromantische Rêverie für Horn und Klavier op. 24, die bei uns im Sommer erscheinen wird, und, wie bei der Élégie, erstmals sämtliche autographen Quellen einbezieht (HN 1285). Nur wenige wissen dabei, dass Glasunow selbst das Horn sehr gut beherrschte. Denn er war nicht nur ein kompositorisches Wunderkind (bereits als 16-Jähriger stellte er seine 1. Symphonie vor), sondern auch ein außerordentlich vielseitiger Musiker: neben Klavier, Violine und Violoncello erlernte er als junger Mann auch mit Leidenschaft Horn, Posaune, Trompete und Klarinette. Sein Lehrer und Freund Nikolaj Rimsky-Korsakow erinnerte sich in seinen Memoiren: „Auf dem Horn nahm er sogar Unterricht bei Franke, dem ersten Hornisten des Opernorchesters“. Glasunows Spielfertigkeit als Blechbläser war immerhin so hoch, dass er erfolgreich in verschiedenen Universitätsorchestern mitwirkte, darunter auch im Symphonieorchester der Militärmedizinischen Akademie St. Petersburg – geleitet von keinem Geringeren als Alexander Borodin…
Dimitri Schostakowitsch, der bei Glasunow am St. Petersburger Konservatorium studierte, hat eine amüsante Anekdote überliefert, die dessen Fähigkeiten auf dem Horn belegen. Sie trug sich zu, als Glasunow während einer Konzertreise durch England eigene Werke dirigierte und mit den Anfeindungen des einheimischen Orchesters zu kämpfen hatte:
„Die englischen Orchestermusiker aber mokierten sich über ihn, hielten ihn für einen Barbaren und Ignoranten. Es kam zu regelrechter Sabotage. […] Der Waldhornspieler stand auf und sagte, die und die Note könne er nicht spielen. Es sei absolut unmöglich, denn diese Note sei gar nicht spielbar. Die Musiker unterstützten ihn unisono. […] Glasunow aber ging, ohne ein Wort zu sagen, zu dem Musiker, nahm ihm das Waldhorn ab; der verdutzte Musiker ließ es geschehen. Nachdem Glasunow das Instrument eine Weile ausprobiert hatte, spielte er genau die Note, von der der englische Waldhornbläser so steif und fest behauptet hatte, sie sei nicht spielbar. Das Orchester applaudierte. Der Widerstand war gebrochen. Die Probe konnte fortgesetzt werden.“
Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, hrsg. von Solomon Wolkow, dt. Übers. von Heddy Pross-Weerth, München 2003, S.151
Nicht nur den Werken Glasunows werden wir uns weiterhin widmen, auch für Rachmaninow und Tschaikowsky sind gerade spannende Neuausgaben in Vorbereitung. In der riesigen Welt der russischen Musik werden wir noch einige Schätze für Sie heben.