Ein Thema, das Pianisten seit dem 19. Jahrhundert diskutieren: Darf man in Beethovens Klaviersonaten (und natürlich auch anderswo) an einigen Stellen in der linken Hand den Notentext ändern und den Tonumfang nach unten erweitern? Denn Tasten für die tiefen Töne E1 bis C1 standen zwar auf englischen Klavieren zum Teil schon seit ca. 1800 zur Verfügung, deren „Einsatz“ in Beethovens Klaviersonaten erfolgte jedoch erst deutlich später. Bis zur Klaviersonate op. 101, die zwischen 1815 und Anfang 1817 entstand, beachtete Beethoven die Begrenzung des Tonumfangs nach unten bis F1 genau – seine Musik sollte schließlich auf einem „gewöhnlichen“ Klavier spielbar sein.
Erst mit dem Entstehen von Op. 101 beschloss er – vielleicht zusammen mit seinen Verlegern –, dass man auf eine weite Verbreitung der neuen Klaviere mit größerem Umfang zählen konnte. Dass dies tatsächlich ein sehr bewusster Schritt war, belegen Autograph und Erstausgabe der Sonate genau so eindrücklich, wie zwei Briefe an Beethovens Verleger vom Januar 1817. So heißt es etwa in einem Brief: „im lezten Stück wünsche ich, daß bey der Stelle wo das Contra E eintritt bey den 4 accorden die Buchstaben hinzugesezt werden“ (Briefwechsel Gesamtausgabe, Nr. 1067).
Ja, Beethoven verlangte tatsächlich, dass an dieser Stelle, dem Höhepunkt der Durchführung des letzten Satzes, Tonbuchstaben in den Notensatz ergänzt würden, die beim Lesen der tiefen Akkorde helfen. Im Autograph notierte er dazu am unteren Rand: „NB: die Buchstaben auch im Stechen drunter gesezt“:
In der Erstausgabe fand dann jedoch wohl aus Platzmangel nur der Tonbuchstabe „Contra E“ Eingang (siehe die Abbildung aus der Urtextausgabe oben) und markiert für den Komponisten den Türöffner in eine erweiterte Welt des tiefen Klangs.
Immer wieder war Beethoven davor an Grenzen gestoßen, die er vermutlich zu einem Teil frustriert zur Kenntnis nahm und durch Kompromisse löste, und zu einem anderen Teil als kreativ befruchtende Ausgangspunkte für anspruchsvolle, dem Werk dienende Lösungen sah. Zur ersten Kategorie gehört sicher der Schluss des 1. Satzes der Sonate op. 2 Nr. 3. Der virtuose C-dur-Rausch endet in einer Notlösung, die gebrochenen 16tel-Oktaven laufen in einer 8tel-Figur aus, weil schlicht in der linken Hand keine Tasten mehr zur Verfügung standen:
Diese Lösung ist aus der Perspektive moderner Instrumente so frustrierend, dass zum Beispiel Eugen d’Albert in seiner 1902 erschienenen – man höre, und staune! – „kritisch-instructiven Ausgabe“ den Text der Quellen ignoriert und die Stelle „aufpeppt“:
Oder hier ein ähnlicher Fall aus dem 1. Satz der Sonate op. 10 Nr. 3, wo die Ergänzung auch durch eine vorangehende Parallelstelle naheliegt. Dort steht die ganze Stelle eine Quint höher und es ergibt sich kein Umfangproblem für die Oktaven. Hier, in D-dur, muss sich man entscheiden, ob man ergänzt oder nicht:
In beiden Beispielen ist die Hemmschwelle vielleicht recht niedrig, die Ergänzungen zu spielen, denn an der „Substanz“ der Musik ändert sich (vielleicht) nichts und man hat das gute Gefühl, eigentlich nur überholte Hindernisse der Vergangenheit aus dem Weg geräumt zu haben. (In der Urtextausgabe muss natürlich Transparenz gewahrt sein, die Ergänzungen in der Abbildung oben zu Op. 10 Nr. 3 stehen in Klammern und sind als Vorschlag zu verstehen!)
In dem guten Gefühl, hoffentlich nicht allzu viel falsch zu machen, gehen wir einen Schritt weiter und schauen uns nicht ganz so „eindeutige“ Stellen an. Hier zum Beispiel einige Takte aus der Sonate op. 14 Nr. 1:
Bertha Wallner, die Herausgeberin unserer bisherigen Urtextausgabe, ergänzte diese tiefen Noten E1, aber ich muss gestehen, dass ich hier nicht folgen kann. Die Oktavierung der sforzati ist doch ein singuläres Phänomen, die umgebende Basslinie ist einstimmig notiert. In der neuen Urtextausgabe, die ich mit Murray Perahia herausgebe, haben wir diese Ergänzungen nicht übernommen.
Noch mutiger: Im langsamen Satz der Sonate op. 7 findet sich in Takt fünf eine Basslinie, von der man ebenfalls vermuten könnte, dass sie lediglich dem eingeschränkten Umfang der Tastatur geschuldet ist:
Sollte man das vielleicht heute so spielen?
Und ich lege noch ein Beispiel nach, an der Grenze zur Blasphemie. Sie kennen den Beginn der Sonate op. 10 Nr. 3?
Das können wir doch heute so spielen:
Glauben Sie mir, ich kann Ihr Entsetzen schon beim Schreiben dieser Zeilen spüren, und ich stimme Ihnen natürlich völlig zu. Aber ich wollte die Extreme des Problems präsentieren, um klarzumachen, dass es – wie immer – auch auf die Frage nach möglichen Ergänzungen in der Tiefe keine einfache Antwort gibt. Wann machte Beethoven aus der Not eine Tugend? Nur das intensive Studium der Musik in ihrem ganzen Detailreichtum und ihrer vollen Bedeutung kann dem Interpreten eine Antwort an die Hand geben, die von Fall zu Fall, von Musiker zu Musiker, unterschiedlich ausfallen wird.
Nachdem Beethoven übrigens den Tonraum mit der Sonate op. 101 bewusst erweitert hatte, fiel es ihm nicht immer ganz leicht, die früheren Beschränkungen zu vergessen. Noch in der Sonate op. 109 von 1820, die schon im 1. Satz bis zum Dis1 hinuntergeht, findet sich folgende Stelle, die zuweilen zur Ergänzung anregt:
Sollten die Oktaven nicht, wie es vorher die Parallelstelle eine Quinte höher umsetzte, bis zum tiefen H2 gehen? Aber Vorsicht, nicht nur sind die tiefen Töne durch den 1. Satz etabliert und man müsste sich fragen, warum Beethoven das hier vergisst. Auch spricht in folgendem, ebenfalls gerne ergänztem Beispiel, die Dynamik gegen eine simple Lösung:
Selbst in der Hammerklaviersonate op. 106, die in jeglicher Hinsicht etablierte Dimensionen sprengte, hielt sich Beethoven erstaunlicherweise an die überholte Grenze des F1, auch an Stellen, an denen man etwas anderes erwarten würde (etwa 1. Satz T. 262 und 2. Satz T. 104). Erst in der Schlussfuge kommen dann alle zur Verfügung stehenden tiefen Töne in vollem Umfang zum Einsatz, wie auch später in den letzten Sonaten op. 110 und op. 111.
Nach dieser Notenbeispiel-Schlacht, in der ich mich bewusst nur auf die Erweiterung in der Tiefe konzentriert habe, zum Abschluss noch ein Beispiel für Einschränkungen in der Höhe (bis f4). Sie haben uns in der „Sturm“-Sonate zwei wundervolle „Ersatz“-Lösungen beschert, auf die niemand, wirklich niemand, zugunsten einer nun möglichen unveränderten Wiederholung der Parallelstellen in höherer Lage verzichten kann. Ich zeige jeweils die entsprechenden Ausschnitte aus Exposition und Reprise des 1. bzw. 3. Satzes:
Nur zur Klarstellung: Ich bin rigoros gegen jegliche Veränderung gegen die Quellen in diesem Sinne! Und Sie?
Der Artikel behandelt ein wirklich interessantes Thema mit Humor und Sachkenntnis. Letztlich ist aber alles, wie sicher auch der Verfasser meint, eine Frage des Geschmacks und der Stilempfindung und weniger des “Dürfens”. Ich höre lieber eine Sonate mit einem Pianisten, der vielleicht mal etwas umstrittenes spielt, aber insgesamt mit Ausdruck, Klangschönheit, Temperament und Einfühlsamkeit begeistert, als einen “trockenen Akademiker”, der vielleicht alle Verzierungen u.a. “richtig” macht (wobei häufig das “Richtigmachen” doch umstritten ist). Erinnert sei auch an den schönen Spruch: Quod licet Iovi, non licet bovi. Also auf die Kunst sinngemäß übertragen: Was einem wahrhaften Meister zukommt, darf ein “Unbedarfter” noch lange nicht. (Wie genau doch die deutsche Sprache sein kann.)
Konkrete Ergänzung zu einer Stelle: im 2.Satz op.53 würde ich schon empfehlen, die E-Oktave links unten zu ergänzen. (in Urtextausgabe natürlich mit entsprechender Anmerkung)
Das gleiche Problem stellt sich auch bei den Orchesterwerken. Darf man offensichtliche Notlösungen bei Trompeten und Hörnern, die damals noch keine Ventile hatten, und Themen häufig nur rudimentär andeuten konnten, heute, wo die Instrumente alle Töne spielen können, “verbessern”?
Ein sehr schöner Artikel, der einen das Nachdenken lehrt. Einen weiteren, hier unerwähnten, Gesichtspunkt möchte ich dabei noch beitragen: Nämlich die Klangbalance, die gerade bei besonders hohen oder tiefen Registern deutlich gestört werden kann. (Selbstverständlich wiederum unter dem Gesichtspunkt, dass die Balance auf den damaligen Instrumenten noch ein Stück anders gelagert war.) Dieses Argument spricht aber eindeutig gegen Änderungen bei op. 10/3 und op. 109: Ein “staccato” wie zu Beginn der 10/3 ist in der tiefsten Lage des Klaviers nicht machbar (das Thema würde infolgedessen auch den gewissermaßen “sportlichen” Vorwärtscharakter verlieren – außerdem lässt Beethoven ja auch ab der zweiten Doppeloktave ohne solche Not die mittlere Note aus, vermutlich, um den Klang eben noch durchsichtiger zu machen). Bei der angesprochenen Stelle in op. 109 würde die sich in den höchsten Diskant emporschraubende Oberstimme von den tiefen Oktaven auch förmlich erschlagen. So passt sich Beethoven durch seinen Klaviersatz eben nicht nur den technischen, sondern auch den klanglichen Bedingungen der Instrumente an, und eine Änderung würde das klangliche Resultat deutlich verfälschen.