Es war bereits im Septemer 2015, als der Geschäftsführer des G. Henle Verlags, Dr. Wolf-Dieter Seiffert, und Prof. Friedemann Eichhorn, Direktor des Kronberg Academy Masters, Pläne schmiedeten, Gidon Kremer zu seinem 70. Geburtstag mit einer Sonderedition zu ehren. Es war beiden ein Anliegen, den Ausnahmemusiker mit einer Henle-Urtextausgabe zu feiern, die Gidon Kremers künstlerische Ambitionen widerspiegeln sollte. Etwas Besonderes sollte es also sein, das gleichzeitig dem klassischen Profil unseres Kataloges entsprach. Friedemann Eichhorn gelang es, Gidon Kremer „ins Boot“ zu holen, und vor ungefähr einem Jahr stand das Projekt: Es sollte eine Ausgabe des Violinkonzerts von Ludwig van Beethoven werden, basierend auf dem Henle-Urtext. Zur Gidon Kremer Edition wurde die Ausgabe durch die persönliche Handschrift des Geigers. So steuerte Kremer Fingersatz und Strichbezeichnungen für die Violinstimme bei, stellte einen Essay über Beethoven-Interpretation zur Verfügung und wählte selbst Kadenzen aus, die ihm besonders am Herzen lagen. Entstanden ist auf diese Weise eine einzigartige Ausgabe, die es nun jedem Geiger ermöglicht, sich mit der persönlichen Sicht Gidon Kremers auf dieses vielleicht großartigste Violinkonzert der Musikgeschichte auseinanderzusetzen. Zu dieser persönlichen Note, die, und darauf legt Gidon Kremer großen Wert, immer ganz im Dienst des Werkes stehen soll, konnte Friedemann Eichhorn mit Gidon Kremer ein kurzes Interview führen:
Friedemann Eichhorn (FE): Lieber Gidon, was bedeutet Beethoven für dich?
Gidon Kremer (GK): Eine nahezu unerreichbare Höhe des menschlichen Geistes. Abgesehen davon ist sein Violinkonzert das wichtigste, schönste, schwerste Konzert der gesamten Violin-Literatur.
FE: Welche Rolle spielt das Violinkonzert in deiner Lebensgeschichte?
GK: Ich begann damit eher „spät“ (im Vergleich zu den vielen jungen virtuosen Geigern unserer Zeit) im Jahre 1974, als ich immerhin schon 27 Jahre alt war. Ich war mir der enormen Herausforderung, dieses Werk zu spielen (wie etwa auch die Sonaten und Partiten Bachs) immer bewusst und bin es noch heute. Und doch gelangen mir gemeinsam mit wichtigen Orchestern innerhalb der letzten 40 Jahre einige „Lesungen“, die mich nicht nur inspirierten (ich muss hier vor allem an Nikolaus Harnoncourt denken), sondern als Beweis dienten, dass es doch „spielbar“ ist.
FE: Welches Ziel verfolgst du bei deiner Strich- und Fingersatzeinrichtung?
GK: Als das Projekt an mich herangetragen wurde, war dies eine Aufgabe, der ich nicht widerstehen konnte. Keinesfalls um mich zu „bestätigen“ oder meine Art des Zugangs zu verbreiten. Vielmehr sehe ich diese Ausgabe in ähnlichem Licht wie meine Konzerte, Aufnahmen und sonstigen Projekte. Es steht immer der Wunsch dahinter, meine Erfahrungen und Gefühle mit anderen zu teilen. Jeder soll animiert werden eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Was mich eher enttäuschen würde, wäre eine direkte „Übernahme“ meiner Vorschläge. Jeder Geiger – wie jeder Mensch – hat seinen eigenen Weg zu gehen.
FE: Du hast ganz besondere Kadenzen gewählt, welche Gedanken stehen dahinter?
GK: Ich habe in meinem Leben viele Kadenzen (klassische und moderne) gespielt und mehrmals selber versucht die Originalkadenzen Beethovens, die er für die Klavierfassung des Konzertes komponierte, der Violine anzupassen. Denn besser als Beethoven selbst kann man wohl kaum eine Kadenz konzipieren.
Es gibt aber eine Ausnahme, die mich weiterhin überzeugt: Ich meine die oft von mir vorgetragene Kadenz Alfred Schnittkes. Alfred ist es auf bewundernswürdige Art gelungen, eine kunstvolle Hommage an Beethoven und gleichzeitig an die Geschichte seit der Entstehung des Werks zu komponieren.
Die Original-Kadenzen Beethovens ließen mich aber nie in Ruhe und so bat ich meinen lieben Freund Victor Kissine – einen außerordentlichen Komponisten unserer Zeit – die Kadenz zum 1. Satz für die Violine einzurichten und somit eine neue Übertragung des Beethoven-Textes zu wagen. Ich glaube sie ist ihm glänzend gelungen! Ich bin glücklich, dass sein Werk (das ich vor Kurzem in Zürich und auf einer Asien-Tournee des Tonhalle–Orchesters unter David Zinman gespielt habe) nun in der Ausgabe des G. Henle Verlags seinen Erstdruck erlebt.
FE: Du hast einen Essay über Beethoven-Interpretationen geschrieben, der in der Edition im Anschluss an „deine“ Violinstimme abgedruckt ist. Was ist dir am wichtigsten bei der musikalischen Auseinandersetzung mit einer Komposition?
GK: Mich bewegt immer eines – den Geist eines Werks zu erkennen und ihm zu dienen.
Für das Beethoven-Konzert gibt es (und das wird sich wohl nie ändern) endlose Möglichkeiten dem Geheimnis der Komposition nachzulauschen und es auszuleuchten. Mein bescheidener Versuch ist nur einer der vielen Versuche einer möglichen „Annäherung“.
Diese „Annäherung“ Gidon Kremers an das Beethoven-Konzert ist nun in der auch optisch besonders gestalteten Ausgabe für jedermann greifbar geworden. Wolf-Dieter Seiffert wird sie am 11. Mai in Kronberg im Rahmen eines Konzertes dem Jubilar feierlich überreichen.
Der G. Henle Verlag gratuliert Maestro Kremer damit auf das herzlichste zu seinem 70. Geburtstag!
Abschließend bleibt nur zu danken: Gidon Kremer für die hervorragende Zusammenarbeit und die Bereitstellung seiner Beiträge, Victor Kissine für seine außergewöhnliche Kadenz, Friedemann Eichhorn für seine Hilfe und seinen unermüdlichen Einsatz sowie der Kronberg Acadamy für die Förderung des Projektes.