Mos­kau, St. Pe­ters­burg, Ros­tow am Don, Sa­ra­tow, Smo­lensk, Wo­ro­nesch – was haben diese rus­si­schen Städ­te ge­mein­sam? Nein, es sind nicht die Aus­tra­gungs­or­te der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft, die ge­ra­de in Russ­land be­gon­nen hat…

Ser­gej Rach­ma­ni­now (1873–1943)

Die Ant­wort ist viel­leicht etwas un­spek­ta­ku­lär: All diese Orte be­such­te Ser­gej Rach­ma­ni­now Ende 1913 im Zuge einer Kon­zert­tour­nee durch das rus­si­sche Kai­ser­reich, bei der er von An­fang Ok­to­ber bis An­fang De­zem­ber Kla­vier­aben­de mit ei­ge­nen Kom­po­si­tio­nen in ins­ge­samt 24 Städ­ten gab.

Das ist für uns heute in­so­fern in­ter­es­sant, als Rach­ma­ni­now kurz zuvor seine große Kla­vier­so­na­te Nr. 2 b-moll op. 36 voll­endet hatte, si­cher eines der Schlüs­sel­wer­ke in sei­nem Schaf­fen und bis heute viel­ge­liebt und -ge­spielt (und in we­ni­gen Wo­chen end­lich im Hen­le-Ur­text er­hält­lich!). Das ganze Jahr 1913 über hatte Rach­ma­ni­now an die­sem Werk ge­ar­bei­tet und am 18. Sep­tem­ber voll­endet, wenn man der Da­tie­rung auf der letz­ten Seite des Au­to­graphs folgt. (In einer 1917 zusammen­ge­stellten Werk­lis­te no­tier­te Rach­ma­ni­now da­ge­gen zur 2. So­na­te als Ent­ste­hungs­zeit „Ja­nu­ar–Au­gust 1913“, aber viel­leicht un­ge­nau aus der Er­in­ne­rung.)

Es liegt auf der Hand, dass Rach­ma­ni­now seine brand­neue Kom­po­si­ti­on dem Pu­bli­kum in den Kon­zer­ten der er­wähn­ten Russ­land-Tour­nee vor­stell­te – aber wo zu­erst, denn seine Pro­gram­me waren nicht jeden Abend iden­tisch? Wel­che Stadt kann sich tat­säch­lich mit der Ur­auf­füh­rung der 2. Kla­vier­so­na­te durch den Kom­po­nis­ten höchst­per­sön­lich schmü­cken?

Ti­tel­blatt der Erst­aus­ga­be, Mos­kau: Gut­heil, 1914

Auf diese in­ter­es­san­te Frage stieß ich im Rah­men mei­ner Neue­di­ti­on der So­na­te. In der west­li­chen Li­te­ra­tur zu Rach­ma­ni­now fin­det sich in der Regel die An­ga­be, dass die Pre­mie­re der So­na­te op. 36 am 3. De­zem­ber 1913 in Mos­kau statt­fand (nach dem rus­si­schen Ka­len­der da­tiert, was im west­li­chen gre­go­ria­ni­schen Ka­len­der dem 16. De­zem­ber ent­spricht). Die­ses Ur­auf­füh­rungs­da­tum fin­det sich z.B. in den wich­ti­gen Rach­ma­ni­now-Bio­gra­phi­en von Max Har­ri­son (Rach­ma­ni­n­off. Life, Works, Re­cor­dings, Lon­don/New York 2005, S. 194) und Ge­off­rey Nor­ris (Rach­ma­ni­n­off, New York 1994, S. 171). Auch das Werk­ver­zeich­nis von Ro­bert Threl­fall und Ge­off­rey Nor­ris (A Ca­ta­lo­gue of the com­po­si­ti­ons of S. Rach­ma­ni­n­off, Lon­don 1982, S. 115) nennt den glei­chen Ter­min, ist aber im­mer­hin so vor­sich­tig, nur von einer „per­for­mance“ zu spre­chen, nicht der „first per­for­mance“.

Hin­ge­gen gibt etwa Kim An­d­rei Lasa­ren­ko in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on (A Style Chan­ge in Rach­ma­ni­n­off’s Piano Music as Seen in the Se­cond Piano So­na­ta in B-Flat Minor, Opus 36 (1913 and 1931 Ver­si­ons), Ohio State Uni­ver­si­ty 1988, S. 16) St. Pe­ters­burg als Ur­auf­füh­rungs­ort an, nennt als Datum aber nur „in De­cem­ber“; seine Quel­le ist Ge­or­ge Keh­lers Kom­pen­di­um The piano in con­cert. Lasa­ren­kos Da­tie­rung wird auch vom eng­li­schen Wi­ki­pe­dia-Ein­trag zur So­na­te über­nom­men (Stand 18. 6. 2018).

Lei­der neh­men diese west­li­chen Pu­bli­ka­tio­nen nicht die seit lan­gem be­kann­ten Er­geb­nis­se der rus­si­schen Mu­sik­for­schung zur Kennt­nis, die auf diese und viele an­de­re Fra­gen zur Bio­gra­phie Rach­ma­ni­nows genau Aus­kunft geben kön­nen. So sind in der von Zarui Apet­jan her­aus­ge­ge­be­nen drei­bän­di­gen Text- und Ma­te­ri­al­samm­lung S. Rachma­ninov. Li­te­ra­tur­noe nas­le­die (=Li­te­ra­ri­scher Nach­lass, Mos­kau 1978–1980) auch aus­führ­li­che Ta­bel­len mit Kon­zert­ter­mi­nen und Werkauf­füh­rungs­da­ten ent­hal­ten. Aus ihr geht her­vor, dass die Ur­auf­füh­rung der So­na­te op. 36 be­reits am 5. Ok­to­ber 1913 (russ. Ka­len­der) im Saal der Adels­ver­samm­lung in Kursk statt­fand, also gleich im ers­ten Kon­zer­t­ort der Tour­nee Rach­ma­ni­nows (vgl. Li­te­ra­tur­noe nas­le­die, Bd. 2, S. 396 und Bd. 3, S. 443). Erst ei­ni­ge Wo­chen spä­ter spiel­te der Kom­po­nist seine So­na­te auch in St. Pe­ters­burg und zum Ab­schluss der Tour­nee in Mos­kau.

Als Hen­le-Lek­tor ist man al­ler­dings ge­wohnt, keine In­for­ma­ti­on un­ge­prüft zu über­nehmen, und so such­te ich nach hand­fes­ten zeit­ge­nös­si­schen Be­le­gen, dass in Kursk die So­na­te op. 36 auch tat­säch­lich ge­spielt wurde. Glück­li­cher­wei­se konn­te ich in rus­si­schen Bi­blio­the­ken noch Ex­em­pla­re von Kurs­ker Lo­kal­zei­tun­gen aus dem Jahr 1913 aus­fin­dig ma­chen und Re­pro­duk­tio­nen er­hal­ten. Und meine Freu­de war groß, als mir von der Ti­tel­sei­te der Ta­ges­zei­tung Kurs­ka­ja Byl’ vom 5. Ok­to­ber 1913 der Name Rach­ma­ni­nows ent­ge­gen­sprang…

Kurs­ka­ja Byl' , 5. 10. 1913. An­kün­di­gung von Rach­ma­ni­nows Kon­zert am glei­chen Abend, auf dem Pro­gramm u. a. die Kla­vier­so­na­te op. 36.

End­gül­ti­ge Ge­wiss­heit ver­schaff­te mir dann eine Kon­zert­be­spre­chung in der glei­chen Zei­tung vom 8. Ok­to­ber 1913, die be­legt, dass die So­na­te nicht nur an­ge­kün­digt, son­dern auch tat­säch­lich auf­ge­führt wurde.

So sind also ein­mal nicht die Me­tro­po­len Mos­kau und St. Pe­ters­burg Schau­platz eines mu­si­ka­li­schen Er­eig­nis­ses ge­we­sen, son­dern die etwa 500 km süd­lich von Mos­kau ge­le­ge­ne In­dus­trie­stadt Kursk. Diese Er­kenntnis über den kor­rek­ten Ur­auf­füh­rungs­ter­min und -ort der So­na­te op. 36 ist si­cher nicht weltbe­wegend, aber bei einem so be­deu­ten­den Werk der Klavier­literatur darf man ruhig etwas pe­ni­bler sein, wenn es um De­tails geht – nicht nur bei der Edi­ti­on des No­ten­texts…

Üb­ri­gens: Die 1931 von Rach­ma­ni­now re­vi­dier­te Fas­sung der So­na­te (die in un­se­rer Edi­ti­on na­tür­lich auch voll­stän­dig ab­ge­druckt wird) stell­te der Kom­po­nist erst­mals auf einem Kla­vier­abend in Port­land (Maine) am 10. De­zem­ber 1931 vor (vgl. Li­te­ra­tur­noe nas­le­die, Bd. 2, S. 530 u. 536). Auch hier zog es Rach­ma­ni­now also zu­erst in die „Pro­vinz“, bevor er die So­na­te zwei Tage spä­ter in New York auf­führ­te.

Und was es über­haupt mit den zwei ver­schie­de­nen Fas­sun­gen der So­na­te auf sich hat, davon soll mein nächs­ter Blog­bei­trag han­deln…

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2 Antworten auf »Zur Uraufführung von Sergej Rachmaninows 2. Klaviersonate op. 36«

  1. tassilo jelde sagt:

    guten tag, herr rahmer.
    ist diese 2.sonate diejenige, an deren instrumentierung rachmaninoff lt. eigener aussage gescheitert ist?
    für einen hinweis wäre ihnen dankbar
    mfg
    tassilo jelde

    • Eine solche Aussage ist mir nicht bekannt; welche Instrumentierung sollte er bei einem Klavierwerk gemeint haben? Selbstkritische Äußerungen zu eigenen Orchestrierungen kenne ich nur zum 1.Klavierkonzert op.1, das er daher 1917 revidierte bzw. umkomponierte.

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