Moskau, St. Petersburg, Rostow am Don, Saratow, Smolensk, Woronesch – was haben diese russischen Städte gemeinsam? Nein, es sind nicht die Austragungsorte der Fußballweltmeisterschaft, die gerade in Russland begonnen hat…
Die Antwort ist vielleicht etwas unspektakulär: All diese Orte besuchte Sergej Rachmaninow Ende 1913 im Zuge einer Konzerttournee durch das russische Kaiserreich, bei der er von Anfang Oktober bis Anfang Dezember Klavierabende mit eigenen Kompositionen in insgesamt 24 Städten gab.
Das ist für uns heute insofern interessant, als Rachmaninow kurz zuvor seine große Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 36 vollendet hatte, sicher eines der Schlüsselwerke in seinem Schaffen und bis heute vielgeliebt und -gespielt (und in wenigen Wochen endlich im Henle-Urtext erhältlich!). Das ganze Jahr 1913 über hatte Rachmaninow an diesem Werk gearbeitet und am 18. September vollendet, wenn man der Datierung auf der letzten Seite des Autographs folgt. (In einer 1917 zusammengestellten Werkliste notierte Rachmaninow dagegen zur 2. Sonate als Entstehungszeit „Januar–August 1913“, aber vielleicht ungenau aus der Erinnerung.)
Es liegt auf der Hand, dass Rachmaninow seine brandneue Komposition dem Publikum in den Konzerten der erwähnten Russland-Tournee vorstellte – aber wo zuerst, denn seine Programme waren nicht jeden Abend identisch? Welche Stadt kann sich tatsächlich mit der Uraufführung der 2. Klaviersonate durch den Komponisten höchstpersönlich schmücken?
Auf diese interessante Frage stieß ich im Rahmen meiner Neuedition der Sonate. In der westlichen Literatur zu Rachmaninow findet sich in der Regel die Angabe, dass die Premiere der Sonate op. 36 am 3. Dezember 1913 in Moskau stattfand (nach dem russischen Kalender datiert, was im westlichen gregorianischen Kalender dem 16. Dezember entspricht). Dieses Uraufführungsdatum findet sich z.B. in den wichtigen Rachmaninow-Biographien von Max Harrison (Rachmaninoff. Life, Works, Recordings, London/New York 2005, S. 194) und Geoffrey Norris (Rachmaninoff, New York 1994, S. 171). Auch das Werkverzeichnis von Robert Threlfall und Geoffrey Norris (A Catalogue of the compositions of S. Rachmaninoff, London 1982, S. 115) nennt den gleichen Termin, ist aber immerhin so vorsichtig, nur von einer „performance“ zu sprechen, nicht der „first performance“.
Hingegen gibt etwa Kim Andrei Lasarenko in seiner Dissertation (A Style Change in Rachmaninoff’s Piano Music as Seen in the Second Piano Sonata in B-Flat Minor, Opus 36 (1913 and 1931 Versions), Ohio State University 1988, S. 16) St. Petersburg als Uraufführungsort an, nennt als Datum aber nur „in December“; seine Quelle ist George Kehlers Kompendium The piano in concert. Lasarenkos Datierung wird auch vom englischen Wikipedia-Eintrag zur Sonate übernommen (Stand 18. 6. 2018).
Leider nehmen diese westlichen Publikationen nicht die seit langem bekannten Ergebnisse der russischen Musikforschung zur Kenntnis, die auf diese und viele andere Fragen zur Biographie Rachmaninows genau Auskunft geben können. So sind in der von Zarui Apetjan herausgegebenen dreibändigen Text- und Materialsammlung S. Rachmaninov. Literaturnoe nasledie (=Literarischer Nachlass, Moskau 1978–1980) auch ausführliche Tabellen mit Konzertterminen und Werkaufführungsdaten enthalten. Aus ihr geht hervor, dass die Uraufführung der Sonate op. 36 bereits am 5. Oktober 1913 (russ. Kalender) im Saal der Adelsversammlung in Kursk stattfand, also gleich im ersten Konzertort der Tournee Rachmaninows (vgl. Literaturnoe nasledie, Bd. 2, S. 396 und Bd. 3, S. 443). Erst einige Wochen später spielte der Komponist seine Sonate auch in St. Petersburg und zum Abschluss der Tournee in Moskau.
Als Henle-Lektor ist man allerdings gewohnt, keine Information ungeprüft zu übernehmen, und so suchte ich nach handfesten zeitgenössischen Belegen, dass in Kursk die Sonate op. 36 auch tatsächlich gespielt wurde. Glücklicherweise konnte ich in russischen Bibliotheken noch Exemplare von Kursker Lokalzeitungen aus dem Jahr 1913 ausfindig machen und Reproduktionen erhalten. Und meine Freude war groß, als mir von der Titelseite der Tageszeitung Kurskaja Byl’ vom 5. Oktober 1913 der Name Rachmaninows entgegensprang…
Endgültige Gewissheit verschaffte mir dann eine Konzertbesprechung in der gleichen Zeitung vom 8. Oktober 1913, die belegt, dass die Sonate nicht nur angekündigt, sondern auch tatsächlich aufgeführt wurde.
So sind also einmal nicht die Metropolen Moskau und St. Petersburg Schauplatz eines musikalischen Ereignisses gewesen, sondern die etwa 500 km südlich von Moskau gelegene Industriestadt Kursk. Diese Erkenntnis über den korrekten Uraufführungstermin und -ort der Sonate op. 36 ist sicher nicht weltbewegend, aber bei einem so bedeutenden Werk der Klavierliteratur darf man ruhig etwas penibler sein, wenn es um Details geht – nicht nur bei der Edition des Notentexts…
Übrigens: Die 1931 von Rachmaninow revidierte Fassung der Sonate (die in unserer Edition natürlich auch vollständig abgedruckt wird) stellte der Komponist erstmals auf einem Klavierabend in Portland (Maine) am 10. Dezember 1931 vor (vgl. Literaturnoe nasledie, Bd. 2, S. 530 u. 536). Auch hier zog es Rachmaninow also zuerst in die „Provinz“, bevor er die Sonate zwei Tage später in New York aufführte.
Und was es überhaupt mit den zwei verschiedenen Fassungen der Sonate auf sich hat, davon soll mein nächster Blogbeitrag handeln…
guten tag, herr rahmer.
ist diese 2.sonate diejenige, an deren instrumentierung rachmaninoff lt. eigener aussage gescheitert ist?
für einen hinweis wäre ihnen dankbar
mfg
tassilo jelde
Eine solche Aussage ist mir nicht bekannt; welche Instrumentierung sollte er bei einem Klavierwerk gemeint haben? Selbstkritische Äußerungen zu eigenen Orchestrierungen kenne ich nur zum 1.Klavierkonzert op.1, das er daher 1917 revidierte bzw. umkomponierte.