Viele Urtextausgaben und deren Quellen wandern über den Tisch eines Lektors im G. Henle Verlag – aber selten hat man es mit einer derart umfassenden Quellendokumentation zu tun, wie dies bei Elgars Violinsonate der Fall ist. Fast jeder Entstehungsschritt des Werkes lässt sich heute noch nachvollziehen, und dennoch standen Herausgeber und Lektor auch bei der Vorbereitung dieser Ausgabe immer wieder vor ungelösten Fragen – wie konnte das sein?
Elgars Frau Alice vermerkt im August 1918 in ihrem Tagebuch: „E. schreibt wunderbare neue Musik, sie ist ganz anders als seine übrigen Werke. A. [damit meint Alice sich offenbar selbst] nennt sie Waldzauber. So flüchtig und zart.“ Der Beginn der Arbeit an diesem „Waldzauber“ ist in Skizzenmaterial festgehalten. Man sieht förmlich, wie Elgar zunächst zentrale Themen festhielt, die er erst später weiter ausarbeiten wollte. Vor der ersten Akkolade der offenbar ersten Skizze findet man Elgars Hinweis: „1. idea“. Diese „erste Idee“ besteht aus den Eingangstakten des Kopfsatzes, und es hat den Anschein, als habe sich Elgar tatsächlich von „vorn nach hinten“ durch die ganze Sonate gearbeitet. Die Skizzen zum 2. Satz spielten dabei eine besondere Rolle, denn dort hielt Elgar Musik fest, in der er auf traurige Nachrichten aus seinem Freundeskreis reagierte (ein Todes- und ein Krankheitsfall). Es handelt sich hier also um Bekenntnismusik, die Elgar – ein ungewöhnlicher Fall – im Skizzenstadium an die bei einem Unfall verletzte Freundin schickte, um sie an der Komposition Anteil nehmen zu lassen: „Ich habe sie [die Musik] gleich nach Erhalt Ihres Telegramms zum Unfall geschrieben & schicke Ihnen die Bleistiftnotizen, die ich in diesem traurigen Moment als Erstes verfasst habe“. Die heute noch erhaltenen Skizzen sind also tatsächlich Momentaufnahmen, die uns einen Einblick in Elgars Werkstatt gewähren.
Aus den Skizzen muss sich schon ziemlich bald die vollständige Sonate entwickelt haben, denn bereits im September spielte Elgar das Werk mit dem befreundeten Geiger William Henry Reed durch. Dafür erstellte er autographe Reinschriften, und zwar sowohl von der Klavierpartitur mit überlegter Violinstimme als auch von der separaten Violinstimme. Für diese Reinschrift brauchte Elgar allerdings mehrere Anläufe, denn es sind autographe Entwürfe erhalten, die sozusagen zwischen Skizze und Reinschrift stehen, und zwar vom zweiten Satz (Violinstimme) und vom dritten Satz (Klavierpartitur und Violinstimme). Diese Entwürfe beginnen durchaus reinschriftlich, aber man sieht förmlich, wie Elgar zu korrigieren beginnt, streicht, neu schreibt und schlussendlich das gesamte Manuskript verwirft.
Um inmitten der vielen Manuskripte nicht den Überblick zu verlieren, hielt Elgar schließlich auf den Titelblättern jeweils den aktuellen Korrekturstand fest und notierte etwa „corrected“ oder „not revised“.
Damit nicht genug. Die Durchspielproben mit William Henry Reed setzten einen erneuten Korrekturprozess in Gang. Die Reinschriften enthalten zahlreiche Rasuren, Korrekturen in Tinte, aber auch in verschiedenen Rotstiften und mit Blaustift. Auch verschiedene Hände sind nachweisbar: Es scheint, als habe sowohl Elgar als auch Reed Eintragungen gemacht. Um die Verwirrung komplett zu machen, unterscheiden sich die Korrekturstände der separaten Violinstimmen von denjenigen der überlegten Violinstimmen in den Klavierpartituren.
Und dennoch entschied Elgar, diese Reinschriften als Stichvorlagen an den Verlag Novello zu schicken. Um jeweils klarzustellen, welche Vorlage gültig ist, finden sich auf den Titelblättern der Reinschriften zusätzliche Hinweise für den Verlag, etwa: „bowing incorrect | engrave from score“, oder ähnlich. Und Elgar ging sogar einen Schritt weiter: Sogar um gute Wendestellen kümmerte er sich, indem er festhielt: „to printer: […] As to ‚turn over‘ see pp 3&4, turns over might come anywhere where this mark is placed.“
Wir sehen in diesen Autographen einen Komponisten, der sein Werk nicht nur immer wieder minutiös korrigierte, sondern auch die maximale Kontrolle über den gesamten Herstellungsprozess in seiner Hand halten wollte. Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Aus den Unterschieden zwischen den Autographen und der Erstausgabe wird deutlich, dass Elgar sehr gründlich Fahnenkorrekturen las und sogar in diesem Stadium Details veränderte, Zeichen ergänzte und z.B. Dynamikangaben präzisierte. Ein solcher Satz an Korrekturfahnen mit Elgars Eintragungen ist glücklicherweise überliefert. Dieser Abzug erklärt aber nicht alle Änderungen zwischen Autograph und publizierter Erstausgabe. Vergleicht man die Lesarten Autograph – Korrekturabzug – Erstausgabe, so ergibt sich zwingend, dass Elgar zwei weitere Fahnensätze Korrektur gelesen hat und dass unter diesen drei Fahnenkorrekturen die erhaltene die mittlere Position einnimmt.
Wie eingangs erwähnt: eine derart vollständige Dokumentation des Entstehungsprozesses eines Werkes ist eher selten. Die von Elgar schließlich autorisierte Erstausgabe, erschienen 1919, bietet daher einen präzisen und durch alle übrigen Quellen abgesicherten Notentext. Ist das aber auch ein Notentext, der keine Wünsche offen lässt? Wenn ich schon so frage, dann wohl kaum. Hier ein paar Beispiele:
An zwei Stellen stehen in der autographen Reinschrift im Klavierpart Haltebögen, die es aber nicht in die Druckfassung geschafft haben. Ein Versehen Elgars? Hätte er bei drei Korrekturlesungen diesen Bogen tatsächlich übersehen? Ich fände den Haltebogen jeweils pianistisch/musikalisch überzeugender – und Sie?
In T. 271/272 des 1. Satzes stehen in der autographen Reinschrift für die linke Hand die folgenden Fingersätze
Sind sie im Druck absichtlich weggefallen? Sollten sie „nur“ ein Hinweis darauf sein, dass der Bogen nicht als Halte-, sondern als Legatobogen zu spielen ist? Ist dann in der Erstausgabe nicht Information verloren gegangen? Oder verhält es sich umgekehrt: Elgar meinte doch Haltebögen und hat daher den Fingersatz im Druck getilgt, um Missverständnisse zu vermeiden?
Und schließlich die Dynamik in der Violine ganz am Ende der Sonate. Hier steht in der autographen Klavierpartitur in der autographen Violinstimme
In der gedruckten Klavierpartitur steht
(diese Lesart wurde im Korrekturabzug nicht geändert), in der gedruckten Violinstimme schließlich steht
Was gilt? Hat Elgar hier trotz aller Bemühungen die Kontrolle über die verschiedenen Korrekturstadien verloren?
All diese Fragen werden in der neuen Urtextausgabe, die gegen Ende des Jahres erhältlich sein wird, thematisiert und an alle Geiger und Elgar-Fans weitergegeben. Einen wunderbaren Höreindruck bekommen Sie beispielsweise hier.