Der Erfolg eines neuen Bühnenwerks hängt bis heute wesentlich davon ab, ob sich einzelne Szenen, Ensembles oder Lieder so stark einprägen, dass sie zu Ohrwürmern werden. Die anhaltende Popularität von Georges Bizets Carmen verdankt sich zweifellos ein Stück weit solchen einprägsamen Nummern, an denen es der Oper bekanntlich nicht mangelt. Die Premiere am 3. März 1875 in der Pariser Opéra-Comique und die Wiederholungen unmittelbar danach brachten zwar nicht den erhofften großen Erfolg, aber ab Herbst 1875 begann ein beispielloser Triumphzug über die europäischen Bühnen – den der drei Monate nach der Uraufführung gestorbene Bizet allerdings nicht mehr erleben konnte.
Von Anfang an gehörte die Habanera, Carmens Auftrittslied „L’amour est un oiseau rebelle“ („Die Liebe ist ein wilder Vogel“), zu den populärsten Nummern der Oper. So nimmt es nicht Wunder, dass Pablo de Sarasate sie in seiner 1881 komponierten Carmen-Fantasie für Violine und Klavier (oder Orchester) an prominenter Stelle, als Nr. I nach der Introduktion, berücksichtigte. Sarasate wählte ohnehin Nummern aus, die in besonderer Weise für das spanische Kolorit von Bizets Oper einstehen – und da durfte die Habanera umso weniger fehlen, als ihre Melodie auf ein originales spanisches Lied, auf Sebastián de Iradiers El arreglito, zurückgeht (El arreglito war im 19. Jahrhundert etwa genauso populär wie es Iradiers zweiter großer Liederfolg, La Paloma, im 20. Jahrhundert wurde).
Sarasate arbeitete in seinen Opernfantasien in der Regel nach dem Modell von Thema und Variationen. Dementsprechend ließ er die Nummer nahezu originalgetreu beginnen, fügte lediglich für die Violinstimme Vorschlagsnoten hinzu und belebte die Achteltriolen durch Oktavversetzung der mittleren Note:
Nach dem Wechsel von d-moll nach D-dur (ab Takt 20) variierte Sarasate das Thema, indem er die chromatisch absteigende Melodie in Doppel- und Tripelgriffe einbettete.
Bei der Vorbereitung der kürzlich erschienenen Urtext-Edition der Carmen-Fantasie machte mich Augustin Hadelich, der die Bezeichnung der Solostimme übernahm, darauf aufmerksam, dass die Geiger in diesem Abschnitt (Takte 20–28) häufig eine kantable Gegenmelodie zum im Klavier oder Orchester wiederholten Thema spielen würden, und zwar die Melodie von Carmens Wiederholungen des zentralen Wortes „L’amour“ in Bizets Original, lediglich in der Tondauer verlängert und eine Oktave höher gesetzt. Diese Variante war mir zwar auch aufgefallen, aber, wie sich nun zeigte, hatte ich das Ausmaß ihrer Verbreitung unterschätzt.
Weder in den handschriftlichen noch in den gedruckten Quellen zur Carmen-Fantasie taucht diese Variante auf; sie stammt also mit Sicherheit nicht von Sarasate selbst. Wie und wann ist sie dann aber in Sarasates Komposition hineingekommen? Bei der Durchsicht anderer Violin-Fantasien über Bizets Carmen stieß ich schnell auf Franz Waxmans 1946 komponierte Carmen Fantasie für Violine und Orchester, die ebenfalls Bizets Habanera verarbeitet und beim Übergang zu D-dur die besagte Gegenmelodie benutzt:
Der aus Deutschland stammende Waxman (eigentlich: Wachsmann) machte sich in den USA der 1930er- und 1940er-Jahre einen Namen als Arrangeur und Filmkomponist. Die im Rahmen seiner Musik für den Film Humoresque entstandene Fantasie über Carmen-Themen gehört zu seinen bekanntesten Werken und wurde namentlich durch Jascha Heifetz, der sie in Rundfunk und Konzert spielte, sehr populär. Insofern lag der Gedanke nahe, dass Heifetz den effektvollen Einsatz dieser Melodie auch in den Klassiker der Carmen-Arrangements, sprich: in Sarasates Carmen-Fantasie, einbaute.
Der auch für Henle als Herausgeber tätige Ray Iwazumi (Juilliard School), der sich sehr gut mit der amerikanischen Geiger-Szene auskennt, wies allerdings meine Vermutung mit guten Argumenten zurück: „Das Problem dieser Hypothese liegt darin, dass es für einen kreativen Musiker, der die originale Oper kennt, nicht allzu schwierig ist, den Schritt zu tun, in der fraglichen Passage Sarasates Original durch „l’amour, l’amour“ zu ersetzen – die Melodie stammt ja aus einer sehr einprägsamen melodischen Geste, die von der Protagonistin der Oper gesungen wird.“
Wie dem auch sei: Die Frage stellte sich, wie wir in unserer Sarasate-Edition damit umgehen sollten. Kern des Urtext-Gedankens ist ja, den Notentext von allen fremden Änderungen oder Zusätzen zu befreien – was diese fremde Variante eigentlich ausschloss. Allerdings lässt sich die Praxis auch nicht gänzlich ausblenden, denn ein Geigenschüler dürfte verwirrt sein, wenn er in einer Urtext-Edition keinerlei Hinweis auf eine Variante findet, die er aus zahlreichen Aufnahmen kennt.
Es liegt hier insofern eine besondere Situation vor, als bei der Ersetzung von Sarasates originalem Notentext ja eine Art Meta-Bearbeitung vorliegt, eine Bearbeitung eines Arrangements, die kurioserweise dem Original nähersteht als dies in Sarasates Komposition der Fall ist. Während Sarasate Carmens melodischen Kontrapunkt ignorierte, da sich sein Interesse auf virtuose Variationen des jeweiligen Grundthemas richtete, wahrt die Variante Bizets Grundkonzept für diese Stelle, da ja die rechte Hand im Klavier das Thema beibehält (= Chor in der Oper), während die Violine die kantable Geste (= Carmens Gesang) darüber setzt.
Wir haben uns letztlich dazu entschlossen, die häufig gespielte Variante als Ossia einzufügen, in den Bemerkungen aber klarzustellen, dass sie nicht auf Sarasate zurückgeht:
Welches die schönere Bearbeitung ist, die mit Sarasates originalem Notentext oder die mit der Carmen-Variante, sei dahingestellt. Hier abschließend der Hinweis auf entsprechende Aufnahmen:
Original mit Ingolf Turban: Habanera ab Timecode 2:52
Variante mit Augustin Hadelich: Habanera ab Timecode 2:48