Die Henle-Blog-Gemeinde wird hoffentlich nicht enttäuscht sein, denn heute kommt von mir ein Text, der auf den ersten Blick so gar nichts mit dem Alltag des Henle-Lektorats zu tun hat. Normalerweise berichten wir an dieser Stelle von kniffligen Editionsproblemen und bieten Lösungen an. Heute allerdings – von Lösung keine Spur. Mein Beitrag ist eine Frage, ja fast ein Hilferuf zu einem Thema, das mich seit Wochen beschäftigt. Los geht’s aber mit einer häuslichen Szene.
Vor ein paar Wochen fiel mir beim Aufräumen des heimischen CD-Regals eine Aufnahme von Alfred Brendel in die Hände: „Brendel plays Bach“. Glücklich über die Wiederentdeckung hörte ich mich sofort durch die einzelnen Tracks – und war am Ende berauscht. Nicht nur von Brendel, sondern auch von Bach. Denn den Abschluss des Programms bilden Präludium und Fuge a-moll BWV 904, ein Werk (ich muss es gestehen), das mir völlig unbekannt war. Was für eine Entdeckung! In der folgenden Stunde hörte ich es immer wieder, las die Noten mit und suchte auf Youtube nach anderen Aufnahmen, darunter auch diese, weil ich wissen wollte, ob die Musik auch auf dem Cembalo so überwältigend wirkt. Ich kam erst wieder zu mir, als mein Partner, der notgedrungen Zaungast meiner Bach-Begeisterung war, mich mit den folgenden Worten in die Wirklichkeit zurückholte: „Aber das ist doch Schubert!“
Zunächst völliges Unverständnis auf meiner Seite. Aber nach und nach bekam auch ich das Gefühl, das Fugenthema in einem ganz anderen Kontext schon einmal gehört zu haben. Keiner von uns war aber in der Lage, die Parallele dingfest zu machen. Erst viel später kam die Erleuchtung: Das Fugenthema gleicht frappierend dem Beginn von Schuberts Arpeggione-Sonate! Oder umgekehrt: Das erste Thema im Kopfsatz der Sonate scheint das Fugenthema Bachs wörtlich zu zitieren. So sieht das im Notentext aus:
Und so klingt es:
Besonders charakteristisch ist in Bachs Themenkopf der Wechsel Quintsprung–Sextsprung–Quintsprung a1–e2–a1–f2–a1–e2. Und genau dieses „Signal“ war es wohl, das in unseren musikalischen Gedächtnissen die Verbindung zum Arpeggione-Thema herstellte. Die gleiche Tonfolge stellt in Schuberts Thema, harmonisiert mit a-moll/d-moll/a-moll, die besondere Farbe, den charakteristischen Tonfall des Satzes her.
Aber nicht nur die Intervallkonstellation Quinte/Sexte/Quinte stimmt überein, sondern sogar die absoluten Tonhöhen, somit auch die Tonart a-moll und darüber hinaus auch die ersten 4 Noten beider Themen. Lediglich der erste Sprung a1–e2 in Bachs Thema (T. 1) wird bei Schubert mit Durchgangsnoten gefüllt (h1–c2–d2).
Eine bewusste Anspielung oder Zufall? Ich bin mir selbst nicht sicher. Sonst stehe ich Versuchen, hinter zufälligen Motiv-Übereinstimmungen gleich tiefsinnige Zitate zu vermuten, sehr skeptisch gegenüber. Handelt es sich nicht oft um „Allerweltswendungen“, um musikalisches „Alltagsvokabular“, das man zwingend in zahllosen Kompositionen finden muss, wenn man nur den Ausschnitt richtig wählt? Ist das auch hier der Fall? Andererseits: Geht hier die Übereinstimmung nicht so weit, dass man kaum von Zufall sprechen kann? Zumal beide Motive prominent am Beginn eines Stückes stehen?
Ich habe Sie oben bereits vorgewarnt: Eine Antwort habe ich nicht. Um aber eine Antwort zu finden, müsste man zu allererst eine weitere, ja die entscheidende Frage klären: Kann Schubert die Bach-Fuge überhaupt gekannt haben? (Und jetzt geht’s endlich auch mal wieder um Quellen!)
Spontan hätte ich gesagt: Nein. Bachs Fuge erschien erst postum im Druck, und zwar 1839 im Rahmen von Czernys Bach-Ausgabe für das „Bureau de Musique de C. F. Peters“. Schubert starb bereits 1828 und hätte folglich die Fuge nur über eine Abschrift kennenlernen können (ein Autograph Bachs ist nicht überliefert). Kursierten aber um 1824, dem Entstehungsdatum der Arpeggione-Sonate (siehe Vorwort zu HN 611 und HN 612) Abschriften von Bach-Werken in Wien, die Schubert hätte einsehen können?
Diesmal lautet die Antwort: Ja. Schon vor 1800 ist für Wien eine Bach-Pflege nachzuweisen, für die man Namen wie Gottfried van Swieten oder Gottlieb Muffat ins Feld führen kann. Um 1800 kann man gar von einer Wiener Bach-Renaissance sprechen, eine Renaissance die weit weniger bekannt ist als ihr Gegenstück in Berlin (Stichwort: Mendelssohn Bartholdy und die Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829). Ausgerechnet eine wichtige Quelle für die Fuge BWV 904 hat einen ausgesprochenen Wien-Bezug. Sie überliefert allein die Fuge und war möglicherweise im Besitz von Gottfried van Swieten und/oder Gottlieb Muffat. Belegt ist jedenfalls, dass der berühmte Wiener Autographensammler Aloys Fuchs spätestens 1837 die Handschrift in seinem Besitz hatte. Von Fuchs wiederum lassen sich Linien zu Franz Schubert ziehen: Fuchs nahm an den sogenannten Schubertiaden im Salon Ignaz von Sonnleithners teil; auch soll er bei der Erstaufführung des Vokalquartetts „Der Gondelfahrer“ D 809 am 17. November 1825 im Wiener Musikverein mitgewirkt haben. Wege hätte es also durchaus gegeben, über die Schubert Bachs Fuge um 1824, zur Zeit der Komposition der Arpeggione-Sonate, hätte kennenlernen können.
Spielte vielleicht Vinzenz Schuster, für den Schubert die Arpeggione-Sonate komponierte und der ebenfalls in Sonnleithners Salon verkehrte, bei der Bach-Vermittlung eine Rolle? Schuster war Inhaber einer Antiquar-Musikalienhandlung und einer Musik-Leih- u. Copir-Anstalt. War die Themen-Anleihe vielleicht eine Art „Insider“ zwischen Schuster und Schubert?
Leider ist all das Spekulation; die Indizien sind insgesamt schwach. Dennoch möchte ich meinen Fund den Blog-Lesern zur Diskussion stellen. Was meinen Sie? Handelt es sich hier um ein Zitat? Kann es überhaupt eines sein? Habe ich etwas übersehen? Ist die Sache vielleicht schon ausgiebig beackert – und ich weiß es nicht? Sie sehen mich ratlos; aber für jeden Hinweis bin ich dankbar! (Wohl wissend, dass die Fuge nicht die Arpeggione-Sonate braucht und umgekehrt, um für sich bestehen zu können…)
Ich habe mir beide Stücke nacheinander angehört und glaube trotz der zugegebenermaßen frappanten Ähnlichkeit eher an eine zufällige Übereinstimmung als an ein Zitat. Möglich, dass Schubert das Werk von Bach gehört hat, aber seine Version des Themas hört sich m.E. nicht so an, als ob er etwas bewusst zitieren wollte. Das Thema finde ich eher für Bach ungewöhnlich als für Schubert, also wenn die beiden Zeitgenossen wären, würde ich eher sagen, dass Bach Schubert zitiert hätte als umgekehrt…
Und was meint Simon Sechter? War Schubert 1824 schon mit ihm bekannt? (Sechter war auch Schüler von Salieri!). Was von Bach war Sechter bekannt? Schubert was sicher begeistert von ‘strengen’ Kontrapunkt.
Wenn ich das richtig sehe, fällt die Kontaktaufnahme mit Sechter in eine spätere Zeit. Belegt ist sie zumindest erst für die Zeit kurz vor Schuberts Tod. Aber Kontrapunkt hat Schubert natürlich bei Salieri studiert…
Das ist eine spannende Frage, lieber Herr Müllemann. Allerdings frage ich mich dreierlei:
1. Warum ist mir das – anders als Ihrem Partner – beim Studium beider Werke trotz Tonartidentität und vergleichbarer Tonfolge nicht aufgefallen? Vielleicht ja, weil Bachs Fugenthema so unmittelbar das hohe e anspringt, während Schuberts Thema erst einmal die kantable Punktierungsmotivik genießt und – anders als Bachs “nacktes” Thema, das im Tonikabezug bleibt – auch schon die Harmonie genüsslich wechselt.
2. Warum sollte Schubert, der ja durchaus “barockisierende” Musik schreiben konnte (u. a. im Moment musical cis-Moll), ausgerechnet in der Arpeggione-Sonate, die doch bei aller Kantabilität dem Melodieinstrument immense Virtuosität abfordert, eine Bach-Fuge zitieren?
3. Wäre Schuberts (eventuelle!) Kenntnis der Fuge schon beweiskräftig genug für die Annahme einer bewussten Anspielung oder eines Zitates? Ich habe es mehrfach erlebt – bei einem Komponisten sogar mit tragischen Konsequenzen – dass Musiker stolz auf einen scheinbar “eigenen” Einfall waren, der sich später als nachweislich gehörte und dann vergessene “fremde” Idee erwies. Im erwähnten “tragischen” Fall führte das dazu, dass der Komponist das Manuskript des betreffenden (ungedruckten) Symphonietta-Satzes aus Enttäuschung, ja Scham vernichtete. Auch eine solche “negative” Beziehungsmöglichkeit sollten wir einkalkulieren, wenn wir “Ähnlichkeiten” feststellen…
Herzliche Grüße Ihr
Michael Struck
Lieber Herr Struck,
besten Dank für Ihre scharfsinnigen drei Fragen. Ja, auch ich frage mich: Wenn es denn eine Anspielung wäre, was soll sie aussagen? Ein Fugenzitat “fremdelt” in diesem Kontext, und es ist ja nun nicht so, dass sich im weiteren Verlauf weitere Bezüge aufdrängen (mit Ausnahme des Finales, wo das Thema ja wiederkehrt, nun nach Dur gewendet). Wenn es sich tatsächlich um ein absichtsvolles Zitat handelt, dann können wir den Sinn wohl nicht mehr entschlüsseln, daher meine saloppe Formulierung eines möglichen “Insiders”. Aber, auch ich zweifle…
Herzliche Grüße,
Ihr Norbert Müllemann
Die vorgelagerte Frage wäre, was denn Schubert überhaupt von J.S. Bach kannte. Sein Kontrapunktstudium bei Salieri kam wohl ohne ihn aus. Und die eine Stunde Unterricht bei Sechter im Herbst 1828 scheidet für unsere Frage von vornherein aus – immerhin hat sie die e-Moll-Fuge nach sich gezogen, vielleicht auch den Sinfonie-Entwurf D 936A beeinflusst … Im Jahr 1824, zur Zeit der Arpeggione-Sonate, waren Muffat und Swieten übrigens schon lange tot; und von einer besonderen Affinität Schuberts zu deren Nachfolger-Kreisen ist mir nichts bekannt. Der erwähnte Schubertiaden-Gast Aloys Fuchs hat ja erst einige Jahre nach Schuberts Ableben die Bach-Abschrift erworben. Bemerkenswert ist vielleicht auch die Tatsache, dass ein so namhafter Schubert-Forscher wie Ernst Hilmar in seinem so instruktiven kleinen Buch von 1997 (Rowohlt-Monographie) den Namen J.S. Bach kein einziges Mal erwähnt. Ich denke deshalb, dass die Ähnlichkeiten zur a-Moll-Fuge BWV 904, wie in vielen vergleichbaren Fällen in der Musikgeschichte, auf Zufall beruht. Von den ganz großen Komponisten war doch wohl Schubert von Bach am weitesten entfernt. Ich bewundere seine schöpferische Eigenständigkeit. Die macht ihn einzigartig. Vielen Dank für Ihre anregenden Gedanken! Herzliche Grüße!