Eine Urtext-Ausgabe (nicht nur) des Henle-Verlags zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass sie auf einer kritischen Untersuchung aller Quellen zum Werk basiert und diese dann auch in einem Bemerkungsteil beschreibt, bewertet und die editorischen Entscheidungen dokumentiert. Schaut man sich diese Bemerkungen in unseren Urtext-Ausgaben einmal genauer an, so könnte man meinen, diese Quellen umfassen allein musikalische Handschriften und Drucke. Aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, denn neben solchen Primärquellen der Edition spielen auch zahlreiche sekundäre Quellen eine Rolle, seien es Rezensionen oder Programmhefte, Geschäftsbücher des Verlags oder Tagebücher und Korrespondenz des Komponisten, in denen sich wichtige Hinweise – z. B. für die Datierung eines Werks oder die Autorisierung eines Arrangements – finden können. Diese andere Art von Quellen wird bei Henle in der Regel nur sehr knapp im Vorwort erwähnt – was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Suche nach und Auswertung von ihnen mitunter aufwendiger sein kann als die reine Editionsarbeit.
So stand bei meiner Vorbereitung des Klavierauszugs von Max Bruchs Kol Nidrei für Violoncello und Orchester nach Befragung der einschlägigen Literatur und Kataloge relativ schnell fest, dass wir auf Autographe, Stichvorlagen oder handschriftliches Aufführungsmaterial aus dem Umkreis des Komponisten nicht mehr zu hoffen brauchten, sondern nur die 1881 bei Simrock erschienenen Erstausgaben von Partitur und Klavierauszug zur Edition heranzuziehen waren. Dafür gab es umso mehr Hinweise auf Briefe von und an Max Bruch, in denen das Stichwort „Kol Nidrei“ auftauchte. Zwar wartet die Bruch-Forschung noch auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung seiner umfangreichen Korrespondenz, aber einige Bereiche – wie zum Beispiel der Briefwechsel mit seinem Verleger Fritz Simrock – sind immerhin kursorisch in Aufsätzen erfasst. Weitere Hinweise lieferten Christopher Fifields aktuelle Standard-Monographie (Boydell Press 2005) und der lesenswerte Aufsatz von Sabine Lichtenstein über die hebräischen Melodien in Kol Nidrei und ihre Überlieferung durch einen jüdischen Kantor (Die Musikforschung 1996, S. 349–367). Zudem arbeitet man im Kölner Max-Bruch-Archiv (MBA) seit geraumer Zeit an einem Online-Katalog des wichtigsten Briefbestands mit über 7000 Briefen von und an Max-Bruch, die sich dort befinden.
Und so machte ich mich mit Unterstützung der Kölner Bibliothekarinnen auf die Suche nach weiteren Informationen zur Entstehung, Aufführung und Drucklegung von Kol Nidrei. Der aus der Lektüre von gut 20 Briefen mit immerhin fast 80 Seiten resultierende Erkenntnisgewinn war höchst disparat: Die Mehrzahl der Briefe war an Bruch gerichtet, von der Schwester Mathilde sowie von Freunden und Musikern, und bot inhaltlich kaum mehr als die Erwähnung gewesener oder geplanter Aufführungen von Kol Nidrei in Deutschland, Frankreich oder an Bruchs damaliger Wirkungsstätte Liverpool. Ein schönes Indiz für die schnelle Verbreitung des Werkes in den 1880er Jahren, aber ohne weitere Bedeutung für eine Urtext-Ausgabe. Gleiches gilt für diverse musikalische Widmungskarten, auf denen Bruch noch bis 1912 (30 Jahre nach der Entstehung von Kol Nidrei!) den Anfang der Cello-Melodie notierte, die offenbar inzwischen zu einer musikalischen Unterschrift geworden war.
Auch die einem Brief Bruchs an seinen Freund Emil Kamphausen zu entnehmende Bemerkung, Hausmann habe „nicht nachgelassen auf mich zu pauken und zu hämmern, bis ich das Stück geschrieben habe“ (31.1.1882) lieferte zwar eine schöne Formulierung für das Vorwort, aber keine neuen Fakten. Und selbst Bruchs Briefe an den Freund und Verleger Fritz Simrock schienen zunächst nur die bereits bekannten Informationen über den Auftraggeber Robert Hausmann, die ersten Proben in Berlin und Liverpool im Winter 1880/81 sowie die Herkunft der hebräischen Melodien zu enthalten – bis schließlich mit einem Schreiben vom 8. April 1881 aus Liverpool doch noch der eine Brief kam, der bislang nicht veröffentlicht war und den Aufwand lohnte:
Liverpool,
8. April ‘81
Lieber Simrock,
zunächst herzlichen Dank für die Zusendung der beiden Brahms’schen Ouvertüren, die ich sobald wie möglich mit Frl. Michiels spielen werde. […]
Hierbei sende ich Ihnen endlich Kol Nidrei, op. 47, und die Männer-Chöre op. 48. Wollen Sie mir für jedes opus £ 30 geben (à 20 Mark) [Zufügung am Seitenrand: am Besten durch Wechsel auf London.] so bin ich zufrieden und sage schönen Dank. –
Zu Kol Nidrei bemerke ich Folgendes:
1) die Clavier-Begleit. ist für die Violin- und Cello-Ausgabe ganz dieselbe. Indessen, da die Geige wesentlich abweicht, so muß ja doch das Ganze für die Geigen-Ausgabe neu gestochen werden.
2) Ist Ihnen der Titel so recht, oder wünschen Sie ihn anders? Dies Stück ist ein kleines Pendant zur Schott. Fantasie, da es, wie diese, einen gegebenen melodischen Stoff in künstlerischer Weise erweitert. Jedenfalls bin ich doch verpflichtet, anzugeben, woher ich den Stoff habe – also dächte ich: „Kol Nidrei Nach Hebräischen Melodien [Zufügung am Seitenrand: Es sind nämlich zwei Melodien frei benutzt.] – von MB.“ (nicht „componirt von“).
3) Die Cello-Stimme ist von Hausmann, die Geigenstimme von Schiever genau bezeichnet. Ueberhaupt ist das Stück völlig druckfertig. –
In Bezug auf die Männer-Chöre möchte ich fragen […]
Damit hatte ich nicht nur Ort und Datum der Vollendung der Komposition (Liverpool, 8. April 1881) sowie einen Beleg für die Autorisation der (heute kaum bekannten) Geigen-Fassung und der (vom Komponisten übersandten!) Klavier-Begleitung, sondern auch eine Erklärung für den etwas unhandlichen Titel des Werkes, der vom Verleger geflissentlich übernommen wurde. Und schließlich informiert uns dieses Schreiben darüber, dass die offenbar einzeln notierten Solostimmen jeweils von Hausmann bzw. dem Geiger Heinrich Schiever (mit dem Bruch das Werk bereits mehrfach aufgeführt hatte) „genau bezeichnet“ waren und das Stück damit „völlig druckfertig“ sei.
Diese explizite Autorisation der einzeln notierten Cellostimme lieferte ein wesentliches Argument für die Bewertung der musikalischen Quellen: Hier waren beim Vergleich der Solostimme in Orchester-Partitur, Klavier-Partitur und Einzelstimme einige kleine, aber signifikante Abweichungen (z. B. staccato statt tenuto) zutage getreten, von denen zu vermuten war, dass sie auf eine „Revision“ der Solostimme, die nicht vollständig in die Partituren übertragen worden war, zurückgehen. Durch Bruchs Brief war nun klar, dass sie von Hausmann stammen und von Bruch autorisiert sind – und daher Vorrang bei der Edition haben. Die Lektüre hatte sich gelohnt!