Eine Ur­text-Aus­ga­be (nicht nur) des Hen­le-Ver­lags zeich­net sich be­kannt­lich da­durch aus, dass sie auf einer kri­ti­schen Un­ter­su­chung aller Quel­len zum Werk ba­siert und diese dann auch in einem Be­mer­kungs­teil be­schreibt, be­wer­tet und die edi­to­ri­schen Ent­schei­dun­gen do­ku­men­tiert. Schaut man sich diese Be­mer­kun­gen in un­se­ren Ur­text-Aus­ga­ben ein­mal ge­nau­er an, so könn­te man mei­nen, diese Quel­len um­fas­sen al­lein mu­si­ka­li­sche Hand­schrif­ten und Dru­cke. Aber das ist na­tür­lich nur die halbe Wahr­heit, denn neben sol­chen Pri­mär­quel­len der Edi­ti­on spie­len auch zahl­rei­che se­kun­dä­re Quel­len eine Rolle, seien es Re­zen­sio­nen oder Pro­gramm­hef­te, Ge­schäfts­bü­cher des Ver­lags oder Ta­ge­bü­cher und Kor­re­spon­denz des Kom­po­nis­ten, in denen sich wich­ti­ge Hin­wei­se – z. B. für die Da­tie­rung eines Werks oder die Au­to­ri­sie­rung eines Ar­ran­ge­ments – fin­den kön­nen. Diese an­de­re Art von Quel­len wird bei Henle in der Regel nur sehr knapp im Vor­wort er­wähnt – was nicht dar­über hin­weg­täu­schen soll­te, dass die Suche nach und Aus­wer­tung von ihnen mit­un­ter auf­wen­di­ger sein kann als die reine Edi­ti­ons­ar­beit.

Max Bruch (1883–1920)

So stand bei mei­ner Vor­be­rei­tung des Kla­vier­aus­zugs von Max Bruchs Kol Ni­drei für Vio­lon­cel­lo und Or­ches­ter nach Be­fra­gung der ein­schlä­gi­gen Li­te­ra­tur und Ka­ta­lo­ge re­la­tiv schnell fest, dass wir auf Au­to­gra­phe, Stich­vor­la­gen oder hand­schrift­li­ches Auf­füh­rungs­ma­te­ri­al aus dem Um­kreis des Kom­po­nis­ten nicht mehr zu hof­fen brauch­ten, son­dern nur die 1881 bei Sim­rock er­schie­ne­nen Erst­aus­ga­ben von Par­ti­tur und Kla­vier­aus­zug zur Edi­ti­on her­an­zu­zie­hen waren. Dafür gab es umso mehr Hin­wei­se auf Brie­fe von und an Max Bruch, in denen das Stich­wort „Kol Ni­drei“ auf­tauch­te. Zwar war­tet die Bruch-For­schung noch auf eine wis­sen­schaft­li­che Auf­ar­bei­tung sei­ner um­fang­rei­chen Kor­re­spon­denz, aber ei­ni­ge Be­rei­che – wie zum Bei­spiel der Brief­wech­sel mit sei­nem Ver­le­ger Fritz Sim­rock – sind im­mer­hin kur­so­risch in Auf­sät­zen er­fasst. Wei­te­re Hin­wei­se lie­fer­ten Chris­to­pher Fi­fiel­ds ak­tu­el­le Stan­dard-Mo­no­gra­phie (Boy­dell Press 2005) und der le­sens­wer­te Auf­satz von Sa­bi­ne Lich­ten­stein über die he­bräi­schen Me­lo­di­en in Kol Ni­drei und ihre Über­lie­fe­rung durch einen jü­di­schen Kan­tor (Die Mu­sik­for­schung 1996, S. 349–367). Zudem ar­bei­tet man im Köl­ner Max-Bruch-Ar­chiv (MBA) seit ge­rau­mer Zeit an einem On­line-Ka­ta­log des wich­tigs­ten Brief­be­stands mit über 7000 Brie­fen von und an Max-Bruch, die sich dort be­fin­den.

Und so mach­te ich mich mit Un­ter­stüt­zung der Köl­ner Bi­blio­the­ka­rin­nen auf die Suche nach wei­te­ren In­for­ma­tio­nen zur Ent­ste­hung, Auf­füh­rung und Druck­le­gung von Kol Ni­drei. Der aus der Lek­tü­re von gut 20 Brie­fen mit im­mer­hin fast 80 Sei­ten re­sul­tie­ren­de Er­kennt­nis­ge­winn war höchst dis­pa­rat: Die Mehr­zahl der Brie­fe war an Bruch ge­rich­tet, von der Schwes­ter Mat­hil­de sowie von Freun­den und Mu­si­kern, und bot in­halt­lich kaum mehr als die Er­wäh­nung ge­we­se­ner oder ge­plan­ter Auf­füh­run­gen von Kol Ni­drei in Deutsch­land, Frank­reich oder an Bruchs da­ma­li­ger Wir­kungs­stät­te Li­ver­pool. Ein schö­nes Indiz für die schnel­le Ver­brei­tung des Wer­kes in den 1880er Jah­ren, aber ohne wei­te­re Be­deu­tung für eine Ur­text-Aus­ga­be. Glei­ches gilt für di­ver­se mu­si­ka­li­sche Wid­mungs­kar­ten, auf denen Bruch noch bis 1912 (30 Jahre nach der Ent­ste­hung von Kol Ni­drei!) den An­fang der Cel­lo-Me­lo­die no­tier­te, die of­fen­bar in­zwi­schen zu einer mu­si­ka­li­schen Un­ter­schrift ge­wor­den war.

Mu­si­ka­li­sche Wid­mungs­kar­te (aus: Fi­field, S. 192)

Auch die einem Brief Bruchs an sei­nen Freund Emil Kam­phau­sen zu ent­neh­men­de Be­mer­kung, Haus­mann habe „nicht nach­ge­las­sen auf mich zu pau­ken und zu häm­mern, bis ich das Stück ge­schrie­ben habe“ (31.1.1882) lie­fer­te zwar eine schö­ne For­mu­lie­rung für das Vor­wort, aber keine neuen Fak­ten. Und selbst Bruchs Brie­fe an den Freund und Ver­le­ger Fritz Sim­rock schie­nen zu­nächst nur die be­reits be­kann­ten In­for­ma­tio­nen über den Auf­trag­ge­ber Ro­bert Haus­mann, die ers­ten Pro­ben in Ber­lin und Li­ver­pool im Win­ter 1880/81 sowie die Her­kunft der he­bräi­schen Me­lo­di­en zu ent­hal­ten – bis schließ­lich mit einem Schrei­ben vom 8. April 1881 aus Li­ver­pool doch noch der eine Brief kam, der bis­lang nicht ver­öf­fent­licht war und den Auf­wand lohn­te:

1. Seite des Briefs an Sim­rock, 8.4.1881 (MBA)

Li­ver­pool,
8. April ‘81

Lie­ber Sim­rock,

zu­nächst herz­li­chen Dank für die Zu­sen­dung der bei­den Brahms’schen Ou­ver­tü­ren, die ich so­bald wie mög­lich mit Frl. Mi­chiels spie­len werde. […]

Hier­bei sende ich Ihnen end­lich Kol Ni­drei, op. 47, und die Män­ner-Chö­re op. 48. Wol­len Sie mir für jedes opus £ 30 geben (à 20 Mark) [Zu­fü­gung am Sei­ten­rand: am Bes­ten durch Wech­sel auf Lon­don.] so bin ich zu­frie­den und sage schö­nen Dank. –

Zu Kol Ni­drei be­mer­ke ich Fol­gen­des:

1) die Cla­vier-Be­gleit. ist für die Vio­lin- und Cel­lo-Aus­ga­be ganz die­sel­be. In­des­sen, da die Geige we­sent­lich ab­weicht, so muß ja doch das Ganze für die Gei­gen-Aus­ga­be neu ge­sto­chen wer­den.

2) Ist Ihnen der Titel so recht, oder wün­schen Sie ihn an­ders? Dies Stück ist ein klei­nes Pen­dant zur Schott. Fan­ta­sie, da es, wie diese, einen ge­ge­be­nen me­lo­di­schen Stoff in künst­le­ri­scher Weise er­wei­tert. Je­den­falls bin ich doch ver­pflich­tet, an­zu­ge­ben, woher ich den Stoff habe – also däch­te ich: „Kol Ni­drei Nach He­bräi­schen Me­lo­di­en [Zu­fü­gung am Sei­ten­rand: Es sind näm­lich zwei Me­lo­di­en frei be­nutzt.] von MB.“ (nicht „com­po­nirt von“).

3) Die Cello-Stim­me ist von Haus­mann, die Gei­gen­stim­me von Schie­ver genau be­zeich­net. Ue­ber­haupt ist das Stück völ­lig druck­fer­tig. –

In Bezug auf die Män­ner-Chö­re möch­te ich fra­gen […]

 

Damit hatte ich nicht nur Ort und Datum der Voll­endung der Kom­po­si­ti­on (Li­ver­pool, 8. April 1881) sowie einen Beleg für die Au­to­ri­sa­ti­on der (heute kaum be­kann­ten) Gei­gen-Fas­sung und der (vom Kom­po­nis­ten über­sand­ten!) Kla­vier-Be­glei­tung, son­dern auch eine Er­klä­rung für den etwas un­hand­li­chen Titel des Wer­kes, der vom Ver­le­ger ge­flis­sent­lich über­nom­men wurde. Und schließ­lich in­for­miert uns die­ses Schrei­ben dar­über, dass die of­fen­bar ein­zeln no­tier­ten So­lo­stim­men je­weils von Haus­mann bzw. dem Gei­ger Hein­rich Schie­ver (mit dem Bruch das Werk be­reits mehr­fach auf­ge­führt hatte) „genau be­zeich­net“ waren und das Stück damit „völ­lig druck­fer­tig“ sei.

Ti­tel­sei­te der Erst­aus­ga­be des Kla­vier­aus­zugs

Diese ex­pli­zi­te Au­to­ri­sa­ti­on der ein­zeln no­tier­ten Cel­lo­stim­me lie­fer­te ein we­sent­li­ches Ar­gu­ment für die Be­wer­tung der mu­si­ka­li­schen Quel­len: Hier waren beim Ver­gleich der So­lo­stim­me in Or­ches­ter-Par­ti­tur, Kla­vier-Par­ti­tur und Ein­zel­stim­me ei­ni­ge klei­ne, aber si­gni­fi­kan­te Ab­wei­chun­gen (z. B. stac­ca­to statt te­nu­to) zu­ta­ge ge­tre­ten, von denen zu ver­mu­ten war, dass sie auf eine „Re­vi­si­on“ der So­lo­stim­me, die nicht voll­stän­dig in die Par­ti­tu­ren über­tra­gen wor­den war, zu­rück­ge­hen. Durch Bruchs Brief war nun klar, dass sie von Haus­mann stam­men und von Bruch au­to­ri­siert sind – und daher Vor­rang bei der Edi­ti­on haben. Die Lek­tü­re hatte sich ge­lohnt!

Dieser Beitrag wurde unter Brief, Bruch, Max, Klavier + Violoncello, Kol Nidrei (Bruch), Montagsbeitrag, Violoncello + Orchester abgelegt und mit , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert