Beet­ho­ven spielt Beet­ho­ven – ich denke, es geht Ihnen wie mir: Wie gern wäre ich ein­mal dabei ge­we­sen, wenn Beet­ho­ven seine ei­ge­nen Werke am Kla­vier zur Auf­füh­rung brach­te. Da aber Zeit­rei­sen vor­erst noch keine Op­ti­on und Auf­nah­men nicht ver­füg­bar sind, wird das ein schö­ner Traum blei­ben. Wirk­lich? Haben wir nicht doch eine Chan­ce uns zu­min­dest ein in­di­rek­tes Bild von einer Beet­ho­ven-Auf­füh­rung zu ma­chen?

(Bild: Thöny, Wil­helm: Beet­ho­ven am Kla­vier – Druck nach Zeich­nung. Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Beet­ho­ven-Hau­ses Bonn)

Ich dach­te zu­erst ganz be­geis­tert „ja“, als ich den Band Beet­ho­ven, Ka­den­zen und Ein­gän­ge zu Kla­vier­kon­zer­ten in Hän­den hielt. Der ent­spre­chen­de Ge­samt­aus­ga­ben­band er­schien be­reits 1967 im G. Henle Ver­lag, der Kri­ti­sche Be­richt wurde 2011 nach­ge­lie­fert, was wir als Chan­ce nutz­ten, auch un­se­re Ur­text­aus­ga­be 2013 auf den neu­es­ten Stand zu brin­gen. Eine höchst at­trak­ti­ve Samm­lung von Ka­den­zen und Ein­gän­gen zu den Kla­vier­kon­zer­ten Nr. 1–4, au­ßer­dem zur Kla­vier­fas­sung des Vio­lin­kon­zerts op. 61 und – zu Mo­zarts Kla­vier­kon­zert d-moll KV 466.

Ka­den­zen kann man als den letz­ten Rest einer Mu­si­zier­tra­di­ti­on be­schrei­ben, die heut­zu­ta­ge weit­ge­hend aus­ge­stor­ben ist. Bis ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein galt aber das freie Im­pro­vi­sie­ren als der ei­gent­li­che Prüf­stein von In­stru­men­ta­lis­ten, vor allem unter Pia­nis­ten. Je stär­ker sich ein klas­si­scher Kanon von Wer­ken her­aus­bil­de­te, die immer wie­der ge­spielt wur­den, je mehr „Re­per­toire“ sich eta­blier­te, mit dem ein Pia­nist be­ste­hen soll­te, desto we­ni­ger wurde spon­tan im­pro­vi­siert. Al­lein im So­lo­kon­zert er­hielt sich lange Zeit hin­durch eine klei­ne Insel der Im­pro­vi­sa­ti­on, die Ka­denz. Hier wurde dem In­stru­men­ta­lis­ten die Mög­lich­keit ge­ge­ben, sein vir­tuo­ses Kön­nen unter Be­weis zu stel­len.

Und nun: Im mu­si­ka­li­schen Notat fi­xier­te Ka­den­zen von Lud­wig van Beet­ho­ven – das ver­sprach mir einen „Blick durchs Schlüs­sel­loch“. Ist hier nicht auf­ge­zeich­net, was Beet­ho­ven bei Auf­füh­run­gen sei­ner ei­ge­nen Kla­vier­kon­zer­te „mach­te“? Lässt sich damit nicht eine Auf­füh­rung von da­mals re­kon­stru­ie­ren?

Diese Frage lässt sich nur be­ant­wor­ten, wenn man un­ter­sucht, zu wel­chen An­läs­sen diese Ka­den­zen ent­stan­den. Wir wis­sen schreck­lich wenig dar­über, aber alles deu­tet dar­auf hin, dass Beet­ho­ven es nicht für nötig be­fand, Ka­den­zen für den ei­ge­nen Ge­brauch schrift­lich fest­zu­le­gen. Er galt als gro­ßer Im­pro­vi­sa­tor – warum soll­te er also eine Ka­denz no­tie­ren? Immer wie­der deu­ten Brief­stel­len und an­de­re Über­lie­fe­run­gen dar­auf hin, dass Beet­ho­ven diese Ka­den­zen für an­de­re Pia­nis­ten nie­der­schrieb, die ihn ganz of­fen­sicht­lich um „kom­po­nier­te“ Ka­den­zen ge­be­ten hat­ten. Nicht immer kam Beet­ho­ven die­sen Bit­ten nach. Der Beet­ho­ven-Schü­ler Fer­di­nand Ries schreibt 1804 über eine Auf­füh­rung, bei der er mit Beet­ho­vens 3. Kla­vier­kon­zert c-moll op. 37 auf­trat: „Ich hatte Beet­ho­ven ge­be­ten, mir eine Ca­denz zu com­po­ni­ren, wel­ches er ab­schlug und mich an­wies, selbst eine zu ma­chen, er wolle sie kor­ri­gie­ren“. Für Auf­füh­run­gen des 1. Kla­vier­kon­zer­tes ist hin­ge­gen nach­weis­bar, dass die je­wei­li­gen Pia­nis­ten Ka­den­zen spiel­ten, die Beet­ho­ven selbst kom­po­niert hatte. Ob man die Kunst des Im­pro­vi­sie­rens in­zwi­schen ver­lernt hatte oder ob man Beet­ho­vens ori­gi­nä­re Hand­schrift auch in den Ka­den­zen hör­bar ma­chen woll­te – alles deu­tet dar­auf hin, dass die „kom­po­nier­ten“ Ka­den­zen Beet­ho­vens aus­schließ­lich für an­de­re Pia­nis­ten ent­stan­den. Die phi­lo­lo­gi­schen Un­ter­su­chun­gen der Beet­ho­ven-Ge­samt­aus­ga­be konn­ten be­stim­men, dass die meis­ten die­ser Ka­den­zen um das Jahr 1809 ent­stan­den. Und da kommt eine der wich­tigs­ten Per­sön­lich­kei­ten aus Beet­ho­vens Um­feld ins Spiel: Erz­her­zog Ru­dolph von Ös­ter­reich, Schü­ler und För­de­rer Beet­ho­vens.

Erz­her­zog Ru­dolph von Ös­ter­reich (1788–1831)

Ru­dolph war ein her­vor­ra­gen­der Pia­nist und trat mit den Kla­vier­kon­zer­ten Beet­ho­vens auf – ganz si­cher mit dem vier­ten, G-dur op. 58, das Ru­dolph ge­wid­met ist. Durch­aus denk­bar, dass Beet­ho­ven die zahl­rei­chen Ka­den­zen ge­ra­de zum vier­ten Kon­zert für Ru­dolph schrieb. Und viel­leicht bat Ru­dolph Beet­ho­ven dar­auf­hin, auch für die an­de­ren Kon­zer­te Ka­den­zen zu schrei­ben. Ana­ly­sen des Pa­piers, auf dem Beet­ho­ven die Ka­den­zen no­tier­te, deu­ten je­den­falls dar­auf­hin, dass die meis­ten die­ser Ein­la­gen im glei­chen Zeit­raum ent­stan­den. Au­ßer­dem be­fand sich ein Groß­teil in der Bi­blio­thek des Erz­her­zogs, wor­aus man durch­aus schlie­ßen kann, sie seien als „Paket“ Ru­dolph auf den Leib ge­schrie­ben. So ver­füg­te der Erz­her­zog bei Auf­trit­ten über aus­rei­chend Ka­denz-Ma­te­ri­al.

Span­nend finde ich, dass zu die­sem Paket auch zwei Ka­den­zen zum d-moll-Kon­zert KV 466 von Mo­zart ge­hö­ren. Wir wis­sen, dass Beet­ho­ven in den Jah­ren 1795/96 tat­säch­lich mit Kla­vier­kon­zer­ten Mo­zarts auf­trat. Mit wel­chen genau und wel­che Ka­den­zen er dabei spiel­te, ent­zieht sich al­ler­dings un­se­rer Kennt­nis. Die bei­den hier vor­lie­gen­den Ka­den­zen je­den­falls wur­den de­fi­ni­tiv spä­ter kom­po­niert, eben um 1809, und ent­stan­den gleich­falls für Ru­dolph, der ein gro­ßer Mo­zart-Lieb­ha­ber war. Doch neben Ru­dolphs Wert­schät­zung wird auch die Ver­eh­rung Beet­ho­vens für sei­nen jün­ge­ren, in­zwi­schen ver­stor­be­nen Kom­po­nis­ten­kol­le­gen greif­bar. Ein ganz be­son­de­rer Mo­ment in der Mu­sik­ge­schich­te, wie ich finde.

Ein Uni­kum schließ­lich stel­len die Ka­den­zen zur Kla­vier­fas­sung des Vio­lin­kon­zer­tes dar, ins­be­son­de­re die­je­ni­ge zum 1. Satz. Sie ist mit 125 Tak­ten ei­gent­lich ein „Stück im Stück“, le­gen­där aber vor allem des­we­gen, weil hier kei­nes­wegs nur das Kla­vier im Zen­trum steht, son­dern die Pau­ken hin­zu­tre­ten und damit der Ka­denz ein ganz ei­ge­nes Ko­lo­rit ver­lei­hen. Über­rascht stell­te ich bei mei­ner Vor­be­rei­tung zu die­sem Blog­bei­trag fest, dass Beet­ho­ven ei­gent­lich schon er­wo­gen hatte, die­sen au­ßer­ge­wöhn­li­chen Ef­fekt in einer Ka­denz zu sei­nem 3. Kla­vier­kon­zert c-moll op. 37 ein­zu­set­zen.

Gidon Kre­mer

Die Ka­den­zen zur Kla­vier­fas­sung des Vio­lin­kon­zer­tes soll­ten noch einen über­ra­schen­den Epi­log er­le­ben. Zum Vio­lin­kon­zert selbst sind von Beet­ho­ven keine Ka­den­zen über­lie­fert, ein Um­stand, den Gei­ger immer wie­der be­dau­ern. Was liegt also näher, als die Ka­den­zen des Meis­ters zur Kla­vier­fas­sung ein­fach auf die Vio­li­ne zu über­tra­gen? Wolf­gang Schnei­der­han hat sich An­fang des 1970er Jahre die­ser Her­aus­for­de­rung ge­stellt und seine Fas­sung in einer Hen­le-Edi­ti­on her­aus­ge­bracht. Und einen wei­te­ren Nach­klang er­fuh­ren diese Ka­den­zen in jüngs­ter Zeit in der Gidon Kre­mer Edi­ti­on des Vio­lin­kon­zerts, die Ka­den­zen von Kre­mer und dem mit ihm be­freun­de­ten Kom­po­nis­ten Vic­tor Kis­si­ne ent­hält, die teil­wei­se gleich­falls auf Beet­ho­vens Kla­vier­fas­sung zu­rück­grei­fen.

All diese Ka­den­zen ge­hö­ren je­den­falls heute zum fes­ten Be­stand­teil des Kon­zert­le­bens. Wer sich des­sen ver­si­chern möch­te, fin­det unten ein paar Hör­bei­spie­le und die ori­gi­na­len Hand­schrif­ten Beet­ho­vens. Auch wenn die Ka­den­zen nicht un­be­dingt ein Ab­bild von Beet­ho­vens Im­pro­vi­sa­ti­ons­kunst sind, auch wenn es frag­lich ist, ob er sie über­haupt selbst ge­spielt hat, stel­len sie doch einen fas­zi­nie­ren­den Ein­blick dar. Denn so oder so ähn­lich mag es ge­klun­gen haben, wenn zu Beet­ho­vens Leb­zei­ten seine So­lo­kon­zer­te auf­ge­führt wur­den!

1. Kla­vier­kon­zert, 1. Satz
Hör­bei­spiel
Hand­schrift

4. Kla­vier­kon­zert, Ru­bin­stein, 1. Satz
Hör­bei­spiel
Hand­schrift

Ka­denz 1. Satz, Kla­vier­fas­sung des Vio­lin­kon­zerts (ab Mi­nu­te 17:38)
Hör­bei­spiel
Hand­schrift

 

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Eine Antwort auf »Beethoven spielt Beethoven? Der Komponist als Verfasser von Kadenzen«

  1. Jacob Buis sagt:

    Wie gern wäre auch ich einmal dabei gewesen, wenn Beethoven seine eigenen Werke am Klavier zur Aufführung brachte oder “nur” improvisierte.
    Aber, neben den Kadenzen, gibt’s doch noch anderen „Blicke durchs Schlüsselloch“ vielleicht?
    Es gibt Gründe die Fantasie opus 77 als eine Art Niederschrift zu betrachten des Improvisierens Beethovens im famösen Konzert vom Dezember 1808 .
    Obwohl von Clementi in Auftrag gegeben und es Skizzen gibt (zwischen denen für die Chorphantasie und das 5.Klavierkonzert), gibt das 1809 (in der zeitlichen Nähe der Kadenzen!) komponierte Werk nach einer Formulierung seines Schülers Carl Czerny „ein getreues Bild von der Art, wie er zu improvisieren pflegte“. Auch Moscheles “habe ihn auf solche Weise spielen hören”
    Ist hier vielleicht aufgezeichnet, was Beethoven bei Improvisationen „machte“?
    Wir werden es nie wissen.

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