Im Beethoven-Jahr möchte das Autorenteam des Henle-Blogs immer wieder Interviews mit Künstlern einstreuen, die sich besonders um Beethovens Werk verdient gemacht haben und die gleichzeitig mit dem Haus Henle und seinen Urtextausgaben eng verbunden sind. Den Anfang macht Michael Korstick, der bei Oehms Klassik in den Jahren 1997–2008 Klavierwerke Beethovens in 11 Folgen eingespielt hat, darunter alle 32 Klaviersonaten, die großen Variationszyklen op. 34, 35, 120, die späten Bagatellen op. 126 sowie die „Wut über den verlorenen Groschen“. Ein wahrhaft beeindruckendes Kompendium und dazu eine Aufnahme, die für die Beethoven-Interpretation Maßstäbe gesetzt hat.
Norbert Müllemann (NM): Lieber Herr Korstick, wir stehen noch am Beginn des Beethoven-Jubeljahres – blicken Sie eher mit Freude oder mit Schrecken auf die kommenden 11 Monate?
Michael Korstick (MK): Eine gute Frage … die Antwort dürfte wohl irgendwo in der Mitte liegen. Natürlich kann man gar nicht genug Beethoven zu hören bekommen, so viel ist sicher. Nur befürchte ich, dass anstelle einer wertvollen Jubiläumsfeier eine Marketing-Orgie über uns hereinbricht, die viel Überflüssiges und Ärgerliches mit sich bringen wird. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Neuaufnahmen nun auf den Markt geworfen werden, die die Welt nicht braucht und die null Erkenntniswert haben. Auf der anderen Seite sehe ich es als Chance, dass die enorme mediale Wirkung dieses Jubiläums möglicherweise vielen Menschen einen Erstkontakt zu dieser großen Musik ermöglicht, den es sonst nicht gegeben hätte. Ich persönlich hatte mir aus Widerspruchsgeist und purer Renitenz eigentlich vorgenommen, 2020 überhaupt keinen Beethoven zu spielen, aber das war (leider?) nicht durchzuhalten.
NM: Für uns Konsumenten ist das natürlich eher eine gute Nachricht! Was bedeutet Ihnen denn Beethoven und welchen Stellenwert nimmt er in Ihrem Repertoire ein?
MK: Von Anfang an war Beethoven der Fixstern meines musikalischen Universums. Ich kann mich bis heute gut daran erinnern, was die Erstbegegnungen mit jedem einzelnen Werk in mir als ganz jungem Kerl ausgelöst haben. Das ein Erdbeben zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung! Bis heute ist die Auseinandersetzung mit Beethovens Werken ein zentrales Anliegen für mich geblieben.
NM: Ich finde, das merkt man Ihrem Spiel an! Die Kritik war ja ganz begeistert über Ihr großes Beethoven-Projekt bei Oehms. Man meint einen „neuen“ Beethoven-Ton zu hören und dennoch hat man immer das Gefühl, dass er sich zwingend folgerichtig aus der Musik selbst ergibt. Haben Sie sich bei Ihrer Einspielung von einer Grundidee leiten lassen? Hatten Sie sich selbst ein Ziel gesetzt, wie Sie uns Beethoven präsentieren wollten?
MK: Das ist extrem schwierig zu beantworten. Und jeder Versuch einer Antwort öffnet die Tür zu schwerwiegenden Missverständnissen. Zum Beispiel wurde meine Herangehensweise, nachdem ich mich in einigen Interviews dazu geäußert hatte, in der öffentlichen Wahrnehmung sehr stark, fast schon eindimensional, auf den Aspekt der sogenannten Werktreue reduziert. Natürlich habe ich mich bemüht, mich durch eigene Quellenforschungen so nah wie möglich an den Sinn des von Beethoven Gemeinten heranzuarbeiten, aber letzten Endes kann und darf es doch nicht darum gehen, irgendetwas als richtig Erkanntes gleichsam zu referieren, sondern das Ergebnis solcher Bemühungen muss sein, das “Richtige” zu erkennen, zu erfühlen, und dann nachschöpferisch in Klang zu verwandeln. Um Beethovens geflügeltes Wort zu paraphrasieren: der Interpret muss erkennen, was aus dem Herzen des Komponisten kommt, bevor er sein Herzblut darauf verwendet, das Herz des Hörers zu berühren. Da ist dann kein Platz für Beliebigkeit oder Befindlichkeitsgeschwafel!
NM: Der G. Henle Verlag ist sehr glücklich darüber, dass Sie für unsere Henle Library App derzeit einen Fingersatz zu den 32 Klaviersonaten Beethovens erarbeiten. Was sind die besonderen Herausforderungen, wenn man einen Beethoven-Fingersatz entwickelt? Wird er individuell auf Michael Korstick zugeschnitten sein oder haben Sie eher einen pädagogischen Ansatz, mit Blick auf einen für den Durchschnittspianisten gut verdaulichen Fingersatz?
MK: Dieses Projekt ist für mich deshalb besonders spannend, weil hier ein neues Medium zum Einsatz kommt, das die Anforderungen an einen Fingersatz für eine klassische Druckausgabe radikal verändert, schon allein dadurch, dass der Nutzer in der App für das gleiche Stück mehrere Fingersätze zur Auswahl hat. Der Fingersatz von Conrad Hansen für die ikonische Henle-Ausgabe von B. A. Wallner hat mit Erfolg etwas geschafft, was ich die Quadratur des Kreises nennen würde, und ich sage das nicht, weil ich über meinen ersten Lehrer Jürgen Troester ein Enkelschüler Hansens war. Hier liegt ein Fingersatz vor, der einerseits klassischen Regeln genügt und für eine Vielzahl von unterschiedlichen Händen geeignet ist, andererseits von Hansen in der Praxis erfolgreich erprobt war. Die bahnbrechende Henle-App versetzt mich aber nun in die Lage, für den interessierten Pianisten meine persönlichen Lösungen 1:1 zugänglich zu machen, ohne irgendwelche Rücksichten auf pädagogische Verdaulichkeit nehmen zu müssen. Deshalb sehe ich meine persönlichen Fingersätze als nichts anderes an, als eine reine Informationsquelle für Pianistenkollegen, die wissen wollen, welche Lösungen ich selbst benutze und die die klangliche Umsetzung anhand meiner Aufnahmen überprüfen können.
NM: Kommen wir zum Notentext selbst, ob in App oder Print: Wie wichtig ist Ihnen, Beethoven aus einer Urtextausgabe (idealerweise aus dem Haus Henle…) zu spielen? Bietet ein bereinigter Urtext, der keine instruktiven Hinweise enthält, dennoch genug Anregungen für die Interpretation?
MK: Es gibt bei Beethoven keine Alternative zum Urtext! Beethoven war der erste Komponist, der genaue, fast übertrieben genaue, Vortragsbezeichnungen hinterlassen hat, weil ihm wichtig war, jedes ausdrucksmäßige Detail für den Spieler zu fixieren. Noch die Mozart-Generation war davon ausgegangen, dass ihre Werke entweder von direkten Schülern gespielt würden oder von Komponistenkollegen, die schon wissen würden, was gemeint ist. Beethoven hingegen war ein Neuerer und Individualist, der seinen persönlichen und revolutionären Stil genau fixiert hat, als hätte er vorausgeahnt, dass seine Werke eines Tages in die Hände von “reisenden Virtuosen” fallen würden. Ich selber lernte die Beethoven-Sonaten durch die Bülow-Ausgabe kennen, die mein Vater, der während des Zweiten Weltkriegs in Amerika interniert war, zurückgebracht hatte. Als ich im Alter von 11 Jahren den 1. Preis im “Jugend musiziert”-Wettbewerb in Köln gewann, erhielt ich als Preis einen Notengutschein über 200 Mark, den ich zum Kauf der Henle-Ausgaben des Wohltemperierten Klaviers von Bach, der Mozart-Sonaten und der Beethoven-Sonaten einlöste. Das veränderte mein musikalisches Weltbild komplett! Sogenannte instruktive Hinweise wie in den Beethoven-Ausgaben von Bülow oder Schnabel mögen interessant oder sogar inspirierend sein, sie können aber nicht das vom Komponisten Fixierte ersetzen oder gar verbessern. Nur die genaue Befolgung der Urtext-Angaben kann Voraussetzung für eine eigene Auslegung des musikalischen Textes sein. Es ist schon schwer genug, jede einzelne Vortragsanweisung des Komponisten sinnvoll umzusetzen, zusätzliche oder gar verändernde Anmerkungen braucht niemand.
NM: Gibt es, wenn Sie auf Beethovens Klavierschaffen blicken, ein Werk, das herausragende oder besonders schwierige Textprobleme bietet, bei denen eine Urtextausgabe unerlässlich ist, um die für den Interpreten nötige Aufklärungsarbeit zu leisten?
MK: Urtextausgaben sind grundsätzlich unerlässlich! Und die Verlage stehen hier in einer ständigen Verantwortung, immer weiter zu forschen und eventuelle editorische Fehler zu revidieren. Ein wunderbares Beispiel: während der Vorbereitungen für meine CD-Aufnahme der Diabelli-Variationen von 2004 fand ich bei meinen Studien im Archiv des Beethoven-Hauses in Bonn einen Fehler in der 10. Variation, der zu verschiedenen Lesarten eines Akkordes in allen damals vorliegenden Ausgaben geführt hatte, keine davon korrekt. Auf der CD spielte ich meine eigene Lösung. In der neuen Henle-Ausgabe fand ich diesen Fehler nun exakt so korrigiert, was mich mit einer fast schon persönlichen Genugtuung erfüllte. Natürlich ist es nicht entscheidend, welche Noten man spielt, sondern wie man sie spielt – aber wenn künstlerische Inspiration verbunden ist mit optimaler Textgenauigkeit, dann ist vielleicht wirklich einmal das Beste zweier Welten erreichbar.
NM: Ein schönes Schlusswort! Lieber Herr Korstick, ich danke Ihnen für dieses Interview. Wir freuen uns schon sehr auf Ihren App-Fingersatz und wünschen Ihnen für das Beethoven-Jahr mit seinen Projekten das Allerbeste!