Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Beet­ho­ven Hau­ses Bonn

Nur was man ganz hat, hat man wirk­lich – das gilt na­tür­lich auch für Beet­ho­ven und so ist es wenig über­ra­schend, dass man mit der Such­ein­ga­be „Der ganze Beet­ho­ven“ im Beet­ho­ven-Jahr er­staun­lich viele Tref­fer fin­det. Al­ler­dings be­leh­ren die Er­geb­nis­se einer Suche mit Be­grif­fen wie „Ge­samt­werk“ oder „Ge­samt­aus­ga­be“ uns schnell dar­über, dass „man“ Beet­ho­ven heute eher hört als liest oder spielt. Denn lange vor der be­kannt­lich bei Henle er­schei­nen­den wis­sen­schaft­li­chen Ge­samt­aus­ga­be wer­den einem an ers­ter Tref­fer­stel­le große Kon­zert­zy­klen oder rie­si­ge CD-Pro­duk­tio­nen an­ge­zeigt, die sein ge­sam­tes Oeu­vre ab­de­cken – und Beet­ho­ven auf der gan­zen Welt ver­brei­ten. Das er­scheint uns heute selbst­ver­ständ­lich – und ist in Zei­ten von Co­ro­na im­mer­hin eine Mög­lich­keit, sich trotz ge­schlos­se­ner Mu­se­en, Kon­zert­sä­le und Opern­häu­ser mit dem „gan­zen Beet­ho­ven“ zu be­schäf­ti­gen. Aber wie war das ei­gent­lich frü­her? Und seit wann gibt es die­ses In­ter­es­se am „gan­zen Beet­ho­ven“?

Die viel­leicht über­ra­schen­de Ant­wort lau­tet: schon seit Beet­ho­vens Leb­zei­ten. Denn dass man die Hin­ter­las­sen­schaf­ten eines gro­ßen Künst­lers nach des­sen Tod als Ge­samt­werk an­sieht und ent­spre­chend wür­digt, mag ja noch an­ge­hen. Aber dass der Schöp­fer selbst diese Idee ver­folgt, zeugt zu­nächst mal von einem ziem­li­chen Selbst­be­wusst­sein, zum an­de­ren spie­gelt sich darin auch ein ge­wis­ser Zeit­geist. Mit dem Zeit­al­ter der Klas­sik wurde die Idee des klas­si­schen, die Zei­ten über­dau­ern­den Kunst­werks po­pu­lär. Au­to­ren wie Chris­toph Mar­tin Wie­land oder Jo­hann Wolf­gang von Goe­the sahen sich ver­an­lasst, kor­rek­te Aus­ga­ben ihrer sämt­li­chen Werke zu ver­öf­fent­li­chen. In der Musik führ­te dies Ende des 18. Jahr­hun­derts zum Auf­kom­men der Oeu­vres Com­plet­tes ge­nann­ten Rei­hen, mit denen neben klei­nen Ver­la­gen wie dem Spehr­schen „Ma­gasin de mu­si­que“ in Braun­schweig oder C. F. Leh­mann in Leip­zig vor allem Breit­kopf & Här­tel die Kla­vier- und kam­mer­mu­si­ka­li­schen Werke be­kann­ter und er­folg­rei­cher Kom­po­nis­ten wie Mo­zart, Haydn oder Cle­men­ti wür­dig­ten.

Kein Wun­der, dass Beet­ho­ven sich mit sei­nem Wunsch nach „einer sämt­lich. Aus­ga­be mei­ner Werke“ im Au­gust 1810 zu­nächst auch an Breit­kopf wand­te – wor­auf­hin ihm der Ver­le­ger al­ler­dings un­miss­ver­ständ­lich klar­mach­te, dass die­ses Pro­jekt kaum rea­lis­tisch war. Schließ­lich lagen viele Kom­po­si­tio­nen Beet­ho­vens ja be­reits bei den un­ter­schied­lichs­ten Ver­la­gen ge­druckt vor, so dass ei­ner­seits recht­li­che Pro­ble­me be­stan­den, an­de­rer­seits kein gro­ßer Ab­satz zu er­war­ten war. Auf die­sen ziel­ten die aus­ge­spro­chen „wohl­fei­len“ Breit­kopf­schen Se­ri­en von Oeu­vres Com­plet­tes näm­lich ab.

Aus die­sen Grün­den soll­ten auch wei­te­re Ver­su­che Beet­ho­vens, bei Sim­rock, Pe­ters, Has­lin­ger oder Schott eine Ge­samt­aus­ga­be sei­ner Werke zu rea­li­sie­ren, er­folg­los blei­ben – was al­ler­dings nicht heißt, dass es zu Leb­zei­ten Beet­ho­vens keine Beet­ho­ven-Ge­samt­aus­ga­be gab! Denn an­de­re Ver­le­ger waren da we­ni­ger skru­pu­lös: So zum Bei­spiel der viel­sei­ti­ge Mu­si­ker und Un­ter­neh­mer Carl Zu­leh­ner in Mainz. Ihm war es näm­lich be­reits zwi­schen 1802 und 1809 ge­lun­gen, „dank un­be­denk­li­cher Aus­nut­zung der ter­ri­to­ria­len Ver­hält­nis­se sei­ner Zeit als ers­ter Ver­le­ger die Idee einer Beet­ho­ven-Ge­samt­aus­ga­be in einem an­sehn­li­chen An­satz“ zu rea­li­sie­ren – wie es der Grand Sei­gneur der Beet­ho­ven-Druck­for­schung Kurt Dorf­mül­ler so schön for­mu­liert.

Wie­ner Zei­tung, 1803. Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Beet­ho­ven Hau­ses Bonn

Das heißt im Klar­text: Zu­leh­ner druck­te in sei­ner Collec­tion com­plet­te des oeu­vres de mu­si­que pour le piano forte com­posées par Louis van Beet­ho­ven ein­fach die be­reits im weit ent­fern­ten Wien, Leip­zig oder Lon­don er­schie­ne­nen Werke des Kom­po­nis­ten nach, ohne sich um Beet­ho­vens Ein­ver­ständ­nis oder die Rech­te der Ori­gi­nal­ver­le­ger zu küm­mern! Beet­ho­ven war dem­entspre­chend „not amu­sed“ und ver­öf­fent­lich­te im Herbst 1803 in Wie­ner und Leip­zi­ger Zei­tun­gen sogar aus­drück­li­che „War­nun­gen“ vor die­sem „Nach­s­te­cher in Maynz“.

Den „gan­zen Beet­ho­ven“ bot Zu­leh­ners Aus­ga­be na­tür­lich nicht: Zum einen, weil sie – wie bei den Oeu­vres Com­plet­tes da­mals üb­lich – auf die gut ver­käuf­li­che Kla­vier- und Kam­mer­mu­sik sowie Kla­vier­lie­der be­schränkt war, zum an­de­ren, weil bis­lang un­ge­druck­te Werke nicht ent­hal­ten waren. Und schließ­lich „fehl­ten“ na­tür­lich auch die zu­künf­ti­gen Werke die­ses 1809 ja auf dem Zenit sei­nes Schaf­fens ste­hen­den Kom­po­nis­ten.

Wie kaum an­ders zu er­war­ten, soll­ten nach Beet­ho­vens Tod im Jahr 1827 zahl­rei­che Ver­la­ge mit „Ge­samt­aus­ga­ben“ un­ter­schied­lichs­ter Art auf den Markt kom­men: Seien es „Beet­ho­ven’s Sin­fo­ni­en“, die zum häus­li­chen Mu­si­zie­ren von Carl Czer­ny für Kla­vier zu 4 Hän­den (bei Probst in Leip­zig) oder Jo­hann Ne­po­muk Hum­mel für Kla­vier­quar­tett (bei Chap­pel & Co in Lon­don) ar­ran­giert er­schie­nen, oder Has­lin­gers groß­an­ge­leg­tes Un­ter­neh­men „Sämt­li­che Werke von Ludw. Van Beet­ho­ven“, das im De­zem­ber 1828 zur Pränu­me­ra­ti­on an­ge­kün­digt wurde. Die in 12 Ab­tei­lun­gen von der Kla­vier­mu­sik über Kam­mer­mu­sik mit und ohne Kla­vier bis hin zu den So­lo­kon­zer­ten (in Par­ti­tur) und den Sym­pho­ni­en (in Stim­men) an­ge­leg­te Aus­ga­be soll­te de facto zwar nicht über 66 Werke in neun Ab­tei­lun­gen hin­aus­kom­men, war aber de­fi­ni­tiv der un­se­ren heu­ti­gen Vor­stel­lung von einer Ge­samt­aus­ga­be am nächs­ten kom­men­de Ver­such. Da Has­lin­ger in seine Aus­ga­be nur Werke auf­nahm, deren Rech­te er besaß oder von an­de­ren Ver­le­gern über­las­sen bekam, war er al­ler­dings zum Schei­tern ver­ur­teilt: Von den Kon­zer­ten er­schien nur Op. 15 in Par­ti­tur, die Sym­pho­ni­en wur­den nach drei Aus­ga­ben (Op. 36, 55 und 60) ein­ge­stellt.

Das ein­zig er­folg­rei­che, plan­mä­ßig ab­ge­schlos­se­ne Pro­jekt einer Ge­samt­aus­ga­be konn­te da­mals nur von einem skru­pel­lo­se­ren Ver­le­ger rea­li­siert wer­den: Franz Phil­ipp Dunst scheint in sei­ner ab 1829 ver­öf­fent­lich­ten Collec­tion Complète des Oeu­vres pour le Pia­no­for­te […] com­posées par Louis van Beet­ho­ven die Rech­te der Ori­gi­nal­ver­le­ger nur wenig be­rück­sich­tigt zu haben, brach­te es dafür aber in­ner­halb we­ni­ger Jahre zu­stan­de, eine Ge­samt­aus­ga­be der Kla­vier- und Kla­vier­kam­mer­mu­sik sowie eine „Voll­stän­di­ge Samm­lung aller Ge­sän­ge mit Be­glei­tung des Kla­vier“ in 4 Ab­tei­lun­gen und 127 Ein­zel­hef­ten vor­zu­le­gen. Mit die­ser Aus­ga­be lie­fer­te er erst­mals den „gan­zen Beet­ho­ven“, den man Zu­hau­se am und um das Kla­vier rea­li­sie­ren konn­te. Dar­un­ter waren im­mer­hin auch Erst­aus­ga­ben wie die Kla­vier­tri­os WoO 38 und 39, deren Echth­heit und Her­kunft Dunst auf einem ei­gens ein­ge­leg­ten Blatt dar­leg­te und un­ter­schrift­lich von Anton Dia­bel­li, Carl Czer­ny und Fer­di­nand Ries be­stä­ti­gen ließ.

 

 

 

 

 

 

 

 

Beet­ho­ven, Ti­tel­sei­ten der Erst­aus­ga­be von WoO 38
Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Beet­ho­ven Hau­ses Bonn

So ganz ne­ben­bei führ­te Dunst bei den kam­mer­mu­si­ka­li­schen Wer­ken auch eine an­de­re nicht ganz un­we­sent­li­che Neue­rung ein: die Kla­vier­stim­me als Par­ti­tur, die das ge­mein­sa­me Mu­si­zie­ren er­heb­lich er­lei­chert und zudem auch die Lek­tü­re des Wer­kes er­laubt. Schön, dass sich diese Art der Dar­stel­lung dau­er­haft durch­ge­setzt hat – so dass wir auch heute trotz ak­tu­ell ein­ge­schränk­ter kul­tu­rel­ler An­ge­bo­te und Mög­lich­kei­ten des ge­mein­sa­men Mu­si­zie­rens zu­min­dest beim Griff in den No­ten­schrank den „gan­zen Beet­ho­ven“ ge­nie­ßen kön­nen.

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