Eine Be­son­der­heit im Ka­ta­log des Hen­le-Ver­lags ist der Um­stand, dass die wis­sen­schaft­li­chen Ge­samt­aus­ga­ben zu­gleich als Basis für prak­ti­sche Ur­text-Aus­ga­ben die­nen – so dass un­se­re blau­en Beet­ho­ven-, Brahms- und Haydn-Aus­ga­ben diese fun­dier­te For­schung seit Jahr­zehn­ten di­rekt an die Mu­si­ke­rin­nen und Mu­si­ker wei­ter­ver­mit­teln. Seit 2016 gilt dies auch und in be­son­de­rem Maße für Béla Bartók: Aus der vor fünf Jah­ren be­gon­ne­nen Kri­ti­schen Ge­samt­aus­ga­be sind schon bei­na­he 20 Hen­le-Ur­text­aus­ga­ben von Bartóks Kla­vier­wer­ken her­vor­ge­gan­gen – aber das ist noch längst nicht alles…

Denn die drei­spra­chig (Un­ga­risch, Eng­lisch und Deutsch) kon­zi­pier­te Bartók-Ge­samt­aus­ga­be er­scheint in Ko­ope­ra­ti­on mit dem re­nom­mier­ten un­ga­ri­schen Ver­lag Edi­tio Mu­si­ca Bu­da­pest (EMB), der sei­ner­seits eben­falls prak­ti­sche Aus­ga­ben für den dor­ti­gen Markt vor­legt.

Zudem lie­gen in der Ge­samt­aus­ga­be mitt­ler­wei­le auch Or­ches­ter- und Chor­wer­ke vor, die von EMB in ver­schie­de­nen For­men für die prak­ti­sche Nut­zung wei­ter­ver­wer­tet wer­den: Seien es Di­ri­gier­par­ti­tur und Stim­men­ma­te­ri­al zum Con­cer­to for Or­ches­tra oder sorg­fäl­tig dis­po­nier­te Chor­par­ti­tu­ren der in Un­garn teils sehr po­pu­lä­ren Vo­kal­wer­ke. Ver­ant­wort­lich dafür ist der Chef­lek­tor von EMB, Márton Kerékfy, zu­gleich Mit­glied der Edi­ti­ons­lei­tung der Ge­samt­aus­ga­be, der uns heute einen klei­nen Ein­blick in die Viel­falt die­ser aus der Ge­samt­aus­ga­be her­vor­ge­hen­den prak­ti­schen Aus­ga­ben gibt.

An­net­te Op­per­mann (AO): Lie­ber Márton, wel­che Rolle spielt Bartók im Ka­ta­log von EMB?

Márton Kerékfy (Foto: An­drea Felvégi)

Márton Kerékfy (MK): EMB hat zwei klas­si­sche Ver­lags­schwer­punk­te: Musik un­ga­ri­scher Kom­po­nis­ten und Un­ter­richts­li­te­ra­tur. Bei­des ver­bin­det sich auf’s Voll­kom­mens­te in päd­ago­gi­schen Wer­ken Bartóks wie Für Kin­der und Mi­kro­kos­mos. Diese bil­den einen Kern des Kla­vier­lehr­plans in Un­garn und sind daher von jeher ein es­sen­ti­el­ler Be­stand­teil un­se­res Ka­ta­logs. Die neu­es­ten EMB-Aus­ga­ben von Für Kin­der und Mi­kro­kos­mos er­schie­nen im Au­gust 2020 und März 2021. Ihr No­ten­text ent­spricht – bis hin zu den An­hän­gen mit frü­he­ren Ver­sio­nen und Über­tra­gun­gen von Bartóks ei­ge­nen Auf­nah­men – exakt dem der Ge­samt­aus­ga­be. Vor­wort und Be­mer­kun­gen sind auf Un­ga­risch und Eng­lisch, wobei der eng­li­sche Text im We­sent­li­chen dem der Hen­le-Ur­text-Aus­ga­ben ent­spricht. Im Ge­gen­satz zu den meis­ten kri­ti­schen Edi­tio­nen be­schrän­ken sich diese Bartók-Aus­ga­ben in ihren Be­mer­kun­gen nicht auf In­for­ma­tio­nen zu Quel­len oder Text­pro­ble­men, son­dern geben auch Auf­schluss über Bartóks No­ta­ti­ons­wei­se und Auf­füh­rungs­pra­xis. Dies ist nach mei­ner Über­zeu­gung ein sehr nütz­li­cher As­pekt un­se­rer Aus­ga­ben.

AO: Und wie un­ter­schei­den sich diese neuen Aus­ga­ben der Kla­vier­wer­ke von frü­he­ren?

MK: Die neuen Aus­ga­ben un­ter­schei­den sich schon rein äu­ßer­lich von den äl­te­ren durch eine an­de­re Auf­tei­lung: Für Kin­der er­scheint in zwei statt vier Bän­den, Mi­kro­kos­mos in drei statt sechs. Jeder Band hat einen in­di­vi­du­el­len, wun­der­schön ge­stal­te­ten Um­schlag. Für die Mi­kro­kos­mos-Bän­de haben wir Ge­mäl­de von Paul Klee aus­ge­wählt. Er war nicht nur per­sön­lich be­kannt mit Bartók, son­dern sein künst­le­ri­scher An­satz weist auch Par­al­le­len zur mu­si­ka­li­schen Idee des Mi­kro­kos­mos auf. Die frü­he­ren, von Bartóks Sohn Peter Bartók her­aus­ge­ge­be­nen Aus­ga­ben bei­der Samm­lun­gen waren Li­zenz-Aus­ga­ben des Ver­lags Boo­sey & Haw­kes (der bis 2016 das Co­py­right dafür hatte), die mit un­ga­ri­schen Vor­wor­ten und An­mer­kun­gen aus­ge­stat­tet wur­den. Die neuen Aus­ga­ben haben ein ganz neues, her­vor­ra­gend ge­stal­te­tes No­ten­bild sowie neue Vor­wor­te und Be­mer­kun­gen. Eine Be­son­der­heit der EMB-Aus­ga­be von Für Kin­der ist zudem, dass sie einen An­hang ent­hält mit den Tex­ten der un­ga­ri­schen und slo­wa­ki­schen Volks­lie­der, auf denen die Stü­cke ba­sie­ren. Auch die Erst­aus­ga­be von Für Kin­der (die zwi­schen 1909 und 1911 in Un­garn er­schien) hatte einen sol­chen An­hang, der bei Bartóks Re­vi­si­on der Samm­lung für eine Neu­aus­ga­be (die 1946 in USA er­schien) aber als über­flüs­sig für ein nicht-un­ga­ri­sches oder nicht-slo­wa­ki­sches Pu­bli­kum er­ach­tet und ge­stri­chen wurde. Die Kennt­nis der Texte zu den Me­lo­di­en ist je­doch ganz we­sent­lich für eine an­ge­mes­se­ne Auf­füh­rung der Stü­cke. Die neue EMB-Aus­ga­be bie­tet daher auch eine eng­li­sche Über­set­zung der Texte.

AO: Wel­che Be­deu­tung hat die Her­stel­lung von Or­ches­ter­ma­te­ri­al nach einem Ge­samt­aus­ga­ben-Band?

MK: Das Con­cer­to for Or­ches­tra ist das erste Or­ches­ter­werk, das in der Bartók-Ge­samt­aus­ga­be er­schie­nen ist. Hin­ter jedem der Bände steht eine enor­me wis­sen­schaft­li­che For­schungs­leis­tung. Aber bei einem Or­ches­ter­werk kön­nen die Er­geb­nis­se die­ser Leis­tung nur dann in die Auf­füh­rungs­pra­xis ein­ge­hen, wenn man ein neues Or­ches­ter­ma­te­ri­al her­stellt. Um­ge­kehrt ist die Er­stel­lung von Or­ches­ter­ma­te­ri­al eine ein­zig­ar­ti­ge Ge­le­gen­heit, den Text der Ge­samt­aus­ga­be in sei­ner Prä­zi­si­on und Prak­ti­ka­bi­li­tät auf die Probe zu stel­len. Im Zuge der Vor­be­rei­tung und Über­prü­fung der Stim­men für das Con­cer­to konn­ten wir sogar ei­ni­ge klei­ne Feh­ler in der Par­ti­tur der Ge­samt­aus­ga­be auf­spü­ren und in der Di­ri­gier­par­ti­tur kor­ri­gie­ren. Bei der Er­stel­lung der Or­ches­ter­stim­men wurde be­son­ders auf ein ge­nau­es und gut les­ba­res No­ten­bild mit sinn­vol­len Stich­no­ten und prak­ti­ka­blen Wen­de­stel­len ge­ach­tet. Ge­tes­tet wur­den die Stim­men dann von der Un­ga­ri­schen Na­tio­nalphil­har­mo­nie, einem welt­be­rühm­ten Or­ches­ter mit ein­ma­li­ger Ex­per­ti­se in Sa­chen Bartók. Di­ri­gier­par­ti­tur und Stim­men sind im glei­chen gro­ßen For­mat (25 × 32,5 cm) ge­hal­ten und auf Pa­pier von be­son­ders hoher Qua­li­tät ge­druckt. Ich denke also, dass das (üb­ri­gens eben­falls sehr gute) äl­te­re Ma­te­ri­al von Boo­sey & Haw­kes in jeder Hin­sicht über­trof­fen wird von dem neuen Auf­füh­rungs­ma­te­ri­al, das über un­se­ren Ver­triebs­part­ner Uni­ver­sal Music Pu­blis­hing Edi­tio Mu­si­ca Bu­da­pest zu be­zie­hen ist.

AO: Was bie­ten die neuen Chor­aus­ga­ben nach der Bartók-Ge­samt­aus­ga­be?

MK: Die neuen Ur­text­aus­ga­ben von Bartóks sämt­li­chen Chor­wer­ken er­schei­nen in un­ter­schied­li­cher Form, genau ab­ge­stimmt auf die Be­dürf­nis­se der ver­schie­de­nen Kun­den­grup­pen – von Schul­kin­dern über Lai­en­chö­re bis hin zu pro­fes­sio­nel­len En­sem­bles, Di­ri­gen­ten, Samm­lern und Bi­blio­the­ken. Zum einen gibt es drei Bände: für Kin­der- und Frau­en­chor, für Män­ner­chor und für ge­misch­ten Chor; zum an­de­ren wird jedes Chor­werk auch ein­zeln ver­öf­fent­licht. Die Aus­ga­ben ent­hal­ten alle ein in­for­ma­ti­ves Vor­wort (in Un­ga­risch, Eng­lisch und Deutsch) sowie Be­mer­kun­gen (in Un­ga­risch und Eng­lisch). Die Be­mer­kun­gen lie­fern einen Über­blick über die ver­schie­de­nen Text- und Volks­mu­sik-Vor­la­gen sowie kom­po­si­to­ri­sche Quel­len und in­for­mie­ren aus­führ­lich über die Auf­füh­rungs­pra­xis der Werke. Zudem bie­tet ein An­hang eng­li­sche Über­set­zun­gen der Texte. All diese zu­sätz­li­chen In­for­ma­tio­nen stel­len ge­gen­über un­se­ren frü­he­ren Aus­ga­ben einen Mehr­wert dar – und ich hoffe sehr, dass die­ser jenen Sän­gern und Di­ri­gen­ten, die des Un­ga­ri­schen, Slo­wa­ki­schen oder Ru­mä­ni­schen nicht mäch­tig sind, den Zu­gang er­leich­tert zu die­sen mu­si­ka­li­schen Pre­zio­sen, die au­ßer­halb Un­garns so wenig be­kannt sind.

Nr. 4 “Lie­bes­lied” aus Un­ga­ri­sche Volks­lie­der für ge­misch­ten Chor a cap­pel­la (mit eng­li­schem und deut­schem Text).

AO: Last but not least: Wer­den die neuen EMB-Aus­ga­ben zu an­de­ren Auf­füh­run­gen oder einem neuem Bartók-Bild füh­ren?

MK: Es ist meine große Hoff­nung, dass diese kor­rek­ten und gut les­ba­ren Par­ti­tu­ren Mu­si­ke­rin­nen und Mu­si­ker mo­ti­vie­ren, ihr Bartók-Re­per­toire zu er­wei­tern und auch we­ni­ger be­kann­te Stü­cke zu ent­de­cken. (Üb­ri­gens fin­det sich in un­se­rer Aus­ga­be mit den Zwei ru­mä­ni­schen Volks­lie­dern für Frau­en­chor sogar ein Werk, das zuvor noch nie ver­öf­fent­licht wurde!) Und ge­ra­de die In­for­ma­tio­nen zu Bartóks No­ta­ti­ons­wei­se und sei­ner Auf­füh­rungs­pra­xis könn­ten sie dabei in­spi­rie­ren, nach einem au­then­ti­sche­ren, aber viel­leicht auch in­di­vi­du­el­le­ren Vor­trag von Bartóks Musik zu stre­ben.

AO: Herz­li­chen Dank für die­ses In­ter­view!

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