Jo­hann Se­bas­ti­an Bach (1685–1750)

Fragt man nach der Quel­len­la­ge zu Wer­ken von Jo­hann Se­bas­ti­an Bach und sucht eine ein­fa­che Ant­wort, so kann man weder be­haup­ten, sie sei aus­ge­spro­chen „gut“ noch „schlecht“. Bachs Kom­po­si­tio­nen sind ganz un­ter­schied­lich über­lie­fert, teils gibt es be­wun­derns­wür­di­ge Rein­schrif­ten wie etwa zur Mat­thä­us-Pas­si­on oder zu den In­ven­tio­nen und Sin­fo­ni­en (siehe auch un­se­re Aus­ga­be HN 589), teils sind sie nur in Ab­schrif­ten über­lie­fert, die letzt­lich sogar die Frage offen las­sen, ob Bach tat­säch­lich der Autor des be­tref­fen­den Wer­kes ist (ein be­rühm­ter Fall: Or­gel­toc­ca­ta d-moll BWV 565, siehe un­se­re Aus­ga­be der Be­ar­bei­tung durch Bu­so­ni HN 1479).

Zu­sätz­lich gibt es et­li­che Werke, die Bach nach der ur­sprüng­li­chen Kom­po­si­ti­on zu einem spä­te­ren Zeit­punkt über­ar­bei­te­te – und aus­ge­rech­net diese Re­vi­si­ons­sta­di­en sind oft un­zu­rei­chend do­ku­men­tiert. So kommt es zu jenen be­rüch­tigt alp­traum­haf­ten Quel­len­la­gen etwa der Sechs Sui­ten für Vio­lon­cel­lo solo BWV 1007–1012 oder der Fran­zö­si­schen Sui­ten BWV 812–817. Dass Bach beide Werke re­vi­dier­te, ist in­zwi­schen all­ge­mein an­er­kannt. Nur hat sich von jenen Re­vi­sio­nen kein Au­to­graph und keine durch­ge­hend zu­ver­läs­si­ge Ab­schrift er­hal­ten. Die Quel­len­la­ge zu den Fran­zö­si­schen Sui­ten stellt sich daher fol­gen­der­ma­ßen dar:

Stem­ma zur Quel­len­la­ge. Hin­ter den Kür­zeln AB ver­ber­gen sich lau­ter Ab­schrif­ten.

Eine wahre Her­aus­for­de­rung für jeden Her­aus­ge­ber (die Ull­rich Schei­de­ler bra­vu­rös meis­tert).

Zum Glück gibt es aber an­de­re Fälle: Auch die Cem­ba­lo­kon­zer­te Bachs wur­den einer Re­vi­si­on un­ter­zo­gen, hier ist aber alles über­ra­schend gut do­ku­men­tiert. Gegen Ende der 1730er Jahre legte Bach eine Par­ti­tur­rein­schrift von sie­ben Cem­ba­lo­kon­zer­ten an (ein ach­tes Kon­zert blieb Frag­ment). No­ta­ti­on und An­la­ge des Ma­nu­skrip­tes zei­gen, dass Bach diese Kon­zer­te als Werk­grup­pe zu­sam­men­stell­te, für wel­chen kon­kre­ten An­lass ist un­be­kannt. Eine at­trak­ti­ve Hy­po­the­se ist, dass sie im Zu­sam­men­hang mit Bachs En­ga­ge­ment für das Leip­zi­ger Col­le­gi­um Mu­si­cum und des­sen Auf­trit­te im Café Zim­mer­mann, einem Vor­läu­fer der Ge­wand­haus­kon­zer­te, ste­hen. Bach griff bei all die­sen Kon­zer­ten auf äl­te­res Ma­te­ri­al zu­rück, und zwar auf So­lo­kon­zer­te für an­de­re In­stru­men­te. Die So­lo­par­ti­en form­te er dabei in einen wir­kungs­vol­len und vir­tuo­sen Kla­vier­satz um, aller Wahr­schein­lich­keit nach für sich selbst, der bei den Auf­trit­ten sein En­sem­ble vom Cem­ba­lo aus lei­te­te. Die Hand­schrift P 234 wäre somit eine Re­per­toire-Samm­lung, die Bach für ei­ge­ne Zwe­cke an­leg­te. Was aber hat das nun mit dem Thema „Re­vi­si­on“ zu tun?

Wie er­wähnt, sah sich Bach bei sei­nen sie­ben Cem­ba­lo­kon­zer­ten mit der Auf­ga­be kon­fron­tiert, Musik für So­lostrei­cher oder -blä­ser in einen Kla­vier­satz zu über­tra­gen. Das ist bei Musik aus jener Zeit leicht ge­macht, wenn man scha­blo­nen­haft vor­geht: Die So­lo­par­tie wan­dert in die rech­te Hand, die linke Hand spielt ein­fach die Linie des Basso Con­ti­nuo mit. Diese ein­fachs­te Art der Be­ar­bei­tung ist auch bei Bach über­lie­fert. In den Vor­wor­ten un­se­rer Ur­text­aus­ga­ben der bei­den ers­ten Kon­zer­te d-moll und E-dur (HN 1380/7380, HN 1381/7381) wer­den der­ar­ti­ge, frü­he­re Be­ar­bei­tungs­sta­di­en auch für die Musik die­ser bei­den Kon­zer­te nach­ge­wie­sen. Als Bach die Sam­mel­hand­schrift P 234 er­stell­te, war er aber schon einen Schritt wei­ter: Die linke Hand über­nimmt in den So­lo­pas­sa­gen deut­lich an­spruchs­vol­le­re Auf­ga­ben als nur den Basso Con­ti­nuo zu ver­dop­peln, siehe etwa T 9 ff. im 1. Satz von BWV 1052.

Kon­zert d-moll BWV 1052, 1. Satz, T. 7–12

Aber damit nicht genug, auch mit der rech­ten Hand gab sich Bach nicht so schnell zu­frie­den. Ihm ging es darum, einen idio­ma­ti­schen Kla­vier­satz zu schrei­ben; vor allem in den lang­sa­men Sät­zen muss­te er etwas tun, um die can­ta­blen Vio­lin- oder Blä­ser­par­ti­en an den schnell ver­klin­gen­den Ton des Cem­ba­los an­zu­pas­sen. Be­son­ders schön sieht man dies im 2. Satz des E-dur-Kon­zer­tes. Hier über­nimmt Bach an vie­len Stel­len in sei­nem Au­to­graph zu­nächst die schlich­te Me­lo­die­li­nie aus dem ur­sprüng­li­chen So­lo­kon­zert und fügt erst in einem zwei­ten Schritt zahl­reich­te Ver­zie­run­gen und Läufe im lee­ren Sys­tem dar­über ein. Er ge­währ­leis­tet damit, dass die sol­cher­art or­na­men­tier­te So­lo­stim­me auch auf dem Cem­ba­lo gut klingt.

Kon­zert E-dur BWV 1053, Si­ci­lia­no, T. 24–31. (Quel­le: D-B Mus.​ms. Bach P 234)

Eine Re­vi­si­on also in­ner­halb des Au­to­graphs, bei der „vor­her-nach­her“ gut zu un­ter­schei­den und die Gül­tig­keit der Über­ar­bei­tung über jeden Zwei­fel er­ha­ben sind. Als er­fah­re­ner Blog-Le­ser ahnen Sie aber, was kommt: Die­ses Re­vi­si­ons­sta­di­um ist lei­der nicht Bachs letz­tes Wort.

So schön die Sam­mel­hand­schrift ist – aus ihr ließ sich im Café Zim­mer­mann un­mög­lich mu­si­zie­ren. Man brauch­te Auf­füh­rungs­ma­te­ri­al: eine So­lo­stim­me sowie Strei­cher­stim­men, die ent­we­der von Bach selbst oder von einem Ko­pis­ten aus der Par­ti­tur ko­piert wur­den. Lei­der ist im Fall der d-moll- und E-dur-Kon­zer­te die­ses ori­gi­na­le Auf­füh­rungs­ma­te­ri­al nicht er­hal­ten. Glück­li­cher­wei­se be­sit­zen wir aber Ab­schrif­ten aus Bachs un­mit­tel­ba­rem Um­feld, und das hält eine Über­ra­schung be­reit. Wäh­rend die Strei­cher­stim­men na­he­zu un­ver­än­dert aus der Par­ti­tur über­nom­men wur­den, sind die So­lo­par­ti­en bei­der Kon­zer­te noch­mals grund­le­gend über­ar­bei­tet wor­den. Einen stich­hal­ti­gen Be­weis, dass Bach diese Über­ar­bei­tung vor­nahm, haben wir nicht. Wer aber sonst hätte es sein kön­nen? Über­dies macht es die Über­lie­fe­rung aus Bachs Zir­kel sehr wahr­schein­lich, dass diese Fas­sun­gen der Cem­ba­lo­stim­me von Bach au­to­ri­siert sind. Neh­men wir noch ein­mal das Si­ci­lia­no aus dem E-dur-Kon­zert als Bei­spiel: Die von Bach in sei­ner ei­ge­nen Par­ti­tur er­gänz­ten Aus­zie­run­gen tau­chen weit­ge­hend auch in der spä­te­ren Ab­schrift auf, es wur­den aber wei­te­re Um­spie­lun­gen und vor allem Or­na­men­te ein­ge­fügt.

Kon­zert BWV 1053, Ab­schrift J.F. Agri­co­la, Si­ci­lia­no, T. 22–31. (Quel­le: D-B Am.B 63)

Also auch bei den Cem­ba­lo­kon­zer­ten hat es Re­vi­sio­nen durch Bach ge­ge­ben, deren letz­te Schrit­te nicht au­to­graph do­ku­men­tiert sind. Im Un­ter­schied zu den Fran­zö­si­schen Sui­ten etwa sind al­ler­dings die er­hal­te­nen Quel­len so zu­ver­läs­sig, dass sich eine Edi­ti­on auf glaub­wür­di­ge Quel­len stüt­zen kann, die keine gro­ßen Pro­ble­me auf­wer­fen. So lie­gen den Hen­le-Ur­text­aus­ga­ben die spä­te­ren Ab­schrif­ten zu­grun­de, das schö­ne Par­ti­tur­au­to­graph hin­ge­gen ist nicht un­se­re Haupt­quel­le. Nur an ganz we­ni­gen Stel­len ver­mu­ten wir, dass bei den zahl­rei­chen Re­vi­si­ons­schrit­ten mög­li­cher­wei­se In­for­ma­ti­on ver­lo­ren ge­gan­gen ist oder fehl­ge­deu­tet wurde. So gibt es etwa eine Stel­le im 3. Satz in BWV 1053, bei der nicht si­cher ist, ob nicht die kor­ri­gier­te au­to­gra­phe Les­art Bachs In­ten­tio­nen nä­her­kommt. In un­se­rer Aus­ga­be weist eine Fuß­no­te dar­auf hin.

Kon­zert E-dur BWV 1053, 3. Satz, T. 14–20.

Die Cem­ba­lo­kon­zer­te Bachs haben also eine span­nen­de Ent­ste­hungs­ge­schich­te hin­ter sich, und das Par­ti­tur­au­to­graph, so wert­voll es ist, gibt in vie­len Tei­len nicht Bachs letz­ten Wil­len wie­der. All das ist in un­se­ren Ur­text­aus­ga­ben der bei­den ers­ten Kon­zer­te nach­zu­le­sen – und die noch feh­len­den fünf Kon­zer­te wer­den in den kom­men­den Jah­ren selbst­ver­ständ­lich fol­gen. Und zur Ent­span­nung nach all den Über­le­gun­gen zu Quel­len und Re­vi­sio­nen hier eine klas­sisch ge­wor­den Auf­nah­me des oben zi­tier­ten, wun­der­ba­ren Si­ci­alia­no.

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Eine Antwort auf »Bachs Cembalokonzerte und ihr Autograph«

  1. Kirmeier Konrad sagt:

    Lieber Herr Müllemann,

    sehr interessanter Beitrag von ihnen!

    Vielen Dank für die gründliche Recherche!

    Mit den Cembalokonzerten von Bach kenne ich mich überhaupt nicht aus, lediglich die sogenannte Aria mit den 30 Veränderungen sagt mir etwas, und eine Revision dürfte da nicht schaden.?.
    Praktiziere diese Musik seit vielen Jahren. Sie ist auf den ersten Blick relativ leicht, aber…
    Mehr Kommentar kann ich als Laie dazu nicht abgeben.

    Viele Grüße
    Konrad Kirmeier

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