Fer­ruc­cio Bu­so­ni (1866–1924)

Kürz­lich hat eine wei­te­re Bach-Bu­so­ni-Aus­ga­be als Hen­le-Ur­text­aus­ga­be ihren Weg auf den Mu­si­ka­li­en­markt ge­fun­den: Die be­rühm­te Or­gel­toc­ca­ta d-moll, deren Be­ginn fast jedes Kind kennt und die Bu­so­ni kon­ge­ni­al auf das Kla­vier über­tra­gen hat.

Mit die­ser Aus­ga­be legen wir die in­zwi­schen vier­te Folge un­se­rer klei­nen Reihe mit Wer­ken aus der Bach-Bu­so­ni-Schmie­de vor. Den An­fang mach­te die vir­tuo­se Be­ar­bei­tung der Vio­lin­cha­conne, ge­folgt von den herr­li­chen Cho­ral­vor­spie­len, unter denen auch sol­che sind, die Hob­by-Pia­nis­ten be­wäl­tigt kön­nen. Prä­lu­di­um und Fuge D-dur setz­te die Reihe fort – und nun also die Toc­ca­ta d-moll. Bei Pia­nis­ten er­freu­en sich all diese Werke größ­ter Be­liebt­heit. Die Kla­vier­welt kann sich zwar wahr­haf­tig nicht über einen Man­gel an Re­per­toire be­kla­gen, aber es geht doch ein un­ge­heu­rer Reiz von der Vor­stel­lung aus, die Vio­lin­cha­conne oder eben die drei klang­mäch­ti­gen Or­gel­wer­ke Bachs auch ein­mal auf dem Kla­vier zu er­kun­den, das kann ich als Frei­zeit-Pia­nist be­stä­ti­gen. Bu­so­nis Be­ar­bei­tun­gen sind fast aus­nahms­los vir­tu­os, aber man kann sich auch als Durch­schnitt­spia­nist an den Klang­wir­kun­gen be­rau­schen, die Bu­so­ni her­vor­zau­bert, indem er ver­sucht, Ei­gen­hei­ten des je­wei­li­gen Ori­gi­nal­in­stru­ments durch raf­fi­nier­te Tricks auf 88 Tas­ten zu über­tra­gen!

Von der Cha­conne und den Cho­ral­vor­spie­len war in zwei Blog-Bei­trä­gen be­reits die Rede. In­zwi­schen hat sich aber her­aus­ge­stellt, dass die Her­aus­ge­ber in allen vier Wer­ken der Reihe immer wie­der mit den glei­chen Pro­blem­stel­lun­gen kon­fron­tiert waren.

Ei­ner­seits gibt es in die­sen Be­ar­bei­tungs­aus­ga­ben Stel­len, an denen der Be­ar­bei­ter Bu­so­ni von sei­ner Ori­gi­nal­vor­la­ge ab­weicht. Dabei muss man sich al­ler­dings hüten, vor­schnell zu ur­tei­len. Denn was hielt Bu­so­ni für das Bach­sche Ori­gi­nal? Ging er viel­leicht von einem an­de­ren Bach-Text aus als wir heute, gut 100 Jahre nach Bu­so­ni? Wel­che Vor­la­gen ver­wen­de­te Bu­so­ni ei­gent­lich? Wo un­ter­lief Bu­so­ni ein Feh­ler, wo folg­te er ein­fach sei­nen Vor­la­gen (die aus heu­ti­ger Sicht nicht immer den „rich­ti­gen“ Text über­lie­fern) und wo wich er ganz be­wusst von Bach ab?

Der zwei­te Pro­blem­kom­plex be­trifft die je­wei­li­ge fi­na­le Werk­ge­stalt die­ser Bach-Bu­so­ni-Aus­ga­ben. Denn Bu­so­ni hatte nach den je­wei­li­gen Erst­aus­ga­ben fast immer das, was man viel­leicht am zu­tref­fends­ten als „se­cond thoughts“ be­zeich­nen könn­te. Er ließ in Nach­auf­la­gen De­tails än­dern, teil­wei­se aber ganze Pas­sa­gen neu ste­chen. Dabei pei­nig­te er oft sei­nen Ver­le­ger Breit­kopf & Här­tel und ver­lang­te, dass die je­wei­li­gen Vor­auf­la­gen vom Markt ge­nom­men wer­den müss­ten. Schließ­lich hatte er um 1910 das Be­dürf­nis, all seine Bach-Be­ar­bei­tun­gen in einer „Bach-Bu­so­ni-Ge­samt­aus­ga­be“ zu ver­ei­nen, wofür Bu­so­ni aber­mals Re­vi­sio­nen vor­nahm. Un­se­re Ur­text­aus­ga­ben legen als Haupt­quel­len na­tür­lich je­weils die Fas­sung letz­ter Hand zu­grun­de, wie sie im 3. Band der „Bach-Bu­so­ni-Ge­samt­aus­ga­be“ 1916 er­schien. Man­che Les­ar­ten der frü­he­ren Aus­ga­ben kur­sie­ren je­doch unter Pia­nis­ten bis heute, auch wenn das si­cher nicht in Bu­so­nis Sinn ge­we­sen wäre.

Aber nun genug der Theo­rie – was heißt das kon­kret im Kon­text un­se­rer neu­es­ten Bach-Bu­so­ni-Aus­ga­be, der Toc­ca­ta d-moll?

Jo­hann Se­bas­ti­an Bach (1685–1750)

Am Be­ginn un­se­rer Ar­beit an die­ser Aus­ga­be stand schon ein gro­ßes Fra­ge­zei­chen: Ist die d-moll-Toc­ca­ta über­haupt von Bach? Bu­so­ni ging davon aus, und daher muss­ten auch un­se­re Her­aus­ge­ber Chris­ti­an Scha­per und Ull­rich Schei­de­ler diese Au­then­ti­zi­täts­fra­ge nicht er­neut auf­rol­len. Ein wenig be­ru­higt waren wir den­noch, dass die neu­es­te Bach-For­schung durch­aus von der Echt­heit des Stücks aus­geht und alles Nicht-Ba­chi­sche damit er­klärt, dass es sich wohl um einen sehr „frü­hen Bach“ han­delt. Ein wei­te­rer Um­stand war au­ßer­ge­wöhn­lich: Stan­den uns bei allen vor­he­ri­gen Be­ar­bei­tun­gen nur die viel­fach kor­ri­gier­ten Erst­aus­ga­ben Bu­so­nis als Quel­len zur Ver­fü­gung, hat­ten wir es bei der Toc­ca­ta end­lich ein­mal mit einem Au­to­graph zu tun, das zudem auch noch Stich­vor­la­ge war! Welch fas­zi­nie­ren­de Ein­bli­cke in Bu­so­nis Ar­beits­pro­zess die­ses Do­ku­ment bie­tet, davon kann man sich auf der Home­page der Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin · Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz über­zeu­gen. Man schaue sich ein­mal die zwei­te No­ten­sei­te mit ihren Durch­strei­chun­gen und Neu­fas­sun­gen an, um einen Ein­druck davon zu be­kom­men, wie Bu­so­ni hier an der ge­eig­ne­ten „Re­gis­trie­rung“ ar­bei­te­te.

Bu­so­ni Au­to­graph zu Toc­ca­ta d-moll, 2. No­ten­sei­te. Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin Preu­ßi­scher Kutl­tur­be­sitz Mus.​Nachl.​F.​Busoni A, 226.

Die fol­gen­de 3. No­ten­sei­te schließ­lich hält eine Über­ra­schung be­reit: Bu­so­ni kleb­te an die­ser Stel­le in sein Au­to­graph einen Schnipp­sel aus einer ge­druck­ten Aus­ga­be der Ori­gi­nal­fas­sung für Orgel ein. Es han­delt sich um den Be­ginn der Fuge, bei dem es ihm mög­li­cher­wei­se zu läs­tig war, die Noten er­neut per Hand aus­zu­schrei­ben, denn der zwei­stim­mi­ge, auf der Orgel ma­nua­li­ter zu spie­len­de Be­ginn konn­te weit­ge­hend wört­lich in die Kla­vier­fas­sung über­nom­men wer­den (man be­ach­te aber auch hier die klei­nen Re­tu­schen Bu­so­nis, die Hand­ver­tei­lung be­tref­fend, aber auch ar­ti­ku­la­to­risch-dy­na­mi­sche Zu­sät­ze wie Stac­ca­to­punk­te – mit dem Hin­weis „non trop­po stac­ca­to“ – oder „mezza voce“, „te­nu­to, quasi le­ga­to“). Mit die­sem ein­ge­kleb­ten Stück Druck­aus­ga­be schien je­den­falls eines klar: Da es sich um die Grie­pen­kerl/Roitzsch-Aus­ga­be (Pe­ters, 1846) han­delt, muss dies wohl Bu­so­nis Be­ar­bei­tungs­vor­la­ge ge­we­sen sein. Wirk­lich? Chris­ti­an Scha­per und Ull­rich Schei­de­ler wei­sen in ihrem Kri­ti­schen Be­richt mi­nu­ti­ös nach, dass trotz die­ser Ein­kle­bung Bu­so­ni in ers­ter Linie dem Text der alten Bach-Ge­samt­aus­ga­be (Breit­kopf & Här­tel, 1867) folgt. Bei der Be­ur­tei­lung et­li­cher Les­ar­ten war diese Er­kennt­nis ent­schei­dend. Warum aber Bu­so­ni dann aus­ge­rech­net einen Aus­schnitt aus einer an­de­ren Aus­ga­be in sein Au­to­graph ein­kleb­te, dafür gibt es keine gute Er­klä­rung.

3. No­ten­sei­te mit Ein­kle­bung. Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin Preu­ßi­scher Kutl­tur­be­sitz Mus.​Nachl.​F.​Busoni A, 226.

Dass Bu­so­ni, wie oben an­ge­deu­tet, an sei­nem Text auch nach der Erst­aus­ga­be aus dem Jahr 1900 wei­ter feil­te, sol­len zwei De­tails ver­deut­li­chen. In T. 92, Zähl­zeit 2 folgt Bu­so­ni in Au­to­graph und Erst­aus­ga­be zu­nächst ziem­lich wört­lich dem Text Bachs.

Au­to­graph, T. 92

Alte Bach Gesmt­aus­ga­be, T. 92

 

 

 

 

 

 

 

In un­se­rer Haupt­quel­le, der „Bach-Bu­so­ni-Ge­samt­aus­ga­be“ und daher auch in un­se­rer Aus­ga­be sieht die Stel­le fol­gen­der­ma­ßen aus:

Ver­si­on in der Bach-Bu­so­ni Ge­samt­aus­ga­be und in der Henle Aus­ga­be, T. 92

Ein re­la­tiv ra­di­ka­ler Ein­griff ge­gen­über dem Ori­gi­nal Bachs, wie ich finde, denn die 16­tel-Ket­te der Ober­stim­me wird somit harsch un­ter­bro­chen. Bu­so­ni war bei sei­ner Ent­schei­dung aber si­cher­lich von einem ge­sun­den Prag­ma­tis­mus ge­lei­tet: Im schnel­len Tempo ist die Neu­fas­sung deut­lich leich­ter spiel­bar, und der op­tisch star­ke Ein­griff fällt in der klang­li­chen Aus­füh­rung kaum ins Ge­wicht. Bu­so­ni ent­fernt sich von Bach, kommt aber uns Pia­nis­ten deut­lich ent­ge­gen. Punk­tu­ell nimmt Bu­so­ni gar Ton­än­de­run­gen ge­gen­über der Vor­la­ge vor, weil sich im Kla­vier­satz Här­ten er­ge­ben, die im wei­te­ren Or­gel­satz we­ni­ger ins Ge­wicht fal­len.

Alte Bach GA, T. 49

Bu­so­ni, Erst­aus­ga­be, T. 49

Bu­so­ni, Re­vi­dier­te Erst­aus­ga­be, T. 49

Schließ­lich strich Bu­so­ni ei­ni­ge we­ni­ge „ad li­bi­tum“-Pas­sa­gen der Erst­aus­ga­be und ent­schied sich in der Bach-Bu­so­ni-Ge­samt­aus­ga­be je­weils für nur eine gül­ti­ge Va­ri­an­te:

Erst­aus­ga­be, T. 89.

Re­vi­dier­te Erst­aus­ga­be, T. 89.

All dies, das ver­steht sich von selbst, ist in un­se­rer Ur­text­aus­ga­be mi­nu­ti­ös nach­ge­wie­sen. Ich kann jedem Pia­nis­ten emp­feh­len, sich den Kri­ti­schen Be­richt ein­mal vor­zu­neh­men und nach­zu­ver­fol­gen, wie Bu­so­ni bei der Be­ar­bei­tung mit sei­ner Bach-Vor­la­ge um­ging. Er selbst sah je­den­falls „seine“ d-moll-Toc­ca­ta als einen Höhe- und Schluss­punkt an. Im Wid­mungs­text Bu­so­nis an den Pia­nis­ten Ro­bert Freund schreibt er: „Mit der Ver­öf­fent­li­chung die­ser ‚Toc­ca­ten‘ be­schlie­ße ich vor­läu­fig eine Reihe ähn­li­cher und ver­wand­ter Ar­bei­ten; die vor­lie­gen­de zähle ich zu mei­nen reifs­ten der Art“.

Warum spricht aber Bu­so­ni von „Toc­ca­ten“? Nun, es war neben der d-moll-Toc­ca­ta BWV 565 auch eine Be­ar­bei­tung von Toc­ca­ta, Ada­gio und Fuge BWV 564 im Druck er­schie­nen. Die gibt es zwar noch nicht im Hen­le-Ur­text, aber un­se­re klei­ne Reihe mag in der Zu­kunft durch­aus eine Fort­set­zung fin­den…

Zum Ab­schluss hier noch eine Auf­nah­me von Clau­di­us Tan­ski und Clai­re Huang­ci.

 

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2 Antworten auf »Bach-Busoni – eine Henle-Erfolgsserie mit Fortsetzungen«

  1. Ullrich Scheideler sagt:

    Ja, warum hat Busoni die Seite mit dem Beginn der Fuge aus der Griepenkerl/Roitzsch-Ausgabe einfach in sein Manuskript eingeklebt? Das haben wir uns als Herausgeber tatsächlich auch gefragt. Vielleicht muss man die Frage aber umdrehen: warum hätte er es nicht tun sollen? Die Ausgabe war für ihn wertlos (philologisch und weil er eben kein Organist war), sie zeigt für die Takte auch keine Unterschiede zum Text der Alten Bach-Gesamtausgabe, und als vielbeschäftigter Künstler war er pragmatisch, sodass er die in den Tonhöhen unverändert auch in seiner Transkription zu spielenden Takte einfach ausschneiden konnte. Denn anders als etwa Reger legte Busoni offensichtlich keinen Wert auf eine Eigenästhetik der Quelle, sie sollte nicht schön aussehen, sondern musste nur den Zweck als Stichvorlage gut erfüllen.

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