Be­reits in mei­nem letz­ten Blog­bei­trag be­rich­te­te ich von un­se­rer jüngst er­schie­ne­nen Neu­aus­ga­be der Blä­ser­s­e­re­na­de op. 44 von Antonín Dvořák (HN 1234) und stell­te vor allem ei­ni­ge De­tails der Be­set­zung in den Mit­tel­punkt, zu denen die au­to­gra­phen Quel­len und zeit­ge­nös­si­schen Kon­zert­be­rich­te in­ter­es­san­te Auf­schlüs­se geben. Doch wieso ent­schied sich Dvořák über­haupt für ein so un­ge­wöhn­li­ches En­sem­ble von 2 Oboen, 2 Kla­ri­net­ten, 2 Fa­got­ten plus Kon­tra­f­a­gott, 3(!) Hör­nern sowie Cello und Kon­tra­bass? Denn im Ent­ste­hungs­jahr 1878 war die Blü­te­zeit der groß­be­setz­ten Har­mo­nie­mu­si­ken längst Ver­gan­gen­heit, und auch wenn ins­be­son­de­re Böh­men mit Kom­po­nis­ten wie Krom­mer, Mys­li­veček, Vanhal, Družecký, Neu­bau­er, Fiala, Dušek u.v.m. zahl­lo­se Bei­trä­ge zu die­sem Re­per­toire ge­lie­fert hatte, ist es un­wahr­schein­lich, dass Dvořák diese Werke kann­te und je ge­hört hatte.

Pro­gramm­zet­tel des Kon­zerts im Pra­ger So­phi­en­saal vom 17. No­vem­ber 1878, aus­schließ­lich Wer­ken Dvořáks ge­wid­met. An drit­ter Stel­le die Blä­ser­s­e­re­na­de, die an die­sem Abend ihre Ur­auf­füh­rung er­leb­te. (Zum Ver­grö­ßern an­kli­cken)

Eine ge­läu­fi­ge und plau­si­ble Er­klä­rung, die wohl auf Dvořáks ers­ten Bio­gra­phen Otakar Šourek zu­rück­geht, lau­tet, dass der Kom­po­nist wäh­rend eines Auf­ent­halts in Wien in einem Kon­zert Mo­zarts so­ge­nann­te Gran Par­ti­ta KV 361 (be­setzt mit zwölf Blä­sern und Kon­tra­bass) hörte und von die­sem Hör­ein­druck zu sei­ner ei­ge­nen Se­re­na­de an­ge­regt wurde.

Diese An­nah­me scheint nicht nur durch die star­ken Par­al­le­len in der Be­set­zung plau­si­bel (Dvořák ver­zich­tet nur auf die da­mals un­ge­bräuch­li­chen Bas­sett­hör­ner und das 4. Horn und ver­stärkt die Bass­grup­pe durch Cello und Kon­tra­f­a­gott), son­dern auch durch di­rek­te mu­si­ka­li­sche Be­zü­ge, etwa die Ähn­lich­keit des lang­sa­men Sat­zes sei­ner Se­re­na­de mit dem ers­ten Ada­gio der Gran Par­ti­ta (heute be­son­ders be­rühmt seit Miloš Form­ans Film Ama­de­us).

Wirk­lich si­cher do­ku­men­ta­risch be­legt ist al­ler­dings nur, dass Dvořák um den Jah­res­wech­sel 1877/78 herum Wien be­such­te und un­mit­tel­bar nach sei­ner Rück­kehr nach Prag mit der Skiz­zie­rung und Nie­der­schrift sei­ner Blä­ser­s­e­re­na­de be­gann. Laut den Da­tie­run­gen in den au­to­gra­phen Quel­len ent­stand das Werk in nur zwei Wo­chen zwi­schen dem 4. und 18. Ja­nu­ar 1878.


Blä­ser­s­e­re­na­de op.44, Skiz­ze; der Ar­beits­be­ginn ist mit 4. Ja­nu­ar 1878 da­tiert.
Prag, Národní kni­hov­na České re­pu­bli­ky, Si­gna­tur 59 R 2151 (voll­stän­di­ge Quel­le an­se­hen)

Wann und wo hätte Dvořák also kurz vor­her die Gran Par­ti­ta hören kön­nen? Aus sei­ner Kor­re­spon­denz mit Jo­han­nes Brahms kön­nen wir dazu ei­ni­ge Hin­wei­se ent­neh­men. Brahms war be­kannt­lich ein gro­ßer Freund der Musik Dvořáks und för­der­te den jün­ge­ren, da­mals noch wenig be­kann­ten und mit­tel­lo­sen Kol­le­gen nach allen Kräf­ten. So hatte er sich dafür ein­ge­setzt, dass Dvořák durch ein ös­ter­rei­chi­sches Staats­sti­pen­di­um fi­nan­zi­ell ab­ge­si­chert wurde, und er ver­mit­tel­te ihn im De­zem­ber 1877 über­dies an sei­nen ei­ge­nen Ver­le­ger Fritz Sim­rock, was dem tsche­chi­schen Kom­po­nis­ten bald große Be­kannt­heit in Deutsch­land ver­schaff­te.

In zwei über­schweng­li­chen Dan­kes­brie­fen Dvořáks an Brahms vom 3. und 19. De­zem­ber 1877 ist al­ler­dings noch keine Rede von einem Tref­fen oder einer ge­plan­ten Reise nach Wien. Am 23. Ja­nu­ar 1878 schreibt ihm Dvořák dann je­doch:

„Hoch­ge­ehr­ter Meis­ter! Ich habe vor un­ge­fähr 3 Wo­chen meine be­ab­sich­tig­te Reise nach Wien an­ge­tre­ten, um Euer Wohl­ge­bo­ren für alle die mir er­wie­se­nen Wohl­ta­ten mei­nen per­sön­li­chen Dank ab­zu­stat­ten. Es war mir sehr leid, daß ich nicht das Ver­gnü­gen hatte, Sie noch vor Ihrer Ab­rei­se nach Leip­zig an­zu­tref­fen.“

Antonín Dvořák – Kor­re­spon­denz und Do­ku­men­te, hrsg. von Milan Kuna u. a., Bd.1, Prag 1987, S.133 f.

Es ist ge­si­chert nach­weis­bar, dass Brahms Wien am 30. De­zem­ber abends ver­ließ und mit dem Nacht­zug nach Leip­zig reis­te, wo er am nächs­ten Vor­mit­tag eine Or­ches­ter­pro­be lei­te­te. Dvořáks ver­geb­li­cher Be­such kann also frü­hes­tens an die­sem Abend statt­ge­fun­den haben. Tat­säch­lich stand genau an die­sem Tag Mo­zarts Gran Par­ti­ta auf dem Pro­gramm eines Mit­tags­kon­zerts der Wie­ner Phil­har­mo­ni­ker, das Dvořák zuvor hätte hören kön­nen. Dies be­le­gen meh­re­re Be­rich­te in der Ta­ges­pres­se eben­so wie das Kon­zert­ar­chiv des Or­ches­ters, siehe die­sen Ein­trag.

Aus einer zeit­ge­nös­si­schen Re­zen­si­on lässt sich zudem er­schlie­ßen, dass nur drei Sätze der Gran Par­ti­ta ge­spielt wur­den, näm­lich die Eck­sät­ze und genau das Ada­gio, das im Cha­rak­ter Dvořáks ei­ge­nem lang­sa­men Satz so äh­nelt:

Si­gna­le für die mu­si­ka­li­sche Welt 1878, Nr. 6, S. 86

Ein wei­te­res ei­gen­tüm­li­ches Indiz spricht eben­falls für Dvořáks Kon­zert­be­such: Laut einem Zei­tungs­be­richt wurde die Gran Par­ti­ta in der be­sag­ten Auf­füh­rung mit Kon­tra­f­a­gott sowie zu­sätz­lich Kon­tra­bass und Celli (sic) be­setzt:

Die Pres­se, 8. Ja­nu­ar 1878, S. 2

Diese un­ge­wöhn­lich star­ke Bass­grup­pe fin­det sich genau in die­ser Form in Dvořáks Au­to­graph der Se­re­na­de wie­der (in der Erst­aus­ga­be ist dann nur noch 1 Cello vor­ge­se­hen), so dass eine di­rek­te Vor­bild­funk­ti­on der Auf­füh­rung gut denk­bar ist.

Einen Pfer­de­fuß gibt es bloß bei die­ser Theo­rie: in genau dem­sel­ben Mit­tags­kon­zert am 30. De­zem­ber wurde auch Brahms’ 2. Sym­pho­nie D-dur ur­auf­ge­führt, in An­we­sen­heit des Kom­po­nis­ten…! Wenn Dvořák die­ses Kon­zert be­such­te, hätte er sich dann wirk­lich die Ge­le­gen­heit eines kur­zen „shake-hands“ mit Brahms, dem ei­gent­li­chen Ziel sei­ner Reise, ent­ge­hen las­sen? Und selbst wenn der zu­rück­hal­ten­de Dvořák diese Kon­takt­auf­nah­me ver­mie­den haben soll­te – hätte er dann nicht we­nigs­tens in sei­nem oben zi­tier­ten Brief ein höf­li­ches Wort über die neue Sym­pho­nie ver­lo­ren? Er er­wähnt sie mit kei­ner Silbe, statt­des­sen be­rich­tet er nur von einer Auf­füh­rung von Brahms’ d-moll-Kla­vier­kon­zert in Prag.

So blei­ben doch noch Zwei­fel daran, dass Dvořák die Gran Par­ti­ta wirk­lich bei die­sem An­lass live ge­hört hat, falls es nicht doch viel­leicht eine wei­te­re Auf­füh­rung in den Tagen nach dem 29. De­zem­ber ge­ge­ben hat. Oder las Dvořák nach­träg­lich die Kon­zert­be­spre­chung und be­sorg­te sich aus In­ter­es­se die Noten zum ei­ge­nen Stu­di­um? Eine Neu­aus­ga­be war im­mer­hin er­hält­lich, die Par­ti­tur war im De­zem­ber 1861 bei Breit­kopf und Här­tel er­schie­nen.

Hof­meis­ters Mo­nats­be­rich­te, De­zem­ber 1861, S. 218

Bis zum Auf­fin­den wei­te­rer Do­ku­men­te muss die Frage also of­fen­blei­ben – si­cher ist nur eines: dass es kaum einen wür­di­ge­ren Nach­fol­ger für die Gran Par­ti­ta gibt als Dvořáks Blä­ser­s­e­re­na­de op. 44…

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