Alexander Skrjabin (1872–1915)

Ich gebe zu, während ich die Überschrift zu diesem Blogbeitrag getippt habe, musste ich kurz nachschauen und mich vergewissern: Skrjabin wird erst 150 Jahre alt? Aber es stimmt. Der russische Pianist und Komponist ist somit nur 2 Jahre älter als z.B. Arnold Schönberg. Obwohl mir völlig klar ist, dass Skrjabins spätere Kompositionen die Grenzen der Tonalität sprengen, hätte ich ihn gefühlsmäßig viel weiter zurück ins 19. Jahrhundert datiert als den Begründer der 12-Ton-Methode. Aber hier soll es nicht um einen Vergleich gehen. Die Verwunderung über das späte Geburtsdatum dient mir nun jedoch als guter Ausgangspunkt, die bisher im G. Henle Verlag erschienenen Skrjabin-Editionen und den Stilwandel in der Musik des russischen Komponisten kurz an mir vorüberziehen zu lassen. Skrjabin – ein Romantiker oder doch ein „Moderner“?

Seine Préludes op. 11 entstanden 1895/96 und sind noch ganz in der Klangwelt der Romantik verwurzelt. Immer wieder werden Vergleiche zu Chopins Préludes op. 28 gezogen, ob zu Recht oder zu Unrecht, mag jeder für sich selbst entscheiden. Auffällig ist jedenfalls, dass Skrjabin, wie auch Chopin, seine Stücke dem Quintenzirkel gemäß anordnet (und nicht etwa chromatisch wie Bach sein Wohltemperiertes Klavier). Trotz zahlreicher virtuoser Nummern sind in dieser Sammlung etliche Préludes enthalten, die auch schon im Klavierunterricht gespielt werden können und sich als idealer Einstieg in Skrjabins Klangwelt eignen.

Aus ungefähr der gleichen Zeit stammt ein Kuriosum im Henle-Skrjabin-Programm: Das Prélude und Nocturne op. 9 für die linke Hand. Auch hier eine romantisch-schwärmerische Klangsprache, allerdings fragt man sich sowohl beim Hören als auch beim Blick auf die Noten, wie eine Hand (ausgerechnet die Linke) ausreichen soll, um diese Musik wortwörtlich in den Griff zu bekommen! Ich persönlich wäre auch mit zwei Händen schon gut beschäftigt…

Schließlich vervollständigt eine kleine Kostbarkeit das Bild des „romantischen“ Skrjabin in unserem Katalog, eine Romance für Horn und Klavier, zu Lebzeiten des Komponisten zwar nicht erschienen, aber vermutlich gleichfalls in der Mitte der 1890er Jahre komponiert. Ein bezauberndes Stück Kammermusik:

Als den eigentlichen Kern von Skrjabins Schaffen kann man jedoch seine zehn vollendeten Klaviersonaten bezeichnen – und mit ihnen kann man sich auf eine Entdeckungsreise hinein in den Stilwandel begeben, den Skrjabin allmählich vollzog. Auch die frühen Sonaten stehen noch in der spätromantischen Tradition, doch spätestens mit der 5. Sonate (HN 1111, Youtube) begann der Komponist mit Klängen zu experimentieren, die das tonale System an seine Grenzen führen. Skrjabin zaubert unerhörte Klangfarben aus dem Klavier, mystisch-suggestive Klangbilder, die einen ganz eigenen Sog erzeugen. Eine meiner Lieblingssonaten ist die einsätzige neunte Sonate, die scheinbar harmlos beginnt und endet (allerdings verheißt die schleichende Chromatik Unheil…). Zwischen diesen beiden Polen entfacht Skrjabin jedoch ein kurzes, dafür umso packenderes, verstörendes Drama:

Alle 10 Sonaten erschienen über viele Jahre hinweg in Einzelausgaben, in minutiös vorbereiteten Urtextausgaben im G. Henle Verlag. Als Herausgeberin zeichnet – wie bei all unseren Skrjabin-Klavierausgaben – Valentina Rubcova verantwortlich, die Skrjabin-Expertin schlechthin aus Moskau. Als Krönung dieses Mammutprojektes erschien 2019 der Sammelband mit allen 10 Sonaten, dazu siehe auch den damaligen Blogbeitrag. Er bietet die einmalige Gelegenheit, die kompositorische Entwicklung Skrjabins vom Romantiker bis zum „Neutöner“ Schritt für Schritt nachzuverfolgen.

Einen besonderen Akzent setzt schließlich ein spätes Einzelstück Skrjabins: Vers la flamme, das im Zusammenhang mit Skrjabins Großprojekt „Mysterium“ entstand. Der Titel spricht für sich, und zum Kulminationspunkt hin türmt Skrjabin Klangmassen auf, die ihresgleichen suchen:

Wer sich schließlich für Skrjabins traumhaft klare Handschrift interessiert, dem sei das aufwendig hergestellte Faksimile zur 7. Klaviersonate ans Herz gelegt, ein wahrer Augenschmaus!

Als Skrjabin-Lektor im G. Henle Verlag blicke ich mit Stolz auf dieses Bündel an Ausgaben: zum 150. Geburtstag des Komponisten ein repräsentativer Querschnitt durch sein Schaffen! Und die Frage nach „Romantik“ oder „Moderne“ geht klar unentschieden aus. Die Musik Skrjabins ist ein faszinierendes Phänomen aus einer Zeit des Übergangs. Fest in der Spätromantik verwurzelt, bricht sie auf in neue Welten.

„Haben Sie denn gar nichts Neues?“ wird nun manch einer fragen… Doch, haben wir. Bald, im April, erscheinen die Etüden op. 8 und schlagen damit wieder einen Bogen zum romantischen Frühwerk. Als Appetizer bieten wir Ihnen schon jetzt die berühmteste, die dis-moll-Etüde in einer Einzelausgabe an. Und um zu zeigen, dass es auch in dieser Ausgabe wieder unerwartete Textfragen zu entdecken gibt (wie es sich für eine Urtextausgabe gehört), hier ein kleiner Einblick in den Schluss dieser Etüde. Mich hat es nicht wenig erstaunt, dass der donnernde Höhepunkt, den wir alle im Ohr haben, nicht Skrjabins ursprüngliche Konzeption widerspiegelt. Man hört diese letzten Takte heute so:

In Skrjabins Autograph steht hingegen Folgendes:

Welche Fassung entspricht Skrjabins Absicht wohl am meisten? Zu dieser Frage mehr in meinem nächsten Blogbeitrag am 9. Mai!

 

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