In seinem Dankesbrief an die Gratulanten zu seinem 75. Geburtstag äußerte Arnold Schönberg im September 1949, er habe sich damit abgefunden, dass er auf volles Verständnis für sein Werk bei seinen Lebzeiten nicht mehr rechnen darf, und überschrieb seine teils schmerzlich-bitteren, teils selbstbewusst-stolzen Äußerungen mit der schlagzeilenartigen Formel „Erst nach dem Tode anerkannt werden —-!“. Die Prophezeiung des Komponisten ist, wie wir heute wissen, bereits relativ schnell nach seinem Tod 1951 eingetroffen, gilt er doch spätestens seit den 1970er Jahren unbestritten als einer der maßgeblichsten Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch wenn die Zahl der Aufführungen seiner Musik nach wie vor nicht mit dieser weltweiten Anerkennung Schritt hält.
Es war daher keine Frage, dass Schönberg nach Ablauf der Urheberschutzfrist mit bedeutenden Klavier- und Kammermusikwerken ins Programm des G. Henle-Verlags aufgenommen würde. Erschienen sind bereits: Drei Klavierstücke op. 11 (HN 1546), Sechs kleine Klavierstücke op. 19 (HN 1547), Suite für Klavier op. 25 (HN 1548) sowie das Streichquartett Nr. 2 op. 10 (HN 1542, Studien-Edition HN 7542). In Vorbereitung befinden sich weitere Titel, darunter das berühmte Streichsextett „Verklärte Nacht“ (HN 1565, Studien-Edition HN 7565).
Alle genannten Werke stellen bedeutende Wegmarken im Schaffen Schönbergs dar, das 1907/08 entstandene 2. Streichquartett geht allerdings in seiner Bedeutung weit darüber hinaus: Leitet es doch, wie der Herausgeber und Schönberg-Spezialist Ullrich Scheideler in seinem Vorwort schreibt, „eine grundlegende Wende in der Musikgeschichte“ ein, indem insbesondere im letzten Satz die über Jahrhunderte hinweg gültige Dur-Moll-Tonalität aufgegeben wurde. Das Streichquartett markiert demnach den Übergang zur später sogenannten Atonalität, zu der auch in denselben Jahren entstandenen Kompositionen wie die Fünfzehn Gedichte aus „Das Buch der hängenden Gärten“ von Stefan George op. 15 oder die bereits erwähnten Drei Klavierstücke op. 11 gehören.

Beginn des 4. Satzes „Entrückung“ in der autographen Partitur (Washington, Library of Congress); endgültige Tempoangabe: Sehr langsam (gehende Achtel)
Die Aufgabe des Dur-Moll-Tonsystems fiel natürlich nicht vom Himmel, vielmehr hatte sich die Auflösung der tradierten Tonalität bei Schönberg selbst (etwa in der Kammersymphonie Nr. 1 op. 9), aber auch bei mehreren zeitgenössischen Komponisten in Werken ab etwa 1900 abgezeichnet. Allerdings war er der Erste, der den entscheidenden Schritt zur Lösung der Musik von allen Bindungen an einen Grundton unternahm. Schönberg selbst begründete diesen Schritt mit einem Ausdrucksbedürfnis, dem die traditionelle Harmonik trotz aller in den Jahren davor erfolgten Erweiterungen nicht mehr gerecht werden konnte – insofern für ihn also eine logische Konsequenz aus dem musikgeschichtlichen Verlauf.
Schönberg war sich der besonderen Rolle und Stellung seines Streichquartetts bewusst, was unter anderem dazu führte, dass er den Notentext mehrfach einer Revision unterwarf. Stimmen- und Partiturausgaben gingen getrennte Wege, überdies wird die Quellenlage durch eine autographe Reinschrift, die Schönberg für seine Frau Mathilde anfertigte, mit ganz eigenen Lesarten zusätzlich erweitert, so dass sich insgesamt ein überaus komplexes Gesamtbild ergibt. Zwar nimmt der Herausgeber die am Ende des langen Revisionsprozesses stehende Ausgabe von 1937 als naheliegende Hauptquelle, muss aber frühere Ausgaben bzw. Handschriften als Nebenquellen mitberücksichtigen. Die Unterschiede bei den Lesarten betreffen bevorzugt Artikulation und Dynamik, in einigen Fällen aber auch Tonhöhen. Anhand von Fußnoten und den relativ zahlreichen Einzelbemerkungen sollten nun alle möglichen Fragen zum Notentext zu klären sein.

Ausschnitt aus dem dreisprachigen Glossar der Henle-Edition für die zahlreichen Vortragsanweisungen
Der Übergang zur Atonalität, die passagenhaft bereits im 2. und 3. Satz aufblitzt, um im Finale durch die fehlende Generalvorzeichnung deutlich als Maßgabe für den kompletten Satz zu gelten, ist in diesem 2. Streichquartett allerdings nicht der einzige Bruch mit der Gattungsgeschichte. In den beiden letzten Sätzen tritt zu den vier Streichern eine Sopranistin hinzu, die zwei Gedichte von Stefan George vorträgt. Der Zusatz einer Singstimme in einem Streichquartett – der angesehensten Gattung der Kammermusik – war zwar nicht ganz neu, aber doch unerwartet. Die Textvorlagen für die Vertonung stammen aus Georges 1907 veröffentlichtem Band „Der siebente Ring“, in dem in elitären Sprachbildern Gegensätze von irdischen Erfahrungen und visionären Aufbrüchen thematisiert werden.
Es fällt schwer, Schönbergs Wahl der beiden Gedichte „Litanei“ als Textgrundlage für den 3. Satz und „Entrückung“ für den 4. Satz nicht mit der Krisensituation im Sommer 1908 in Verbindung zu bringen. Einerseits hatte ihn die vehemente Ablehnung seiner Werke bei Publikum und Kritik im Jahr zuvor tief getroffen und verunsichert. Andererseits hatte sich eine vermutlich schon länger schwelende Ehekrise zugespitzt, als Mathilde mit dem Maler Richard Gerstl (der Schönberg Malunterricht gegeben hatte) durchbrannte und erst durch Vermittlung von Freunden zu ihrem Mann zurückkehrte. Zeilen wie „Tief ist die trauer, die mich umdüstert“ oder „Nimm mir die liebe, gieb mir dein Glück!“ aus „Litanei“ auf der einen Seite, „Ich fühle luft von anderem planeten“ oder „Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“ aus „Entrückung“ auf der anderen Seite veranschaulichen gleichsam Momente dieser Krisensituation und ihrer Lösung.

„Entrückung“ aus der Originalausgabe von Georges Lyrikzyklus „Der siebente Ring“ (1907)
Die Henle-Edition trägt der Besonderheit eines Streichquartetts mit Sopranstimme insofern Rechnung, als die Textvorlagen dreisprachig (deutsch-englisch-französisch) abgedruckt werden und die Sopranstimme (mit einem neuen Klavierauszug von Jan Philip Schulze) den Streicherstimmen HN 1542 beigelegt ist, aber auch separat als HN 1615 erhältlich ist.
Nicht unerwähnt bleiben soll die Hilfe von Therese Muxeneder, der Archivarin des Arnold Schönberg Centers in Wien, bei der Quellenbeschaffung und Auskünften dazu sowie von Henk Guittart, dem langjährigen Bratscher des Schönberg-Quartetts, der wertvolle Tipps für Textdetails und Wendestellen beisteuerte.
Wer jetzt Lust bekommen hat, sich das 2. Streichquartett Schönbergs anzuhören, dem sei die Aufnahme auf der Homepage des Arnold Schönberg Centers empfohlen.
Die in meinen Ohren schönste Musik, die je komponiert resp. zu Gehör gebracht wurde, ist das 2. Streichquartett von Schönberg. Mich faszinieren auch die 5 Orchesterstücke op. 16, die Variationen für Orchester, der Pierrot Lunaire, das Streichtrio op. 45, und selbstverständlich auch die meisten spätromantischen Werke; aber keines liebe ich so wie das 2. Streichquartett.
Wenn es um ästhetische Erfahrungen und Wahrheiten in der Musik, nicht bloß um technische Details, Fachsimpelei geht, sollte man sich über die Rezeptionsschwierigkeit unterhalten, warum Schönberg es den Hörern so schwer macht, obwohl für die Musikgeübten, Experten und erfahrenes Konzertpublikum, inzwischen der Rang dieser Musik außer Zweifel steht.
Ich sehe dafür zwei fundamentale Gründe, einen syntaktisch-formalen und einen semantisch-inhaltlichen. Die syntaktische Schwierigkeit liegt in der Komplexität von Schönbergs Kompositionen, das betrifft schon den frühen, spätromantischen Schönberg, fällt allerdings nicht so ins Gewicht, weil die Musiksprache eingeübt ist, die Musik ist von Beethoven bis Mahler immer komplexer geworden, hat sich klanglich differenziert und die Dimensionen gesprengt, die Aufmerksamkeitsspanne erweitert. Bei Wagner muß man mehrere Tage zuhören, bei den Gurreliedern ist die Konzentrationsanforderung auf die Spitze getrieben. Aber im Grunde alles eingängige Musik. Die “Verklärte Nacht” war für das Premierenpublikum schon zu viel des Guten, aber es hat nicht lange gedauert, bis die Hörer sich an die Differenziertheit und Mehrdeutigkeit dieser komplexen Musik gewöhnt hatten und Zugang zu ihrer Schönheit fanden. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, daß diese Musik einen Skandal auslöste.
Die zweite Schwierigkeit ist sehr viel gravierender, der atonale Schönberg wird nach wie vor von vielen degoutiert. Eine Schwierigkeit, die nicht nur in einer quantitativen Überforderung liegt, sondern in einer qualitativen Blockade. Musik ist Organisation akustischer Ereignisse, aber unsere tonale Musik beruht auf der Grundlage des Verständnisses von Spannung und Entspannung, hat immer den Naturklang der harmonischen Schwingungen zur Basis, man kann hier vom musikalischen Naturschönen reden. Die Semantik der tonalen Musiksprache beruht auf dieser Naturbasis. Schon die spätromantische Musik ist anspruchsvoller als die der klassische Phase, weil sie die Spannung bis zur tonalen Grenze treibt, die Disharmonie ist die angespannte Harmonie (es gibt im Grunde keine Disharmonie, nur unterschiedlich gespannte Harmonien). Es ist der Sprung in die Atonalität, der Schwierigkeiten bereitet, ein harmonisches oder melodisches Intervall nicht mehr auf seine Nähe oder Ferne zum Einklang zu beziehen, also von dieser Naturbasis zu befreien, was umgekehrt als totaler Sinnverlust empfunden werden kann. Um atonale Musik verstehen zu können, muß man die Urerfahrung gemacht haben, daß man sich ganz von der tonalen Tonverwandtschaft lösen kann, erst damit wird die musikalische Sprache abstrakt, frei wie die Logik, ohne inhaltliche Vorgaben, die kleine Sekunde hat gegenüber der großen Terz oder dem Tritonus keine Vorbedeutung, keinen Inhalt an-sich.
Freilich, Schönberg ist alles andere als ein Formalist. Musikalische Kunst ist (für ihn) kein sinnfreies Spiel der Formen. Er sucht den maximalen Ausdruck. Das tut die tonale Musik mit einem mimetischen Moment, naturimitierend. In der atonalen Musik kann man etwa “Süße” nicht mit einer natürlichen Analogie beschreiben wie in Beethovens “Merkenstein” oder in “Oh, mein Papa” mit süßen Terzen, die atonalen Terzen sind nicht mehr süß, man muß sie ohne Analogien zu etwas Süßem machen, einen solchen Gestus erzeugen. Andrerseits, wenn man Musik als Sprache des Gefühls versteht, ist das auch leichter als es den Anschein hat, denn Gefühle sind selbst abstrakt, und daher mit einem abstrakten Ausdrucksmittel vielleicht sogar vollkommener, präziser beschreibbar.
Die Frage nach den Gründen für die Rezeptionsschwierigkeit der Schönberg’schen Musik scheint mir in der Tat nicht leicht zu beantworten. Eine Antwort dürfte freilich auch je nach Werk verschieden ausfallen. Schon Alban Berg hat sich 1924 mit diesem Problem auseinandergesetzt und dabei u. a. die Dichte des musikalischen Satzes (und damit die Überforderung, weil zu viel auf einmal passiert) benannt, daneben dasjenige, was wir musikalische Prosa nennen, also die Abweichung von einer thematischen Syntax, die sich in regelmäßige viertaktigen Einheiten gliedert, die auf motivischen und harmonischen Entsprechungen beruhen (wie bei Mozart und noch dem frühen Wagner). Mit der „Naturbasis“ zu argumentieren, ist natürlich immer schwierig, weil bereits das temperierte System zur Ermöglichung der Chromatik nicht natürlich, sondern höchst künstlich ist und uns zur zweiten Natur geworden ist. Und als Filmmusik verwendet, sind wir ebenfalls viel toleranter und haben keine Schwierigkeit, bestimmte Klänge als angemessen zu goutieren.
Dass Schönberg an der Ausdrucksidee stets festgehalten hat, ist sicher ein sehr wichtiges Moment seiner Poetik. Entscheidend ist vielleicht, dass dieser Ausdruck eben nicht immer schön, sondern vor allem wahrhaftig sein sollte, nichts von dem verschweigen soll, was brüchig und inkompatibel, auch hässlich ist. Im II. Streichquartett wird allerdings am Ende des Finalsatzes noch so etwas wie ein versöhnlicher und verklärender Ton (Fis-Dur!) angeschlagen. Aus diesem Grund würde ich zustimmen, dass das Werk mindestens schöne Stellen enthält.