Ar­nold Schön­berg (1874–1951), Auf­nah­me um 1908

In sei­nem Dan­kes­brief an die Gra­tu­lan­ten zu sei­nem 75. Ge­burts­tag äu­ßer­te Ar­nold Schön­berg im Sep­tem­ber 1949, er habe sich damit ab­ge­fun­den, dass er auf vol­les Ver­ständ­nis für sein Werk bei sei­nen Leb­zei­ten nicht mehr rech­nen darf, und über­schrieb seine teils schmerz­lich-bit­te­ren, teils selbst­be­wusst-stol­zen Äu­ße­run­gen mit der schlag­zei­len­ar­ti­gen For­mel „Erst nach dem Tode an­er­kannt wer­den —-!“. Die Pro­phe­zei­ung des Kom­po­nis­ten ist, wie wir heute wis­sen, be­reits re­la­tiv schnell nach sei­nem Tod 1951 ein­ge­trof­fen, gilt er doch spä­tes­tens seit den 1970er Jah­ren un­be­strit­ten als einer der maß­geb­lichs­ten Kom­po­nis­ten in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts – auch wenn die Zahl der Auf­füh­run­gen sei­ner Musik nach wie vor nicht mit die­ser welt­wei­ten An­er­ken­nung Schritt hält.

Es war daher keine Frage, dass Schön­berg nach Ab­lauf der Ur­he­ber­schutz­frist mit be­deu­ten­den Kla­vier- und Kam­mer­mu­sik­wer­ken ins Pro­gramm des G. Hen­le-Ver­lags auf­ge­nom­men würde. Er­schie­nen sind be­reits: Drei Kla­vier­stü­cke op. 11 (HN 1546), Sechs klei­ne Kla­vier­stü­cke op. 19 (HN 1547), Suite für Kla­vier op. 25 (HN 1548) sowie das Streich­quar­tett Nr. 2 op. 10 (HN 1542, Stu­di­en-Edi­ti­on HN 7542). In Vor­be­rei­tung be­fin­den sich wei­te­re Titel, dar­un­ter das be­rühm­te Streich­sex­tett „Ver­klär­te Nacht“ (HN 1565, Stu­di­en-Edi­ti­on HN 7565).

Alle ge­nann­ten Werke stel­len be­deu­ten­de Weg­mar­ken im Schaf­fen Schön­bergs dar, das 1907/08 ent­stan­de­ne 2. Streich­quar­tett geht al­ler­dings in sei­ner Be­deu­tung weit dar­über hin­aus: Lei­tet es doch, wie der Her­aus­ge­ber und Schön­berg-Spe­zia­list Ull­rich Schei­de­ler in sei­nem Vor­wort schreibt, „eine grund­le­gen­de Wende in der Mu­sik­ge­schich­te“ ein, indem ins­be­son­de­re im letz­ten Satz die über Jahr­hun­der­te hin­weg gül­ti­ge Dur-Moll-To­na­li­tät auf­ge­ge­ben wurde. Das Streich­quar­tett mar­kiert dem­nach den Über­gang zur spä­ter so­ge­nann­ten Ato­na­li­tät, zu der auch in den­sel­ben Jah­ren ent­stan­de­nen Kom­po­si­tio­nen wie die Fünf­zehn Ge­dich­te aus „Das Buch der hän­gen­den Gär­ten“ von Ste­fan Ge­or­ge op. 15 oder die be­reits er­wähn­ten Drei Kla­vier­stü­cke op. 11 ge­hö­ren.

Be­ginn des 4. Sat­zes „Ent­rü­ckung“ in der au­to­gra­phen Par­ti­tur (Wa­shing­ton, Li­bra­ry of Con­gress); end­gül­ti­ge Tem­po­an­ga­be: Sehr lang­sam (ge­hen­de Ach­tel)

Die Auf­ga­be des Dur-Moll-Ton­sys­tems fiel na­tür­lich nicht vom Him­mel, viel­mehr hatte sich die Auf­lö­sung der tra­dier­ten To­na­li­tät bei Schön­berg selbst (etwa in der Kam­mer­sym­pho­nie Nr. 1 op. 9), aber auch bei meh­re­ren zeit­ge­nös­si­schen Kom­po­nis­ten in Wer­ken ab etwa 1900 ab­ge­zeich­net. Al­ler­dings war er der Erste, der den ent­schei­den­den Schritt zur Lö­sung der Musik von allen Bin­dun­gen an einen Grund­ton un­ter­nahm. Schön­berg selbst be­grün­de­te die­sen Schritt mit einem Aus­drucks­be­dürf­nis, dem die tra­di­tio­nel­le Har­mo­nik trotz aller in den Jah­ren davor er­folg­ten Er­wei­te­run­gen nicht mehr ge­recht wer­den konn­te – in­so­fern für ihn also eine lo­gi­sche Kon­se­quenz aus dem mu­sik­ge­schicht­li­chen Ver­lauf.

Schön­berg war sich der be­son­de­ren Rolle und Stel­lung sei­nes Streich­quar­tetts be­wusst, was unter an­de­rem dazu führ­te, dass er den No­ten­text mehr­fach einer Re­vi­si­on un­ter­warf. Stim­men- und Par­ti­tur­aus­ga­ben gin­gen ge­trenn­te Wege, über­dies wird die Quel­len­la­ge durch eine au­to­gra­phe Rein­schrift, die Schön­berg für seine Frau Mat­hil­de an­fer­tig­te, mit ganz ei­ge­nen Les­ar­ten zu­sätz­lich er­wei­tert, so dass sich ins­ge­samt ein über­aus kom­ple­xes Ge­samt­bild er­gibt. Zwar nimmt der Her­aus­ge­ber die am Ende des lan­gen Re­vi­si­ons­pro­zes­ses ste­hen­de Aus­ga­be von 1937 als na­he­lie­gen­de Haupt­quel­le, muss aber frü­he­re Aus­ga­ben bzw. Hand­schrif­ten als Ne­ben­quel­len mit­be­rück­sich­ti­gen. Die Un­ter­schie­de bei den Les­ar­ten be­tref­fen be­vor­zugt Ar­ti­ku­la­ti­on und Dy­na­mik, in ei­ni­gen Fäl­len aber auch Ton­hö­hen. An­hand von Fuß­no­ten und den re­la­tiv zahl­rei­chen Ein­zel­be­mer­kun­gen soll­ten nun alle mög­li­chen Fra­gen zum No­ten­text zu klä­ren sein.

Aus­schnitt aus dem drei­spra­chi­gen Glos­sar der Hen­le-Edi­ti­on für die zahl­rei­chen Vor­trags­an­wei­sun­gen

Der Über­gang zur Ato­na­li­tät, die pas­sa­gen­haft be­reits im 2. und 3. Satz auf­blitzt, um im Fi­na­le durch die feh­len­de Ge­ne­ral­vor­zeich­nung deut­lich als Maß­ga­be für den kom­plet­ten Satz zu gel­ten, ist in die­sem 2. Streich­quar­tett al­ler­dings nicht der ein­zi­ge Bruch mit der Gat­tungs­ge­schich­te. In den bei­den letz­ten Sät­zen tritt zu den vier Strei­chern eine So­pra­nis­tin hinzu, die zwei Ge­dich­te von Ste­fan Ge­or­ge vor­trägt. Der Zu­satz einer Sing­stim­me in einem Streich­quar­tett – der an­ge­se­hens­ten Gat­tung der Kam­mer­mu­sik – war zwar nicht ganz neu, aber doch un­er­war­tet. Die Text­vor­la­gen für die Ver­to­nung stam­men aus Ge­or­ges 1907 ver­öf­fent­lich­tem Band „Der sie­ben­te Ring“, in dem in eli­tä­ren Sprach­bil­dern Ge­gen­sät­ze von ir­di­schen Er­fah­run­gen und vi­sio­nä­ren Auf­brü­chen the­ma­ti­siert wer­den.

Ste­fan Ge­or­ge (1868–1933)

Es fällt schwer, Schön­bergs Wahl der bei­den Ge­dich­te „Li­ta­nei“ als Text­grund­la­ge für den 3. Satz und „Ent­rü­ckung“ für den 4. Satz nicht mit der Kri­sen­si­tua­ti­on im Som­mer 1908 in Ver­bin­dung zu brin­gen. Ei­ner­seits hatte ihn die ve­he­men­te Ab­leh­nung sei­ner Werke bei Pu­bli­kum und Kri­tik im Jahr zuvor tief ge­trof­fen und ver­un­si­chert. An­de­rer­seits hatte sich eine ver­mut­lich schon län­ger schwe­len­de Ehe­kri­se zu­ge­spitzt, als Mat­hil­de mit dem Maler Ri­chard Gerstl (der Schön­berg Mal­un­ter­richt ge­ge­ben hatte) durch­brann­te und erst durch Ver­mitt­lung von Freun­den zu ihrem Mann zu­rück­kehr­te. Zei­len wie „Tief ist die trau­er, die mich um­düs­tert“ oder „Nimm mir die liebe, gieb mir dein Glück!“ aus „Li­ta­nei“ auf der einen Seite, „Ich fühle luft von an­de­rem pla­ne­ten“ oder „Ich bin ein dröh­nen nur der hei­li­gen stim­me“ aus „Ent­rü­ckung“ auf der an­de­ren Seite ver­an­schau­li­chen gleich­sam Mo­men­te die­ser Kri­sen­si­tua­ti­on und ihrer Lö­sung.

 

„Ent­rü­ckung“ aus der Ori­gi­nal­aus­ga­be von Ge­or­ges Ly­rik­zy­klus „Der sie­ben­te Ring“ (1907)

Die Hen­le-Edi­ti­on trägt der Be­son­der­heit eines Streich­quar­tetts mit So­pran­stim­me in­so­fern Rech­nung, als die Text­vor­la­gen drei­spra­chig (deutsch-eng­lisch-fran­zö­sisch) ab­ge­druckt wer­den und die So­pran­stim­me (mit einem neuen Kla­vier­aus­zug von Jan Phi­lip Schul­ze) den Strei­cher­stim­men HN 1542 bei­ge­legt ist, aber auch se­pa­rat als HN 1615 er­hält­lich ist.

Nicht un­er­wähnt blei­ben soll die Hilfe von The­re­se Mu­xe­neder, der Ar­chi­va­rin des Ar­nold Schön­berg Cen­ters in Wien, bei der Quel­len­be­schaf­fung und Aus­künf­ten dazu sowie von Henk Guitt­art, dem lang­jäh­ri­gen Brat­scher des Schön­berg-Quar­tetts, der wert­vol­le Tipps für Text­de­tails und Wen­de­stel­len bei­steu­er­te.

Wer jetzt Lust be­kom­men hat, sich das 2. Streich­quar­tett Schön­bergs an­zu­hö­ren, dem sei die Auf­nah­me auf der Home­page des Ar­nold Schön­berg Cen­ters emp­foh­len.

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2 Antworten auf »Ein Meilenstein in der Musikgeschichte: Schönbergs 2. Streichquartett op. 10«

  1. Wolfgang Endemann sagt:

    Die in meinen Ohren schönste Musik, die je komponiert resp. zu Gehör gebracht wurde, ist das 2. Streichquartett von Schönberg. Mich faszinieren auch die 5 Orchesterstücke op. 16, die Variationen für Orchester, der Pierrot Lunaire, das Streichtrio op. 45, und selbstverständlich auch die meisten spätromantischen Werke; aber keines liebe ich so wie das 2. Streichquartett.
    Wenn es um ästhetische Erfahrungen und Wahrheiten in der Musik, nicht bloß um technische Details, Fachsimpelei geht, sollte man sich über die Rezeptionsschwierigkeit unterhalten, warum Schönberg es den Hörern so schwer macht, obwohl für die Musikgeübten, Experten und erfahrenes Konzertpublikum, inzwischen der Rang dieser Musik außer Zweifel steht.
    Ich sehe dafür zwei fundamentale Gründe, einen syntaktisch-formalen und einen semantisch-inhaltlichen. Die syntaktische Schwierigkeit liegt in der Komplexität von Schönbergs Kompositionen, das betrifft schon den frühen, spätromantischen Schönberg, fällt allerdings nicht so ins Gewicht, weil die Musiksprache eingeübt ist, die Musik ist von Beethoven bis Mahler immer komplexer geworden, hat sich klanglich differenziert und die Dimensionen gesprengt, die Aufmerksamkeitsspanne erweitert. Bei Wagner muß man mehrere Tage zuhören, bei den Gurreliedern ist die Konzentrationsanforderung auf die Spitze getrieben. Aber im Grunde alles eingängige Musik. Die “Verklärte Nacht” war für das Premierenpublikum schon zu viel des Guten, aber es hat nicht lange gedauert, bis die Hörer sich an die Differenziertheit und Mehrdeutigkeit dieser komplexen Musik gewöhnt hatten und Zugang zu ihrer Schönheit fanden. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, daß diese Musik einen Skandal auslöste.
    Die zweite Schwierigkeit ist sehr viel gravierender, der atonale Schönberg wird nach wie vor von vielen degoutiert. Eine Schwierigkeit, die nicht nur in einer quantitativen Überforderung liegt, sondern in einer qualitativen Blockade. Musik ist Organisation akustischer Ereignisse, aber unsere tonale Musik beruht auf der Grundlage des Verständnisses von Spannung und Entspannung, hat immer den Naturklang der harmonischen Schwingungen zur Basis, man kann hier vom musikalischen Naturschönen reden. Die Semantik der tonalen Musiksprache beruht auf dieser Naturbasis. Schon die spätromantische Musik ist anspruchsvoller als die der klassische Phase, weil sie die Spannung bis zur tonalen Grenze treibt, die Disharmonie ist die angespannte Harmonie (es gibt im Grunde keine Disharmonie, nur unterschiedlich gespannte Harmonien). Es ist der Sprung in die Atonalität, der Schwierigkeiten bereitet, ein harmonisches oder melodisches Intervall nicht mehr auf seine Nähe oder Ferne zum Einklang zu beziehen, also von dieser Naturbasis zu befreien, was umgekehrt als totaler Sinnverlust empfunden werden kann. Um atonale Musik verstehen zu können, muß man die Urerfahrung gemacht haben, daß man sich ganz von der tonalen Tonverwandtschaft lösen kann, erst damit wird die musikalische Sprache abstrakt, frei wie die Logik, ohne inhaltliche Vorgaben, die kleine Sekunde hat gegenüber der großen Terz oder dem Tritonus keine Vorbedeutung, keinen Inhalt an-sich.
    Freilich, Schönberg ist alles andere als ein Formalist. Musikalische Kunst ist (für ihn) kein sinnfreies Spiel der Formen. Er sucht den maximalen Ausdruck. Das tut die tonale Musik mit einem mimetischen Moment, naturimitierend. In der atonalen Musik kann man etwa “Süße” nicht mit einer natürlichen Analogie beschreiben wie in Beethovens “Merkenstein” oder in “Oh, mein Papa” mit süßen Terzen, die atonalen Terzen sind nicht mehr süß, man muß sie ohne Analogien zu etwas Süßem machen, einen solchen Gestus erzeugen. Andrerseits, wenn man Musik als Sprache des Gefühls versteht, ist das auch leichter als es den Anschein hat, denn Gefühle sind selbst abstrakt, und daher mit einem abstrakten Ausdrucksmittel vielleicht sogar vollkommener, präziser beschreibbar.

    • Ullrich Scheideler sagt:

      Die Frage nach den Gründen für die Rezeptionsschwierigkeit der Schönberg’schen Musik scheint mir in der Tat nicht leicht zu beantworten. Eine Antwort dürfte freilich auch je nach Werk verschieden ausfallen. Schon Alban Berg hat sich 1924 mit diesem Problem auseinandergesetzt und dabei u. a. die Dichte des musikalischen Satzes (und damit die Überforderung, weil zu viel auf einmal passiert) benannt, daneben dasjenige, was wir musikalische Prosa nennen, also die Abweichung von einer thematischen Syntax, die sich in regelmäßige viertaktigen Einheiten gliedert, die auf motivischen und harmonischen Entsprechungen beruhen (wie bei Mozart und noch dem frühen Wagner). Mit der „Naturbasis“ zu argumentieren, ist natürlich immer schwierig, weil bereits das temperierte System zur Ermöglichung der Chromatik nicht natürlich, sondern höchst künstlich ist und uns zur zweiten Natur geworden ist. Und als Filmmusik verwendet, sind wir ebenfalls viel toleranter und haben keine Schwierigkeit, bestimmte Klänge als angemessen zu goutieren.
      Dass Schönberg an der Ausdrucksidee stets festgehalten hat, ist sicher ein sehr wichtiges Moment seiner Poetik. Entscheidend ist vielleicht, dass dieser Ausdruck eben nicht immer schön, sondern vor allem wahrhaftig sein sollte, nichts von dem verschweigen soll, was brüchig und inkompatibel, auch hässlich ist. Im II. Streichquartett wird allerdings am Ende des Finalsatzes noch so etwas wie ein versöhnlicher und verklärender Ton (Fis-Dur!) angeschlagen. Aus diesem Grund würde ich zustimmen, dass das Werk mindestens schöne Stellen enthält.

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