Während bei Komponisten, für die moderne thematisch-bibliographische Werkverzeichnisse vorliegen, die Chance für wieder aufgefundene oder neu zugängliche Quellen eher gering erscheint – Ausnahmen wie die vor einigen Jahren entdeckten Teile des Autographs zu Mozarts Klaviersonate A-dur KV 331 (siehe: Die Musikwelt wird staunen. Zur neuen Urtextausgabe von Mozarts Klaviersonate A-dur KV 331 | Henle-Blog) bestätigen eher die Regel –, sieht es bei einem Komponisten wie Liszt ganz anders aus. Hier fehlt nicht nur ein solches Werkverzeichnis, sondern auch eine umfassende und verlässliche Gesamtausgabe der Briefe, so dass man sich die Informationen zu Entstehung und Drucklegung eines konkreten Werks recht aufwändig selbst zusammensuchen muss.
Insofern hatte ich durchaus damit gerechnet, zumindest in kleinen Details hier und da neue Erkenntnisse zu erhalten, als ich vor einigen Jahren mit der Revision älterer Henle-Editionen von Liszt-Klavierwerken begann. Aber auf noch unbekannte Stichvorlagen zu bedeutenden Kompositionen zu stoßen – nein, das hatte ich nicht zu hoffen gewagt …
Aber der Reihe nach. Die Revision der drei zuerst 1978–80 bei Henle erschienenen Bände der Années de pèlerinage war mehr als überfällig. Im Hinblick auf die Quellen war bekannt, dass sich mindestens der Band III nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Forschung befand. Die Erstausgaben aller drei Bände der Années de pèlerinage waren sämtlich beim Mainzer Verlag B. Schott’s Söhne erschienen, und im Falle des dritten Bandes hatte die alte Henle-Edition die seinerzeit noch im Besitz des Schott-Archivs befindlichen Quellen – darunter von verschiedenen Kopisten erstellte Stichvorlagen zu allen sieben Einzelstücken sowie einen vollständigen Korrekturabzug – vermutlich wegen fehlendem Zugang nicht berücksichtigt. Inzwischen ist die Mehrzahl dieser Quellen in öffentlichem Besitz, der Rest wurde mir dankenswerter Weise durch Fotokopien im Archiv der Neuen Liszt-Ausgabe in Budapest zugänglich gemacht.
Über den Verbleib der Stichvorlagen zu den neun Stücken des ersten Bandes Premiere Année ∙ Suisse lagen jedoch keine Informationen vor. Ursprünglich mussten sie ja ebenfalls bei Schott verwahrt worden sein. Sicherheitshalber fragte ich bei der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München nach, wo seit 2014 das komplette Herstellungsarchiv des Schott-Verlags aufbewahrt und nach und nach katalogisiert wird. Und tatsächlich zeigte sich, dass die Stichvorlagen, geschrieben von unbekannter Hand mit Ergänzungen von Liszt, im nach Plattennummern geordneten Archiv vorhanden waren!
Etwas anders war die Sachlage für den zweiten Band Deuxième Année ∙ Italie, denn hier war seit Langem bekannt, dass die Stichvorlagen mit Ausnahme der Nr. 2 im Weimarer Liszt-Nachlass zu finden sind. Offenbar hatte Liszt diese Vorlagen bei der Korrektur des Fahnenabzugs ausdrücklich zurückverlangt (um die Mitte des 19. Jahrhunderts war es keinesfalls selbstverständlich, dass Komponisten mit dem Fahnenabzug auch die Stichvorlagen zur Kontrolle zurückerhielten); die Abtrennung von Nr. 2 erklärt sich durch die Beilegung der Stichvorlage zu Il penseroso bei der Rücksendung der korrigierten Fahnen, wie Liszt in einem der erhaltenen Briefe an Schott ausdrücklich vermerkte. Später allerdings wurde die Stichvorlage bei Schott falsch abgelegt, nämlich nicht zum Material der Plattennummer 13378 (= Années de pèlerinage II), sondern zur Nummer 8315 (= Liszts Transkription von Hector Berlioz’ Ouvertüre Les Francs-Juges, 1845). Ohne die aufmerksame Sichtung dieses Materials durch den zuständigen Mitarbeiter der Bayerischen Staatsbibliothek wäre diese Stichvorlage wohl für immer verschollen geblieben!
Wie aber wirkt sich die Einsicht in solche neu verfügbaren Quellen auf den revidierten Notentext aus? Das Resultat mag auf den ersten Blick enttäuschen, denn bei Abweichungen zwischen Autograph und Erstausgabe folgten auch die älteren Henle-Editionen in der Regel der Erstausgabe, was jetzt in den allermeisten Fällen durch autographe Änderungen in den Stichvorlagen bestätigt werden konnte. Es sind daher eher kleinere Zusätze oder Korrekturen für Dynamik, Artikulation oder Pedalsetzung in diesen Quellen, die sich jetzt als intendiert herausstellen. Um ein Beispiel zu geben: In der alten Edition von Les Jeux d’eaux à la Villa d’Este (= Nr. 4 des dritten Bandes der Années de pèlerinage) lautet die Dynamikangabe zu Takt 220 ff gemäß der Erstausgabe, in der Stichvorlage fügte Liszt neben brioso und Ped jedoch ein weiteres f hinzu, was allerdings leicht zu übersehen ist:
In der revidierten Edition ist die Stelle dementsprechend jetzt zu fff geändert. So unbedeutend solche Details für sich genommen anmuten, so summieren sie sich doch zu einem Notentext, der dem Urtext deutlich näher steht als die älteren Editionen.
Dies gilt auch für die Autographe von Rhapsodie espagnole sowie der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2. Bekannt war, dass diese Handschriften erhalten waren, jedoch blieben sie lange unzugänglich. Seit einigen Jahren wird die Privatsammlung, die diese Autographe enthält, durch die Paul Sacher Stiftung in Basel betreut und ist damit vor Ort einsehbar. Auch hier sind keine Sensationen zu vermelden, aber doch hier und da Einzelheiten zu ändern. So ist deutlich erkennbar, dass Liszt im Autograph seiner Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 in Takt 377 neben der Dynamik sempre ff noch sfogato notierte, das allerdings in Joachim Raffs Abschrift, die als Stichvorlage zur Erstausgabe diente, versehentlich ausgelassen wurde und daher auch im Druck fehlt:
Neben dem Notentext wurden in den Henle-Urtextausgaben auch die Worttexte revidiert, die in vielen Fällen der teils sehr komplexen Entstehungsgeschichte einzelner Klavierwerke nicht mehr gerecht wurden. Was die Vorgeschichte von Sammlungen und Zyklen angeht, hat die Liszt-Forschung in den letzten Jahren sehr viel aufgearbeitet, namentlich zu nennen sind dabei die fundierten Einleitungen von Adrienne Kaczmarczyk im Rahmen der Supplement-Bände der Neuen Liszt-Ausgabe. Und doch blieben auch eigene Recherchen nicht fruchtlos. Durch die erhaltenen Druckbücher des Schott-Verlags (seit 2014 ebenfalls in der Bayerischen Staatsbibliothek) lassen sich jetzt Erscheinungsdaten und Auflagenhöhen unter anderem für die Années de pèlerinage genau angeben, durch noch unveröffentlichte oder nicht ausgewertete Briefe Liszts so manches Detail in der Werkgeschichte oder der Drucklegung präzisieren. So etwa legt die Durchsicht der erhaltenen Briefe Liszts an seinen Agenten und Sekretär Gaetano Belloni in Paris nahe, dass die mysteriösen Titel Il lamento, La leggierezza und Un sospiro für die französische Edition seiner Trois Études de concert vermutlich nicht ohne Wissen oder gar gegen den Willen des Komponisten hinzugefügt wurden, wie dies manchmal in Ausgaben anderer Verlage dargestellt wurde.
Mir jedenfalls hat die Arbeit an den Revisionen gezeigt, wie spannend es sein kann, sich bei Liszt auf die Suche nach neuen Erkenntnissen zu begeben …
Abschließend eine kleine Übersicht zu den bisher erschienenen Revisionen:
(in Klammern wichtige gegenüber der alten Edition neu berücksichtigte Quellen)
HN 1333: Rhapsodie espagnole (Autograph)
HN 1490: Années de pèlerinage, Première Année ∙ Suisse (Stichvorlage, Autograph eines alternativen Schlusses zu Nr. 4)
HN 1389: Années de pèlerinage, Deuxième Année ∙ Italie (Stichvorlage zu Nr. 2)
HN 1494: Années de pèlerinage, Troisième Année (Stichvorlagen, Korrekturabzug)
HN 1573: Trois Études de concert (Autograph, fünf Kadenzen und alternativer Schluss zu Nr. 3)
HN 1586: Ungarische Rhapsodie Nr. 2 (Autograph)