Quellenmappen im Verlagsarchiv

Es gehört zu meinen großen Privilegien als Urtextherausgeber und -lektor, dass ich gelegentlich zu den Quellen reisen darf, und für mich zählten schon immer die Aufenthalte im Performing Arts-Lesesaal der Library of Congress zu den Höhepunkten des Arbeitslebens. Unter den kaum überschaubaren Schätzen in Washington D.C. findet sich auch das Autograf von Rachmaninows Paganini-Rhapsodie.Unsere Arbeit als Herausgeber und Lektoren im G. Henle Verlag wäre ohne Einsicht in die Quellen der Werke, die wir edieren wollen, nicht möglich. Seit der Gründung des Verlags vor 75 Jahren haben sich in unserem Quellenarchiv über 40.000 Reproduktionen eingefunden, aus öffentlichen Bibliotheken und Archiven geordert, von Privatsammlern, Antiquariaten oder Auktionshäusern zur Verfügung gestellt. (Einen Einblick in diesen Beschaffungsprozess können Sie hier auf unserem Instagram-Kanal erhalten.) Über die Jahre und Jahrzehnte halfen uns viele gute Seelen mit teils zeitaufwändigen Recherchen, ob und wo sich vielleicht die ein oder andere „verlorene“ und noch nicht katalogisierte Quelle befinden könnte. Eine Arbeit, die nicht selbstverständlich ist, und für die wir unendlich dankbar sind.

Doch es gibt Situationen, in denen nicht die Quellen zu uns kommen, sondern wir zu den Quellen reisen müssen. Denn desto weiter wir uns im Erschließen der großen Musik des 20. Jahrhunderts voran bewegen – Richard Strauss, Arnold Schönberg und bald auch Sergej Prokofjew finden sich inzwischen in unserem Urtextkatalog –, desto häufiger behindern noch bestehende Urheberrechte unsere Editionsarbeit. Bekanntlich schützen Urheberrechte (d.h. das Copyright) Komponistinnen und Komponisten und deren häufig exklusiv Verwertende – z.B. Verlage oder Klassiklabels – davor, dass für eine gewisse Zeit nach dem Tod der Urheber andere mit Veröffentlichungen aktiv werden können. In vielen Ländern der Welt beträgt diese Schutzfrist 70 Jahre, so auch in Deutschland. Diese Frist müssen wir im G. Henle Verlag abwarten, bis wir die Werke als Urtextausgabe veröffentlichen dürfen. Doch gibt es in einigen für uns wichtigen Märkten längere Fristen, die den Verkauf dieser Ausgaben verhindern. So beträgt zum Beispiel die Frist in den USA 95 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe eines Werkes (unabhängig vom Todesjahr der Komponisten). Diese Fristen sind nicht nur für den Verkauf einer Ausgabe entscheidend, sie finden auch bei der Frage Berücksichtigung, ob eine Bibliothek oder ein Archiv uns Reproduktionen zur Verfügung stellen darf. Ist die Frist nicht abgelaufen, wird uns die Lieferung normalerweise zurecht verweigert.

Und damit sind wir beim Grund meiner Reisen zur Library of Congress angekommen: Für einige Werke, die ich in den letzten 20 Jahren herausgegeben habe und die in Deutschland und vielen anderen Ländern nach der 70-Jahres-Frist urheberrechtsfrei wurden, bestand – als ich meine Arbeit aufnahm – noch Schutz in den USA. Dort lagen aber die wichtigsten Quellen dieser Werke. In diesem Zusammenhang ist die Performing Arts-Abteilung der Library of Congress die wohl bedeutendste Anlaufstelle. In deren fußballfeldgroßen Archivräumen und voluminösen Tresoren, unzugänglich für „Normalsterbliche“, lagert ein musikalischer Schatz gigantischen Ausmaßes. Wer sich allein über die Sondersammlungen einen Einblick verschaffen will, dem sei dieser Link zu den Findhilfen empfohlen: Library of Congress Finding Aids: Browse by LC Location. Einige Quellen sind inzwischen online als Reproduktionen einsehbar, ein Luxus, der mir vor 20 Jahren noch verwehrt blieb: Notated Music, Available Online | Library of Congress (loc.gov)

Performing Arts Lesesaal

Der Performing Arts Lesesaal mit Rachmaninows originalem Schreibtisch und Natalie Wanamaker Javier, der Urenkelin des Komponisten. @Katya Chilingiri

Seit 2006 bin ich regelmäßig aus diesem Grund in die USA gereist und hatte das große Vergnügen und die Ehre, in der Library of Congress arbeiten zu dürfen, beraten und unterstützt von einem großartigen Team in der Performing Arts-Abteilung. Erschienen sind unter diesen Umständen Gershwins Preludes für Klavier, sein Lullaby für Streichquartett und erst kürzlich nach 10 Jahren Vorarbeiten sein Concerto in F. Außerdem von Sergej Rachmaninow die Corelli-Variationen op. 42 und die Paganini-Rhapsodie op. 43. Für viele Ausgaben weitere unseres Lektoratsteams konnte ich über die Jahre außerdem Quellen einsehen, so etwa für das kürzlich erschienene Kontrabasskonzert op. 3 von Serge Koussevitsky. Außerdem konnten wir aus einigen Künstlernachlässen, etwa dem von Wanda Landowska, Fingersatzbezeichnungen für unsere Henle Library App übernehmen.

Die Paganini-Rhapsodie erscheint zusammen mit unserem Kooperationspartner Breitkopf & Härtel sowohl in voller Orchesterpartitur samt Stimmen als auch im Klavierauszug. Alle für die Edition relevanten Quellen befinden sich in Rachmaninows in der Library of Congress aufbewahrtem Nachlass. Ich konnte dort das Autograf der Orchesterpartitur einsehen, die Erstausgaben der Partitur und des Klavierauszugs studieren und zwei Exemplare der Partitur-Erstausgabe mit Dirigenteneintragungen untersuchen.

Sergej Rachmaninow (1873–1943)

Sie kennen es vielleicht schon von meinem Kollegen Dominik Rahmer: Rachmaninow war ein exzellenter Herausgeber seiner eigenen Werke. Das Autograf, das gleichzeitig Stichvorlage für die Erstausgabe der Partitur war, ist sehr präzise notiert (leider darf ich hier aufgrund der erwähnten Copyright-Bestimmungen keine Abbildungen zeigen). Auch wenn es ursprünglich als eine Reinschrift angelegt war, finden sich darin zahlreiche Korrekturen und Änderungen von der Hand Rachmaninows. Die Partitur der Erstausgabe ist mit erstaunlicher Genauigkeit umgesetzt, bringt allerdings einige wenige Lesarten, die sich im Autograf nicht finden. Rachmaninow hat also während des Korrekturlesens der Partitur dort Dinge geändert, die er nicht in sein Autograf rückübertragen hat. Dadurch wird für mich als Herausgeber der Druck automatisch zur „Fassung letzter Hand“, das Autograf hilft mir, eventuelle Fehler in der Erstausgabe zu ermitteln (davon gibt es aber, wie gesagt, nur sehr wenige).

Titelblatt der Erstausgabe

Problematischer gestaltet sich allerdings die Lage, wenn es um den Solo-Klavierpart geht. Denn wenige Monate nach der Orchesterpartitur erschien auch der Klavierauszug der Rhapsodie, vermutlich nach einem heute verlorenen Autograf, in dem Rachmaninow den von ihm selbst erstellten Auszug niederschrieb. In diesem Klavierauszug gibt es nun zum einen in der Klavier-Solo-Stimme Ergänzungen und Änderungen gegenüber der Partitur-Erstausgabe. (Nur ein kleines Beispiel: Gleich in den ersten Takten ergänzte Rachmaninow zu den Oktaven im Klavier jeweils einen Akzent.) Da der Klavierauszug chronologisch später entstand, muss ich diese Ergänzungen und Änderungen ernst nehmen und die Solo-Klavierstimme des Auszugs als „Fassung letzter Hand“ behandeln. Nun ist es aber so, dass zum anderen der Klavierauszug deutlich weniger sorgfältig gestochen und Korrektur gelesen wurde. In ihm finden sich einige offensichtliche Fehler und Auslassungen. Nicht immer lässt sich endgültig entscheiden, ob es sich um Fehler oder um bewusste Änderungen handelt. Eine schwierige Situation für mich als Herausgeber. Sie führte zu einigen Fußnoten im Klavierauszug und zu einem recht umfangreichen Bemerkungsapparat in der Ausgabe. Denn wie immer gilt das Prinzip der Transparenz: Ich muss meine Entscheidungen offenlegen und erläutern, alternative Lesarten vorstellen und letztlich dem Interpreten eine Hilfe an die Hand geben, sich gegebenenfalls hinsichtlich des Notentextes anders zu entscheiden. Wir hoffen natürlich immer, dass man sich dieser Hilfsmittel fleißig bedient.

In diesem Sinne freue ich mich schon jetzt, von Ihnen zu hören, falls Sie Einspruch gegen meine Herausgeberentscheidungen erheben wollen. Und wünsche Ihnen mit der ersten Urtextausgabe der Paganini-Rhapsodie ein gutes Musizieren!

Ihr
Norbert Gertsch

Dieser Beitrag wurde unter Montagsbeitrag veröffentlicht. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert