Vielleicht übertreibe ich es – trotz des Jubiläumsjahrs – etwas mit meinen Blogbeiträgen zum Thema Rachmaninow…😊 Allerdings zeigen uns die Verkaufszahlen und die fast täglichen Anfragen per Email nach weiteren Ausgaben, wie riesengroß weltweit das Interesse an Rachmaninows Musik ist. Für Nachschub in unserem Katalog ist zumindest gesorgt: zuletzt erschienen die beiden Klavierzyklen Morceaux de fantaisie op. 3 (HN 1491) und die Six Moments musicaux op. 16 (HN 1492). Und obwohl Rachmaninow ein sehr genauer Korrekturleser seiner Erstausgaben war, fanden sich im Zuge der Edition doch wieder einige interessante Details und Fehler, die in Nachdrucken bis heute stehengeblieben waren.

Zu dem fraglos berühmtesten Einzelstück aus den fünf Morceaux de fantaisie op. 3, nämlich dem cis-moll-Prélude, hatte ich bereits vor längerer Zeit über ein Vorzeichenproblem berichtet (hier nachzulesen). Hier wich die Erstausgabe, erschienen im Moskauer Verlag A.Gutheil, vom Autograph ab; die spätere (von Rachmaninow überwachte) Neuausgabe bei Breitkopf&Härtel folgte dann wiederum der Lesart des Autographs, die zweifellos auch die richtige ist.

Ein ganz gleichartiger Fall begegnete mir nun im ersten Stück aus den Morceaux de fantaisie, der nocturne-artigen Élégie. Auch hier hatte der Stecher der Erstausgabe wohl einen eigenmächtigen Eingriff vorgenommen, als er in Takt 90 auf Zählzeit 3 in der rechten Hand einen Auflöser vor die oberste Note setzte:

Élégie op. 3 Nr. 1, Erstausgabe Gutheil 1893

Und wer könnte es ihm verdenken, wo doch gleichzeitig in der linken Hand ebenfalls ein aufgelöstes g erklingt – ist es nicht völlig eindeutig, dass in diesem Takt ein Es-Dur-Sept­akkord gemeint ist…? Und doch meinte Rachmaninow es anders: im Autograph notierte er in der Oberstimme eindeutig ein b vor diese Note, die eben nicht harmonisch gedacht ist, sondern als Melodieton das ges des Hauptthemas beibehält und der Linie ges–fes–es–des folgt:

Élégie op. 3 Nr. 1, Autograph, 1892 (Russisches Nationalmuseum der Musik, Moskau)

Es kann nur auf Rachmaninow selbst zurückgehen, dass beim späteren Neustich der Ausgabe durch Breitkopf&Härtel das von ihm gewünschte originale ges2 wiederhergestellt wurde:

Élégie op. 3 Nr. 1, Ausgabe Breitkopf&Härtel, erschienen nach 1901

Wie wunderbar diese Reibung klingen kann, belegt Rachmaninows eigene Einspielung von 1928 auf einem Ampico-Reproduktionsklavier, die hier zu hören ist und jeden Restzweifel an der Richtigkeit des ges2 beseitigt:

Im Falle der Six Moments musicaux op. 16 ist die Quellenlage nicht ganz so komfortabel. Als eines von ganz wenigen Werken Rachmaninows erschien dieser Klavierzyklus nicht bei seinem angestammten Moskauer Verlag A. Gutheil, sondern bei dessen Konkurrenten P. Jurgenson. Dieser kooperierte in Deutschland (zur Wahrung des internationalen Copyrights) nicht mit Breitkopf als Partnerverlag, sondern mit Robert Forberg, der die Ausgabe unverändert von den originalen Platten Jurgensons nachdruckte. Es kam also nicht zu einer (von Rachmaninow neu durchgesehenen) Breitkopf-Neuausgabe wie im obigen Fall von Opus 3, die uns weitere Aufschlüsse zu fraglichen Lesarten geben könnte.

Auch mit Rachmaninows eigenen Tonaufnahmen sieht es bei Opus 16 mager aus: nur ein einziges Stück, das Moment musical Nr. 2 es-moll, nahm er überhaupt in sein Konzertrepertoire auf und spielte es auf Schallplatte ein (in der revidierten Fassung von 1940).

So lässt es sich mangels Vergleichsquellen nur schwer entscheiden, ob sich Rachmaninow im Moment musical Nr. 3 bei dieser Wiederholungsklammer in T.45 wirklich Pausen wünschte, wie es in der Erstausgabe gedruckt wurde:

Moment musical op. 16 Nr. 3, Erstausgabe Jurgenson 1896/97

Im Autograph stehen hier nämlich keine Pausen, sondern – einfach gar nichts:

Moment musical op. 16 Nr. 3, Autograph, 1896 (Russisches Nationalmuseum der Musik, Moskau)

Die Frage ist berechtigt, ob Rachmaninow nicht einfach nur vergaß, hier dieselben Auftakt-Noten in der linken Hand einzutragen wie beim ersten Mal in T.13:

Moment musical op. 16 Nr. 3, Autograph, 1896 (Russisches Nationalmuseum der Musik, Moskau)

Aus Mangel an eindeutigen Beweisen entschied ich mich hier dazu, den Notentext der Hauptquelle (also der Erstausgabe) nicht zu ändern, aber mit einer Fußnote auf diesen möglichen Fehler hinzuweisen. Die Interpreten mögen selbst entscheiden, ob die Pausen in der linken Hand ein Versehen oder nicht vielleicht doch eine bewusste Variante bei der Wiederholung sein können.

Wie geht es bei uns weiter mit Rachmaninow? Gerade jetzt in diesen Tagen gehen zwei weitere Neuausgaben von uns in Druck, beide für Klavier und Orchester: die vielgefragte Paganini-Rhapsodie und das nicht minder beliebte 3. Klavierkonzert d-moll. Und sicher werden auch diese Editionen genug Stoff für weitere Blog-Beiträge abwerfen…

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