Un­se­re im heu­ti­gen Blog­bei­trag vor­ge­stell­te neue Ur­text­aus­ga­be HN 1572 ist in vie­ler Hin­sicht etwas ganz Be­son­de­res. Das fängt gleich mit dem Titel an: Noch nie gab es eine Hen­le-Par­ti­tur, auf deren Cover gleich drei Kom­po­nis­ten­na­men ste­hen – Al­bert Diet­rich, Ro­bert Schu­mann und Jo­han­nes Brahms. Doch man soll ein Buch be­kannt­lich nicht nach dem Um­schlag be­ur­tei­len, und so wol­len wir uns in­ten­siv dem In­halt wid­men und die Ent­ste­hung die­ser un­ge­wöhn­li­chen Ge­mein­schafts­kom­po­si­ti­on, der F.A.E.-So­na­te für Vio­li­ne und Kla­vier, etwas ge­nau­er be­leuch­ten.

Hier­für könn­ten wir kei­nen bes­se­ren Ex­per­ten fin­den als den Her­aus­ge­ber die­ser Neu­edition, Dr. Mi­cha­el Struck, bis 2018 haupt­amt­li­cher und seit­her eh­ren­amt­li­cher Mit­ar­bei­ter bei der Jo­han­nes Brahms Ge­samt­aus­ga­be Kiel, zudem auch ex­zel­len­ter Ken­ner des Oeu­vres von Ro­bert Schu­mann. Mit ihm habe ich das fol­gen­de In­ter­view ge­führt.

Do­mi­nik Rah­mer (DR): Lie­ber Herr Struck, kön­nen Sie uns kurz um­rei­ßen, wie es im Jahre 1853 zu die­sem un­ge­wöhn­li­chen Pro­jekt einer „Drei­er-Kom­po­si­ti­on“ kam, und wer die Idee dazu hatte?

Mi­cha­el Struck (MS): Die Idee kam von Ro­bert Schu­mann Mitte Ok­to­ber 1853 – kurz nach der ers­ten Be­kannt­schaft mit dem 20 Jahre jun­gen Jo­han­nes Brahms. Zu­sam­men mit dem 24-jäh­ri­gen Al­bert Diet­rich, der sich gleich mit Brahms an­ge­freun­det hatte, woll­te Schu­mann eine Vio­lin­so­na­te für den ge­mein­sa­men Künst­ler­freund Jo­seph Joa­chim kom­po­nie­ren. Der war mit sei­nen 22 Jah­ren schon ein be­rühm­ter Gei­ger, galt aber auch als viel­ver­spre­chen­der Kom­po­nist. Im Ver­lauf des Jah­res 1853 hatte sich zwi­schen Joa­chim und Brahms und eben­so zwi­schen Joa­chim und dem Ehe­paar Schu­mann eine tiefe Freund­schaft ent­wi­ckelt. Mehr­fach war Joa­chim zwi­schen Ende Au­gust und Mitte Ok­to­ber im Hause Schu­mann zu Gast ge­we­sen und wurde nun für Ende Ok­to­ber er­neut zur Mit­wir­kung in zwei Kon­zer­ten er­war­tet.

DR: War diese Idee einer Ge­mein­schafts­kom­po­si­ti­on denn ganz neu?

Al­bert Diet­rich (1829–1908). Fo­to­gra­fie von Hein­rich Da­se­king, ca. 1890

MS: Nein, mit sei­nem Plan griff Schu­mann einen alten Ge­dan­ken auf. Denn schon 1837 hatte er in einem Brief an Ignaz Mo­sche­les die Idee zu einem Zy­klus klei­ner Kom­po­si­tio­nen ent­wi­ckelt, bei dem er sich mit Kom­po­nis­ten­freun­den zu­sam­men­tun woll­te. Und 1841 ver­öf­fent­lich­te er zu­sam­men mit sei­ner frisch an­ge­trau­ten Ehe­frau Clara Schu­mann „Zwölf Ge­dich­te aus Fried­rich Rück­erts Lie­bes­früh­ling“, in deren Druck­aus­ga­be aus­drück­lich nicht mit­ge­teilt wurde, wer wel­che Lie­der bei­ge­steu­ert hatte. Ge­mein­schafts­kom­po­si­tio­nen fin­det man in den ers­ten Jahr­zehn­ten des 19. Jahr­hun­derts oh­ne­hin ab und zu. Man denke nur an Anton Dia­bel­lis Ein­la­dung an füh­ren­de Wie­ner Kom­po­nis­ten, je eine Va­ria­ti­on über einen von ihm kom­po­nier­ten Wal­zer zu schrei­ben (die Samm­lung wurde 1824 pu­bli­ziert). Und Franz Liszt ver­öf­fent­lich­te 1839 zu­sam­men mit sei­nen Vir­tuo­sen­kol­le­gen Si­gis­mund Thal­berg, Jo­hann Peter Pixis, Henri Herz, Carl Czer­ny und Frédéric Cho­pin das Va­ria­ti­ons­werk „Hexaméron“ über einen Opern­marsch Vin­cen­zo Bel­li­nis.

Das Zu­sam­men­sein mit Brahms und Diet­rich und die Freund­schaft mit Joa­chim ani­mier­te Schu­mann nun also, seine alte Idee noch ein­mal neu zu ver­wirk­li­chen. Ja, es hat den An­schein, als habe er im Herbst 1853 den le­gen­dä­ren „Da­vids­bund“ wie­der auf­le­ben las­sen, der in den 1830er Jah­ren in sei­nen Bei­trä­gen für die „Neue Zeit­schrift für Musik“ eine so wich­ti­ge Rolle ge­spielt hatte. Diese Ver­mu­tung liegt auch des­halb nahe, weil Schu­mann da­mals ge­ra­de die Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Ge­sam­mel­ten Schrif­ten über Musik und Mu­si­ker mit sei­nen alten mu­si­ka­li­schen Auf­sät­zen und Kri­ti­ken der 1830er und frü­hen 1840er Jahre vor­be­rei­te­te.

DR: In der So­na­te wird ja auf das pri­va­te Motto Jo­seph Joa­chims „Frei Aber Einsam“ durch die ein­ge­bet­te­te Ton­fol­ge f–a–e ver­wie­sen. Die ei­gen­hän­di­ge Nie­der­schrift der drei Kom­po­nis­ten trägt den Wid­mungs­ti­tel: „F. A. E. In Er­war­tung der An­kunft des ver­ehr­ten und ge­lieb­ten Freun­des Jo­seph Joa­chim schrie­ben diese So­na­te Ro­bert Schu­mann, Al­bert Diet­rich und Johs Brahms.“ Fin­det sich die­ses Motiv denn in allen Sät­zen wie­der, und gibt es noch an­de­re mu­si­ka­li­sche An­spie­lun­gen, die sich in dem Werk ver­ste­cken?

MS: In Diet­richs Kopf­satz und in Schu­manns bei­den Sät­zen (In­ter­mez­zo und Fi­na­le) ist die Ton­fol­ge fae in ori­gi­na­ler und trans­po­nier­ter Ge­stalt un­über­hör­bar. In sei­nem nur 45 Takte um­fas­sen­den In­ter­mez­zo ist die fae-Dich­te dabei be­son­ders hoch [siehe Ab­bil­dung].

“F-A-E”-Mo­tiv im 2. Satz

Zu Be­ginn des Fi­nal­sat­zes hat Schu­mann diese dann auch noch mit der Ton­fol­ge gisea kom­bi­niert. Damit hat er, ob nun be­wusst oder un­be­wusst, die Be­deu­tung von Joa­chims da­ma­li­gem Le­bens­mot­to ge­trof­fen: Denn Joa­chim stand in sehr freund­schaft­li­chem Ge­dan­ken­aus­tausch mit der jun­gen Dich­te­rin Gi­se­la von Arnim (der Toch­ter Bet­ti­na von Ar­nims), muss­te sich aber damit ab­fin­den, dass Gi­se­la schon mit dem Dich­ter Her­man Grimm li­iert war, den sie spä­ter auch hei­ra­te­te. Seine durch Ein­sam­keit er­kauf­te Frei­heit hat Joa­chim, wie die neue­re Joa­chim-For­schung in­ten­si­ver her­aus­ge­ar­bei­tet hat, in ver­schie­de­nen Wer­ken durch die Ton­fol­ge fae sym­bo­li­siert. Wie tief Schu­mann und Diet­rich beim Kom­po­nie­ren der F.A.E.-So­na­te in Joa­chims Ge­fühls­welt ein­ge­weiht waren, weiß man nicht. Am ehes­ten dürf­te Brahms Ge­naue­res ge­wusst haben. Aber Schu­manns Kom­bi­na­ti­on der Ton­fol­gen von fae („frei, aber ein­sam“) und gisea als Chif­fre für „Gi­se­la“ zu Be­ginn sei­nes Fi­nal­sat­zes, kann man zu­min­dest als be­mer­kens­wer­tes Zei­chen sei­ner Ah­nungs­fä­hig­keit deu­ten [siehe Ab­bil­dung].

“F-A-E”-Mo­tiv (gelb) und “Gi­se­la”-Mo­tiv (pink) im 4. Satz

Brahms hat sich in sei­nem Al­le­gro be­kannt­lich nicht an das fae-Mot­to ge­hal­ten. Statt­des­sen hat er im Sei­ten­ge­dan­ken des scher­zo­ar­ti­gen Sat­zes ganz un­ver­kenn­bar Diet­richs Haupt­the­ma auf­ge­grif­fen und um­ge­formt. Ob er Joa­chim damit hu­mor­voll in die Irre füh­ren woll­te? Im­mer­hin soll­te die­ser beim ers­ten Durch­spiel der ihm ge­wid­me­ten So­na­te ja er­ra­ten, wer wel­chen Satz schrieb. Schu­mann hat Joa­chim die Sache da­ge­gen er­leich­tert. Denn in dem von ihm kom­po­nier­ten Fi­nal­satz taucht an einer Stel­le der Durch­füh­rung ein Thema aus sei­ner „Phan­ta­sie“ für Vio­li­ne und Or­ches­ter op. 131 auf, die Joa­chim am Tage vor der Über­rei­chung des F.A.E.-Ge­schenks ge­ra­de ur­auf­ge­führt hatte.

In Brahmsʼ ei­gen­hän­di­ger Nie­der­schrift sei­nes Sat­zes konn­te ich üb­ri­gens ent­de­cken, dass er an drei Stel­len das Thema des Trio­teils durch Än­de­rung ei­ni­ger Töne merk­lich ab­ge­wan­delt hat. Die ur­sprüng­li­che Me­lo­die­li­nie er­in­ner­te stark an The­men aus Schu­manns Cel­lo­kon­zert und aus dem Fi­na­le der g-Moll-Kla­vier­so­na­te [siehe Ab­bil­dung]. Diese Ähn­lich­keit woll­te er durch die Än­de­rung wohl ent­schär­fen.

DR: Die F.A.E.-So­na­te blieb ja zu Leb­zei­ten aller Be­tei­lig­ten un­pu­bli­ziert, sie er­schien erst im 20. Jahr­hun­dert in ver­schie­de­nen Druck­aus­ga­ben, nicht wahr?

MS: Ja, die So­na­te wurde erst 1935 als Gan­zes ver­öf­fent­licht – in einer ziem­lich feh­ler­haf­ten, von den Her­aus­ge­bern an ei­ni­gen Stel­len kom­po­si­to­risch leicht ge­än­der­ten Aus­ga­be, die 1953 noch ein­mal neu auf­ge­legt wurde. Brahmsʼ Scher­zo­satz (der aber nicht als „Scher­zo“ über­schrie­ben ist) war be­reits 1906 in einer Aus­ga­be der Deut­schen Brahms-Ge­sell­schaft im Druck er­schie­nen. Da­mals lebte von den drei Kom­po­nis­ten nur noch Diet­rich. Wei­te­re Aus­ga­ben folg­ten 1999, dann 2001 und 2006 (erst im Vio­lin­so­na­ten-Band der neuen Schu­mann-Ge­samt­aus­ga­be, da­nach in einer noch­mals re­vi­dier­ten Spiel­aus­ga­be) sowie 2021 und 2023 (zu­nächst im Vio­lin­so­na­ten-Band der neuen Brahms-Ge­samt­aus­ga­be, dann in der hier­aus ge­won­ne­nen neuen Ur­text-Aus­ga­be).

Be­dau­er­li­cher­wei­se ist die So­na­te zu­min­dest für Schu­manns Fi­nal­satz nicht in letzt­gül­ti­ger Ge­stalt über­lie­fert. Denn von den bei­den gut les­ba­ren Ko­pis­ten­ab­schrif­ten, die Joa­chim und Clara beim ers­ten Durch­spie­len der So­na­te be­nutz­ten, ist nur die Violin­stim­me über­lie­fert [siehe Ab­bil­dung], wäh­rend die Kla­vier­par­ti­tur in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ver­lo­ren ging. In der er­hal­te­nen ab­schrift­li­chen Violin­stim­me kann man sehen, dass Schu­mann in der Gei­gen­par­tie des Fi­na­les noch zahl­rei­che Än­de­run­gen vor­nahm. Die glei­chen Än­de­run­gen muss er in die Par­ti­tur­ab­schrift ein­ge­tra­gen haben.

Violin­stim­me, Ko­pis­ten­ab­schrift, Seite 1. Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin, Si­gna­tur Mus.​ms.​autogr. Schu­mann, R. 26

Ob die drei Kom­po­nis­ten je­mals daran dach­ten, ihre ge­mein­schaft­li­che So­na­te zu ver­öf­fent­li­chen, möch­te ich eher be­zwei­feln – sie war doch vor allem ein pri­va­tes Freund­schafts­werk. Im­mer­hin hat Schu­mann seine bei­den F.A.E.-Sät­ze in die kurz dar­auf ent­stan­de­ne 3. Vio­lin­so­na­te (WoO 2) über­nom­men, die üb­ri­gens erst 1956 im Druck er­schien.

DR: Lei­der bleibt, wie Sie ge­ra­de er­wähn­ten, eine wich­ti­ge Quel­le wei­ter­hin ver­schol­len: die Par­ti­tur­ab­schrift, aus der die erste pri­va­te Auf­füh­rung be­strit­ten wurde und die Jo­seph Joa­chim als Ge­schenk über­reicht wurde. Was weiß man über ihr spä­te­res Schick­sal, und kön­nen Sie von Ihren de­tek­ti­vi­schen Nach­for­schun­gen dazu er­zäh­len?

Ti­tel­blatt des Par­ti­tur­au­to­graphs der F.A.E.-So­na­te. Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin, Si­gna­tur Mus.​ms.​autogr. Schu­mann, R. 26

MS: Da darf ich Sie zu­nächst leicht kor­ri­gie­ren: Die nach 1956 lei­der nicht mehr nach­weis­ba­re Par­ti­tur­ab­schrift wurde Joa­chim zu­nächst zwar tat­säch­lich zu­sam­men mit der ab­schrift­li­chen Violin­stim­me über­reicht und zum Spie­len be­nutzt. Das ei­gent­li­che, ide­ell be­son­ders wert­vol­le Ma­nu­skript-Ge­schenk war aber na­tür­lich die ori­gi­na­le Nie­der­schrift des Wer­kes von der Hand sei­ner drei Freun­de [siehe Ab­bil­dung]. Diese konn­te er je­doch, wie ich gleich noch er­läu­tern möch­te, nicht mit­neh­men, als er Düs­sel­dorf am 30. Ok­to­ber wie­der ver­ließ. Erst mehr als eine Woche spä­ter ge­lang­te sie dau­er­haft in seine Hände und be­fin­det sich heute in sei­nem Nach­lass in der Ber­li­ner Staats­bi­blio­thek. Aus einem Auf­satz des eins­ti­gen Be­sit­zers Hein­rich Düs­ter­behn von 1936 wis­sen wir, dass die Par­ti­tur­ab­schrift ein ers­ter, vor­läu­fi­ger Teil des hu­mor­voll ver­rät­sel­ten So­na­ten-Ge­schenks an Joa­chim war. Der soll­te nicht gleich an der je­wei­li­gen Hand­schrift er­ken­nen, wer wel­chen Satz kom­po­niert hatte. So lau­te­te der Titel der Par­ti­tur­ab­schrift auch nach Mit­tei­lung Düs­ter­behns: „So­na­te für Vio­li­ne und Pia­no­for­te, Jo­seph Joa­chim zu­ge­neigt[e]st zu­ge­eig­net von einem Ver­eh­rer“. Der Clou war also, dass Joa­chim an­fangs of­fen­bar noch nicht ein­mal wis­sen soll­te, dass an der So­na­te meh­re­re Kom­po­nis­ten be­tei­ligt waren. Die Par­ti­tur­ab­schrift be­fand sich spä­ter im Be­sitz Al­bert Diet­richs, der sie um 1890 dem jun­gen Ol­den­bur­ger Gei­ger Hein­rich Düs­ter­behn schenk­te, mit dem er die So­na­te auch mu­si­ziert hatte. Düs­ter­behn ver­erb­te die Par­ti­tur­ab­schrift dann sei­nem Sohn Erich. Doch dann ver­liert sich ihre Spur, und weder die Nach­for­schun­gen mei­ner Schu­mann-Kol­le­gin Ute Bär bei den Düs­ter­behn-Nach­kom­men noch meine ei­ge­nen Re­cher­chen im Ol­den­bur­ger Thea­ter­ar­chiv waren er­folg­reich. Im­mer­hin konn­te ich in einem Buch über die Mu­sik­ge­schich­te der Stadt Ol­den­burg die Mit­tei­lung fin­den, dass die Ab­schrift 1956 of­fen­bar noch exis­tier­te, also kein Kriegs­ver­lust war. Und beim Ver­gleich der ei­gen­hän­di­gen Nie­der­schrift mit der ab­schrift­li­chen Violin­stim­me und mit den In­for­ma­tio­nen Düs­ter­behns über die Par­ti­tur­ab­schrift konn­te ich doch ge­nau­er re­kon­stru­ie­ren, auf wel­cher Grund­la­ge und auf wel­che Weise beide Ab­schrif­ten vom Ko­pis­ten an­ge­fer­tigt wur­den.

DR: Das müs­sen Sie uns gleich ge­nau­er er­läu­tern… Was un­ter­schei­det denn ge­ne­rell Ihre Neu­aus­ga­be von frü­he­ren Edi­tio­nen, und wel­che neuen Er­kennt­nis­se haben Sie durch das Quel­len­stu­di­um ge­won­nen?

MS: Da ich mit sehr guten Farb­scans ar­bei­ten konn­te und 2020 die bei­den er­hal­te­nen Ma­nu­skrip­te (das Au­to­graph der drei Kom­po­nis­ten und die ab­schrift­li­che Violin­stim­me) trotz Co­ro­na-Be­schrän­kun­gen zu­min­dest kurz im Ori­gi­nal stu­die­ren durf­te, habe ich eine ganze Reihe fal­scher Les­ar­ten frü­he­rer Aus­ga­ben kor­ri­gie­ren kön­nen. Sie waren meist eine Folge der teil­wei­se recht flüch­ti­gen Nie­der­schrift der drei Kom­po­nis­ten. Dies be­trifft vor allem Diet­richs Er­öff­nungs­satz und Schu­manns Fi­na­le.

Par­ti­tur­au­to­graph 1.​Satz, durch­ge­zähl­te Takte in der Ex­po­si­ti­on (grün mar­kiert)

Neu, span­nend und wich­tig für die edi­to­ri­sche Ar­beit waren meine Er­kennt­nis­se zur „Schreib­ge­schich­te“ der Ori­gi­nal­hand­schrift. Die So­na­te ent­stand ja unter gro­ßem Zeit­druck, denn am 15. Ok­to­ber war Schu­mann die Idee zur So­na­te für Joa­chim ge­kom­men, und be­reits am 28. Ok­to­ber muss­te das Werk fer­tig kom­po­niert und vom Ko­pis­ten sau­ber ab­ge­schrie­ben sein. Als Diet­rich und Schu­mann ihre ei­gen­hän­di­ge Nie­der­schrif­ten des 1. und 4. Sat­zes bei Schu­manns Düs­sel­dor­fer Haupt­ko­pis­ten Peter Fuchs ein­reich­ten, hat­ten sie, wie ich nach­wei­sen konn­te, die Sätze zwar ge­dank­lich fer­tig kom­po­niert, die Re­pri­sen aber noch nicht voll­stän­dig auf­ge­schrie­ben. We­sent­li­che Teile bei­der Re­pri­sen waren zu die­sem Zeit­punkt le­dig­lich so vor­be­rei­tet, dass der Ko­pist sie an­hand der ent­spre­chen­den Ex­po­si­ti­ons­t­ak­te aus­schrei­ben konn­te. Dabei muss­te Fuchs, der im Haupt­be­ruf Ta­pe­zie­rer (!) war, die Re­pri­sen­be­rei­che von Sei­ten­the­ma und Schluss­grup­pe auch noch aus Diet­richs und Schu­manns Ex­po­si­ti­ons­ton­ar­ten C-Dur bzw. F-Dur in die je­wei­li­ge Re­pri­sen­ton­art A-Dur trans­po­nie­ren. Er muss also mu­si­ka­lisch wirk­lich sehr ver­siert ge­we­sen sein.

Par­ti­tur­au­to­graph 1.​Satz, durch­ge­zähl­te Par­al­lel­t­ak­te in der Re­pri­se (grün mar­kiert)

Be­le­ge für das vor­läu­fig noch un­voll­stän­di­ge Re­pri­sen­no­tat sind in Diet­richs Satz die par­al­le­len Takt­num­me­rie­run­gen die ei­ner­seits große Tei­len des Haupt­the­mas in Ex­po­si­ti­on und Re­pri­se be­tref­fen, und wei­te­re par­al­le­le Zäh­lun­gen im Be­reich von Sei­ten­the­ma und Schluss­grup­pe [siehe Ab­bil­dun­gen]. Au­ßer­dem kann man in Diet­richs Kopf­satz und in Schu­manns Fi­na­le beim Ver­gleich des Par­ti­tur­au­to­graphs und der ab­schrift­li­chen Violin­stim­me er­ken­nen, dass der Ko­pist in der Stim­men­ab­schrift be­stimm­te Re­pri­sen­tei­le aus der Ex­po­si­ti­on ab­ge­schrie­ben haben muss (da die Re­pri­se im Par­ti­tur­au­to­graph klei­ne Ab­wei­chun­gen und Feh­ler ent­hält). Na­tür­lich muss der Ko­pist beim An­fer­ti­gen der Par­ti­tur­ab­schrift ge­nau­so vor­ge­gan­gen sein. Erst nach­dem Jo­seph Joa­chim Düs­sel­dorf wie­der ver­las­sen hatte, dürf­ten Diet­rich und Schu­mann die noch feh­len­den Re­pri­sen­tei­le nach­ge­tra­gen haben.

DR: Warum taten sie das über­haupt? Es gibt doch viele ei­gen­hän­di­ge Ma­nu­skrip­te von Schu­mann, Brahms und an­de­ren mit Aus­las­sun­gen, num­me­rier­ten oder auf an­de­re Weise ge­kenn­zeich­ne­ten Leer­tak­ten, wenn be­stimm­te Ab­schnit­te wört­lich wie­der­holt wer­den sol­len. Erst Ko­pis­ten oder No­ten­s­te­cher schrie­ben oder sta­chen das nicht No­tier­te dann nach den schrift­li­chen oder münd­li­chen An­wei­sun­gen des Kom­po­nis­ten aus.

MS: Die Frage ist be­rech­tigt. Doch die So­na­te war eben ein Ge­schenk: ei­ner­seits als ge­mein­sa­me Kom­po­si­ti­on im ide­el­len Sinne, an­de­rer­seits in Ge­stalt der wert­vol­len Ori­gi­nal­hand­schrift der drei Freun­de. Ein sol­ches Ge­schenk durf­te nicht lü­cken­haft wir­ken – das wäre ge­schen­ket­hisch und ge­schen­käs­the­tisch ein Faux­pas ge­we­sen. Üb­ri­gens hat Diet­rich seine Nach­trä­ge schein­bar sehr sau­ber, wenn man ge­nau­er hin­schaut al­ler­dings ziem­lich flüch­tig no­tiert. Da feh­len in der Re­pri­se immer wie­der Bögen oder Dy­na­mik­zei­chen, und vie­les ist ziem­lich un­ge­nau ge­schrie­ben. Schu­manns Re­pri­sen­nach­trag ist er­heb­lich sorg­sa­mer. Das sieht man auch an Än­de­run­gen, die er in der Ex­po­si­ti­on sei­ner ei­gen­hän­di­gen Nie­der­schrift vor­nahm und die auch für die Re­pri­se gal­ten. In der ab­schrift­li­chen Violin­stim­me fin­den sich diese Än­de­run­gen tat­säch­lich so­wohl in der Ex­po­si­ti­on wie auch in der Re­pri­se, was die von mir re­kon­stru­ier­te „Schreib­ge­schich­te“ be­stä­tigt. Als Schu­mann die Re­pri­se im Par­ti­tur­au­to­graph nachtrug, no­tier­te er die ge­än­der­te Fas­sung gleich rein­schrift­lich.

DR: Gibt es hör­ba­re Un­ter­schie­de in Ihrer Edi­ti­on, ver­gli­chen mit frü­he­ren Aus­ga­ben?

Violin­stim­me, Ko­pis­ten­ab­schrift mit Schu­manns Blei­stift­kor­rek­tu­ren (gelb mar­kiert)

MS: Ja, in vie­len De­tails der vier Sätze, be­son­ders aber in Diet­richs Er­öff­nungs- und Schu­manns Schluss­satz. Im Fi­na­le hat Schu­mann in der ab­schrift­li­chen Violin­stim­me teils mit Tinte, teils mit Blei­stift noch Töne, Pas­sa­gen, ja gleich eine mehr­tak­ti­ge Be­gleit­stim­me um­ge­schrie­ben, sie teil­wei­se aber nicht mehr in sein Au­to­graph zu­rück­über­tra­gen. Dass auch die (ver­schol­le­ne) Par­ti­tur­ab­schrift im Fi­na­le in­ten­si­ve Än­de­run­gen ent­hielt, wis­sen wir aus Hein­rich Düs­ter­behns Auf­satz. Zwar kann man nicht ganz aus­schlie­ßen, dass in Schu­manns Fi­na­le auch De­tails der Kla­vier­par­tie noch ge­än­dert wur­den. Den­noch darf, ja muss man seine hand­schrift­li­chen Än­de­run­gen in der Ab­schrift der Violin­stim­me als „Fas­sung letz­ter Hand“ an­se­hen. So habe ich sie in den No­ten­text mei­ner Edi­ti­on über­nom­men – auch des­halb, weil sie dem Ver­lauf der Kla­vier­par­tie kei­nes­falls wi­der­spre­chen. Die frü­he­ren Les­ar­ten wer­den in den quel­len- und text­kri­ti­schen Be­mer­kun­gen do­ku­men­tiert. Frü­he­re Edi­tio­nen haben sich da­ge­gen im Zwei­fels­fall lie­ber an die frü­hen Les­ar­ten von Schu­manns Au­to­graph ge­hal­ten, sind also zum vor­letz­ten No­ten­zu­stand zu­rück­ge­kehrt. Oder man hat die in der Stim­men­ab­schrift vor­ge­nom­me­nen Än­de­run­gen der Vio­lin­par­tie als „Ossia“ be­wer­tet, das heißt als gleich­be­rech­tig­te Va­ri­an­ten wie­der­ge­ge­ben. Doch das sind sie nicht, da Schu­mann die frü­he­re Ver­si­on in der Violin­stim­me aus­drück­lich ge­stri­chen und durch die ge­än­der­te Fas­sung er­setzt hat.

DR: Ihre Edi­ti­on der F.A.E.-So­na­te ist im Rah­men der Brahms-Ge­samt­aus­ga­be ent­stan­den. Im Band II/8 „Vio­lin­so­na­ten“ (er­schie­nen 2021) ist im An­hang in­ter­es­san­ter­wei­se die kom­plet­te So­na­te ab­ge­druckt, ob­wohl Brahms ja nur den Scher­zo­satz kom­po­nier­te. Was führ­te zur Ent­schei­dung, auch die drei „frem­den“ Sätze in die Brahms-Ge­samt­aus­ga­be auf­zu­neh­men?

MS: Nun, in die­ser So­na­te drei­er Kom­po­nis­ten sind die Sätze eng auf­ein­an­der be­zo­gen – nicht nur da­durch, dass sie ganz tra­di­tio­nell im Sinne eines So­na­ten­satz-Zy­klus an­ge­ord­net sind. Ein wich­ti­ges Bin­de­glied ist na­tür­lich das fae-Mot­to, das die Sätze 1, 2 und 4 prägt, aber auch die the­ma­ti­sche Ver­knüp­fung von Brahmsʼ Scher­zo­satz mit Diet­richs Kopf­satz. Diese Be­zü­ge sind cha­rak­te­ris­tisch für die Mu­sik­auf­fas­sung Schu­manns, des jun­gen Brahms und si­cher­lich auch Diet­richs und bil­den ge­wis­ser­ma­ßen eine Schnitt­men­ge ihres Kom­po­nie­rens zu jener Zeit. All das kommt nur zur Gel­tung, wenn man das ge­sam­te Werk be­trach­tet – und spielt.

DR: Zum Ab­schluss noch eine spe­ku­la­ti­ve Frage: Zu den Freun­den Jo­seph Joa­chims und zum Düs­sel­dor­fer „Emp­fangs­ko­mi­tee“ ge­hör­te doch auch Clara Schu­mann, eine aus­ge­bil­de­te und er­fah­re­ne Kom­po­nis­tin. Warum hat sie ei­gent­lich nicht an der So­na­te mit­ge­wirkt? Bei einer vier­sät­zi­gen So­na­te hätte sich diese Auf­tei­lung ja ideal an­ge­bo­ten, und im­mer­hin hatte Clara kurz zuvor ihre Drei Ro­man­zen für Vio­li­ne und Kla­vier op. 22 kom­po­niert, die im Erst­druck kei­nem an­de­ren als Jo­seph Joa­chim ge­wid­met waren…

MS: Ihre Frage ist ganz be­rech­tigt, lie­ber Herr Rah­mer. In un­se­rem Ge­samt­aus­ga­ben­band und in mei­ner Ur­text-Aus­ga­be habe ich sie frei­lich nicht er­ör­tert, weil ein Ant­wort­ver­such zu spe­ku­la­tiv blei­ben muss. (Ich weiß üb­ri­gens gar nicht, ob die Frage in der Ro­bert- und Cla­ra-Schu­mann-For­schung über­haupt schon ein­mal ge­stellt und er­ör­tert wurde.) Ganz si­cher bin ich mir, dass die drei Kom­po­nis­ten der F.A.E.-So­na­te Clara Schu­mann zu ihrem mu­si­ka­li­schen Freund­schafts­bund zähl­ten. Eine spe­ku­la­ti­ve Er­klä­rung dafür, dass sie zwar am Spiel, nicht aber an der Kom­po­si­ti­on der So­na­te be­tei­ligt war, könn­te diese sein: Seit An­fang Ok­to­ber wuss­te Clara Schu­mann, dass sie er­neut schwan­ger war. Wie ihre Brie­fe aus jener Zeit zei­gen, fühl­te sie sich ge­sund­heit­lich er­heb­lich be­ein­träch­tigt. Den­noch war sie stark ge­for­dert: als kon­zer­tie­ren­de Künst­le­rin, als Fa­mi­li­en­ma­na­ge­rin und als Gast­ge­be­rin für zahl­rei­che Be­su­cher und Be­su­che­rin­nen, die sich im Laufe des Ok­to­bers zum Ge­spräch und zum Mu­si­zie­ren ein­stell­ten. So halte ich es für mög­lich, dass Schu­mann seine Frau zu­nächst bat, den lang­sa­men 2. Satz zu kom­po­nie­ren, sie sich aber mit Blick auf ihr Be­fin­den und ihre Be­las­tun­gen nicht dazu in der Lage sah, so­dass er den Satz auch noch über­nahm. Do­ku­men­ta­ri­sche Be­wei­se für eine sol­che Ver­mu­tung gibt es frei­lich nicht. Wie auch immer: Auf Ro­bert Schu­manns schö­nes, in­ni­ges, sehr fae-hal­ti­ges In­ter­mez­zo möch­te ich kei­nes­falls ver­zich­ten.

DR: Herr Struck, herz­li­chen Dank für die­ses Ge­spräch!

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