Unsere im heutigen Blogbeitrag vorgestellte neue Urtextausgabe HN 1572 ist in vieler Hinsicht etwas ganz Besonderes. Das fängt gleich mit dem Titel an: Noch nie gab es eine Henle-Partitur, auf deren Cover gleich drei Komponistennamen stehen – Albert Dietrich, Robert Schumann und Johannes Brahms. Doch man soll ein Buch bekanntlich nicht nach dem Umschlag beurteilen, und so wollen wir uns intensiv dem Inhalt widmen und die Entstehung dieser ungewöhnlichen Gemeinschaftskomposition, der F.A.E.-Sonate für Violine und Klavier, etwas genauer beleuchten.
Hierfür könnten wir keinen besseren Experten finden als den Herausgeber dieser Neuedition, Dr. Michael Struck, bis 2018 hauptamtlicher und seither ehrenamtlicher Mitarbeiter bei der Johannes Brahms Gesamtausgabe Kiel, zudem auch exzellenter Kenner des Oeuvres von Robert Schumann. Mit ihm habe ich das folgende Interview geführt.
Dominik Rahmer (DR): Lieber Herr Struck, können Sie uns kurz umreißen, wie es im Jahre 1853 zu diesem ungewöhnlichen Projekt einer „Dreier-Komposition“ kam, und wer die Idee dazu hatte?
Michael Struck (MS): Die Idee kam von Robert Schumann Mitte Oktober 1853 – kurz nach der ersten Bekanntschaft mit dem 20 Jahre jungen Johannes Brahms. Zusammen mit dem 24-jährigen Albert Dietrich, der sich gleich mit Brahms angefreundet hatte, wollte Schumann eine Violinsonate für den gemeinsamen Künstlerfreund Joseph Joachim komponieren. Der war mit seinen 22 Jahren schon ein berühmter Geiger, galt aber auch als vielversprechender Komponist. Im Verlauf des Jahres 1853 hatte sich zwischen Joachim und Brahms und ebenso zwischen Joachim und dem Ehepaar Schumann eine tiefe Freundschaft entwickelt. Mehrfach war Joachim zwischen Ende August und Mitte Oktober im Hause Schumann zu Gast gewesen und wurde nun für Ende Oktober erneut zur Mitwirkung in zwei Konzerten erwartet.
DR: War diese Idee einer Gemeinschaftskomposition denn ganz neu?
MS: Nein, mit seinem Plan griff Schumann einen alten Gedanken auf. Denn schon 1837 hatte er in einem Brief an Ignaz Moscheles die Idee zu einem Zyklus kleiner Kompositionen entwickelt, bei dem er sich mit Komponistenfreunden zusammentun wollte. Und 1841 veröffentlichte er zusammen mit seiner frisch angetrauten Ehefrau Clara Schumann „Zwölf Gedichte aus Friedrich Rückerts Liebesfrühling“, in deren Druckausgabe ausdrücklich nicht mitgeteilt wurde, wer welche Lieder beigesteuert hatte. Gemeinschaftskompositionen findet man in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ohnehin ab und zu. Man denke nur an Anton Diabellis Einladung an führende Wiener Komponisten, je eine Variation über einen von ihm komponierten Walzer zu schreiben (die Sammlung wurde 1824 publiziert). Und Franz Liszt veröffentlichte 1839 zusammen mit seinen Virtuosenkollegen Sigismund Thalberg, Johann Peter Pixis, Henri Herz, Carl Czerny und Frédéric Chopin das Variationswerk „Hexaméron“ über einen Opernmarsch Vincenzo Bellinis.
Das Zusammensein mit Brahms und Dietrich und die Freundschaft mit Joachim animierte Schumann nun also, seine alte Idee noch einmal neu zu verwirklichen. Ja, es hat den Anschein, als habe er im Herbst 1853 den legendären „Davidsbund“ wieder aufleben lassen, der in den 1830er Jahren in seinen Beiträgen für die „Neue Zeitschrift für Musik“ eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Diese Vermutung liegt auch deshalb nahe, weil Schumann damals gerade die Veröffentlichung seiner Gesammelten Schriften über Musik und Musiker mit seinen alten musikalischen Aufsätzen und Kritiken der 1830er und frühen 1840er Jahre vorbereitete.
DR: In der Sonate wird ja auf das private Motto Joseph Joachims „Frei Aber Einsam“ durch die eingebettete Tonfolge f–a–e verwiesen. Die eigenhändige Niederschrift der drei Komponisten trägt den Widmungstitel: „F. A. E. In Erwartung der Ankunft des verehrten und geliebten Freundes Joseph Joachim schrieben diese Sonate Robert Schumann, Albert Dietrich und Johs Brahms.“ Findet sich dieses Motiv denn in allen Sätzen wieder, und gibt es noch andere musikalische Anspielungen, die sich in dem Werk verstecken?
MS: In Dietrichs Kopfsatz und in Schumanns beiden Sätzen (Intermezzo und Finale) ist die Tonfolge f–a–e in originaler und transponierter Gestalt unüberhörbar. In seinem nur 45 Takte umfassenden Intermezzo ist die f–a–e-Dichte dabei besonders hoch [siehe Abbildung].
Zu Beginn des Finalsatzes hat Schumann diese dann auch noch mit der Tonfolge gis–e–a kombiniert. Damit hat er, ob nun bewusst oder unbewusst, die Bedeutung von Joachims damaligem Lebensmotto getroffen: Denn Joachim stand in sehr freundschaftlichem Gedankenaustausch mit der jungen Dichterin Gisela von Arnim (der Tochter Bettina von Arnims), musste sich aber damit abfinden, dass Gisela schon mit dem Dichter Herman Grimm liiert war, den sie später auch heiratete. Seine durch Einsamkeit erkaufte Freiheit hat Joachim, wie die neuere Joachim-Forschung intensiver herausgearbeitet hat, in verschiedenen Werken durch die Tonfolge f–a–e symbolisiert. Wie tief Schumann und Dietrich beim Komponieren der F.A.E.-Sonate in Joachims Gefühlswelt eingeweiht waren, weiß man nicht. Am ehesten dürfte Brahms Genaueres gewusst haben. Aber Schumanns Kombination der Tonfolgen von f–a–e („frei, aber einsam“) und gis–e–a als Chiffre für „Gisela“ zu Beginn seines Finalsatzes, kann man zumindest als bemerkenswertes Zeichen seiner Ahnungsfähigkeit deuten [siehe Abbildung].
Brahms hat sich in seinem Allegro bekanntlich nicht an das f–a–e-Motto gehalten. Stattdessen hat er im Seitengedanken des scherzoartigen Satzes ganz unverkennbar Dietrichs Hauptthema aufgegriffen und umgeformt. Ob er Joachim damit humorvoll in die Irre führen wollte? Immerhin sollte dieser beim ersten Durchspiel der ihm gewidmeten Sonate ja erraten, wer welchen Satz schrieb. Schumann hat Joachim die Sache dagegen erleichtert. Denn in dem von ihm komponierten Finalsatz taucht an einer Stelle der Durchführung ein Thema aus seiner „Phantasie“ für Violine und Orchester op. 131 auf, die Joachim am Tage vor der Überreichung des F.A.E.-Geschenks gerade uraufgeführt hatte.
In Brahmsʼ eigenhändiger Niederschrift seines Satzes konnte ich übrigens entdecken, dass er an drei Stellen das Thema des Trioteils durch Änderung einiger Töne merklich abgewandelt hat. Die ursprüngliche Melodielinie erinnerte stark an Themen aus Schumanns Cellokonzert und aus dem Finale der g-Moll-Klaviersonate [siehe Abbildung]. Diese Ähnlichkeit wollte er durch die Änderung wohl entschärfen.
DR: Die F.A.E.-Sonate blieb ja zu Lebzeiten aller Beteiligten unpubliziert, sie erschien erst im 20. Jahrhundert in verschiedenen Druckausgaben, nicht wahr?
MS: Ja, die Sonate wurde erst 1935 als Ganzes veröffentlicht – in einer ziemlich fehlerhaften, von den Herausgebern an einigen Stellen kompositorisch leicht geänderten Ausgabe, die 1953 noch einmal neu aufgelegt wurde. Brahmsʼ Scherzosatz (der aber nicht als „Scherzo“ überschrieben ist) war bereits 1906 in einer Ausgabe der Deutschen Brahms-Gesellschaft im Druck erschienen. Damals lebte von den drei Komponisten nur noch Dietrich. Weitere Ausgaben folgten 1999, dann 2001 und 2006 (erst im Violinsonaten-Band der neuen Schumann-Gesamtausgabe, danach in einer nochmals revidierten Spielausgabe) sowie 2021 und 2023 (zunächst im Violinsonaten-Band der neuen Brahms-Gesamtausgabe, dann in der hieraus gewonnenen neuen Urtext-Ausgabe).
Bedauerlicherweise ist die Sonate zumindest für Schumanns Finalsatz nicht in letztgültiger Gestalt überliefert. Denn von den beiden gut lesbaren Kopistenabschriften, die Joachim und Clara beim ersten Durchspielen der Sonate benutzten, ist nur die Violinstimme überliefert [siehe Abbildung], während die Klavierpartitur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren ging. In der erhaltenen abschriftlichen Violinstimme kann man sehen, dass Schumann in der Geigenpartie des Finales noch zahlreiche Änderungen vornahm. Die gleichen Änderungen muss er in die Partiturabschrift eingetragen haben.
Ob die drei Komponisten jemals daran dachten, ihre gemeinschaftliche Sonate zu veröffentlichen, möchte ich eher bezweifeln – sie war doch vor allem ein privates Freundschaftswerk. Immerhin hat Schumann seine beiden F.A.E.-Sätze in die kurz darauf entstandene 3. Violinsonate (WoO 2) übernommen, die übrigens erst 1956 im Druck erschien.
DR: Leider bleibt, wie Sie gerade erwähnten, eine wichtige Quelle weiterhin verschollen: die Partiturabschrift, aus der die erste private Aufführung bestritten wurde und die Joseph Joachim als Geschenk überreicht wurde. Was weiß man über ihr späteres Schicksal, und können Sie von Ihren detektivischen Nachforschungen dazu erzählen?
MS: Da darf ich Sie zunächst leicht korrigieren: Die nach 1956 leider nicht mehr nachweisbare Partiturabschrift wurde Joachim zunächst zwar tatsächlich zusammen mit der abschriftlichen Violinstimme überreicht und zum Spielen benutzt. Das eigentliche, ideell besonders wertvolle Manuskript-Geschenk war aber natürlich die originale Niederschrift des Werkes von der Hand seiner drei Freunde [siehe Abbildung]. Diese konnte er jedoch, wie ich gleich noch erläutern möchte, nicht mitnehmen, als er Düsseldorf am 30. Oktober wieder verließ. Erst mehr als eine Woche später gelangte sie dauerhaft in seine Hände und befindet sich heute in seinem Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek. Aus einem Aufsatz des einstigen Besitzers Heinrich Düsterbehn von 1936 wissen wir, dass die Partiturabschrift ein erster, vorläufiger Teil des humorvoll verrätselten Sonaten-Geschenks an Joachim war. Der sollte nicht gleich an der jeweiligen Handschrift erkennen, wer welchen Satz komponiert hatte. So lautete der Titel der Partiturabschrift auch nach Mitteilung Düsterbehns: „Sonate für Violine und Pianoforte, Joseph Joachim zugeneigt[e]st zugeeignet von einem Verehrer“. Der Clou war also, dass Joachim anfangs offenbar noch nicht einmal wissen sollte, dass an der Sonate mehrere Komponisten beteiligt waren. Die Partiturabschrift befand sich später im Besitz Albert Dietrichs, der sie um 1890 dem jungen Oldenburger Geiger Heinrich Düsterbehn schenkte, mit dem er die Sonate auch musiziert hatte. Düsterbehn vererbte die Partiturabschrift dann seinem Sohn Erich. Doch dann verliert sich ihre Spur, und weder die Nachforschungen meiner Schumann-Kollegin Ute Bär bei den Düsterbehn-Nachkommen noch meine eigenen Recherchen im Oldenburger Theaterarchiv waren erfolgreich. Immerhin konnte ich in einem Buch über die Musikgeschichte der Stadt Oldenburg die Mitteilung finden, dass die Abschrift 1956 offenbar noch existierte, also kein Kriegsverlust war. Und beim Vergleich der eigenhändigen Niederschrift mit der abschriftlichen Violinstimme und mit den Informationen Düsterbehns über die Partiturabschrift konnte ich doch genauer rekonstruieren, auf welcher Grundlage und auf welche Weise beide Abschriften vom Kopisten angefertigt wurden.
DR: Das müssen Sie uns gleich genauer erläutern… Was unterscheidet denn generell Ihre Neuausgabe von früheren Editionen, und welche neuen Erkenntnisse haben Sie durch das Quellenstudium gewonnen?
MS: Da ich mit sehr guten Farbscans arbeiten konnte und 2020 die beiden erhaltenen Manuskripte (das Autograph der drei Komponisten und die abschriftliche Violinstimme) trotz Corona-Beschränkungen zumindest kurz im Original studieren durfte, habe ich eine ganze Reihe falscher Lesarten früherer Ausgaben korrigieren können. Sie waren meist eine Folge der teilweise recht flüchtigen Niederschrift der drei Komponisten. Dies betrifft vor allem Dietrichs Eröffnungssatz und Schumanns Finale.
Neu, spannend und wichtig für die editorische Arbeit waren meine Erkenntnisse zur „Schreibgeschichte“ der Originalhandschrift. Die Sonate entstand ja unter großem Zeitdruck, denn am 15. Oktober war Schumann die Idee zur Sonate für Joachim gekommen, und bereits am 28. Oktober musste das Werk fertig komponiert und vom Kopisten sauber abgeschrieben sein. Als Dietrich und Schumann ihre eigenhändige Niederschriften des 1. und 4. Satzes bei Schumanns Düsseldorfer Hauptkopisten Peter Fuchs einreichten, hatten sie, wie ich nachweisen konnte, die Sätze zwar gedanklich fertig komponiert, die Reprisen aber noch nicht vollständig aufgeschrieben. Wesentliche Teile beider Reprisen waren zu diesem Zeitpunkt lediglich so vorbereitet, dass der Kopist sie anhand der entsprechenden Expositionstakte ausschreiben konnte. Dabei musste Fuchs, der im Hauptberuf Tapezierer (!) war, die Reprisenbereiche von Seitenthema und Schlussgruppe auch noch aus Dietrichs und Schumanns Expositionstonarten C-Dur bzw. F-Dur in die jeweilige Reprisentonart A-Dur transponieren. Er muss also musikalisch wirklich sehr versiert gewesen sein.
Belege für das vorläufig noch unvollständige Reprisennotat sind in Dietrichs Satz die parallelen Taktnummerierungen die einerseits große Teilen des Hauptthemas in Exposition und Reprise betreffen, und weitere parallele Zählungen im Bereich von Seitenthema und Schlussgruppe [siehe Abbildungen]. Außerdem kann man in Dietrichs Kopfsatz und in Schumanns Finale beim Vergleich des Partiturautographs und der abschriftlichen Violinstimme erkennen, dass der Kopist in der Stimmenabschrift bestimmte Reprisenteile aus der Exposition abgeschrieben haben muss (da die Reprise im Partiturautograph kleine Abweichungen und Fehler enthält). Natürlich muss der Kopist beim Anfertigen der Partiturabschrift genauso vorgegangen sein. Erst nachdem Joseph Joachim Düsseldorf wieder verlassen hatte, dürften Dietrich und Schumann die noch fehlenden Reprisenteile nachgetragen haben.
DR: Warum taten sie das überhaupt? Es gibt doch viele eigenhändige Manuskripte von Schumann, Brahms und anderen mit Auslassungen, nummerierten oder auf andere Weise gekennzeichneten Leertakten, wenn bestimmte Abschnitte wörtlich wiederholt werden sollen. Erst Kopisten oder Notenstecher schrieben oder stachen das nicht Notierte dann nach den schriftlichen oder mündlichen Anweisungen des Komponisten aus.
MS: Die Frage ist berechtigt. Doch die Sonate war eben ein Geschenk: einerseits als gemeinsame Komposition im ideellen Sinne, andererseits in Gestalt der wertvollen Originalhandschrift der drei Freunde. Ein solches Geschenk durfte nicht lückenhaft wirken – das wäre geschenkethisch und geschenkästhetisch ein Fauxpas gewesen. Übrigens hat Dietrich seine Nachträge scheinbar sehr sauber, wenn man genauer hinschaut allerdings ziemlich flüchtig notiert. Da fehlen in der Reprise immer wieder Bögen oder Dynamikzeichen, und vieles ist ziemlich ungenau geschrieben. Schumanns Reprisennachtrag ist erheblich sorgsamer. Das sieht man auch an Änderungen, die er in der Exposition seiner eigenhändigen Niederschrift vornahm und die auch für die Reprise galten. In der abschriftlichen Violinstimme finden sich diese Änderungen tatsächlich sowohl in der Exposition wie auch in der Reprise, was die von mir rekonstruierte „Schreibgeschichte“ bestätigt. Als Schumann die Reprise im Partiturautograph nachtrug, notierte er die geänderte Fassung gleich reinschriftlich.
DR: Gibt es hörbare Unterschiede in Ihrer Edition, verglichen mit früheren Ausgaben?
MS: Ja, in vielen Details der vier Sätze, besonders aber in Dietrichs Eröffnungs- und Schumanns Schlusssatz. Im Finale hat Schumann in der abschriftlichen Violinstimme teils mit Tinte, teils mit Bleistift noch Töne, Passagen, ja gleich eine mehrtaktige Begleitstimme umgeschrieben, sie teilweise aber nicht mehr in sein Autograph zurückübertragen. Dass auch die (verschollene) Partiturabschrift im Finale intensive Änderungen enthielt, wissen wir aus Heinrich Düsterbehns Aufsatz. Zwar kann man nicht ganz ausschließen, dass in Schumanns Finale auch Details der Klavierpartie noch geändert wurden. Dennoch darf, ja muss man seine handschriftlichen Änderungen in der Abschrift der Violinstimme als „Fassung letzter Hand“ ansehen. So habe ich sie in den Notentext meiner Edition übernommen – auch deshalb, weil sie dem Verlauf der Klavierpartie keinesfalls widersprechen. Die früheren Lesarten werden in den quellen- und textkritischen Bemerkungen dokumentiert. Frühere Editionen haben sich dagegen im Zweifelsfall lieber an die frühen Lesarten von Schumanns Autograph gehalten, sind also zum vorletzten Notenzustand zurückgekehrt. Oder man hat die in der Stimmenabschrift vorgenommenen Änderungen der Violinpartie als „Ossia“ bewertet, das heißt als gleichberechtigte Varianten wiedergegeben. Doch das sind sie nicht, da Schumann die frühere Version in der Violinstimme ausdrücklich gestrichen und durch die geänderte Fassung ersetzt hat.
DR: Ihre Edition der F.A.E.-Sonate ist im Rahmen der Brahms-Gesamtausgabe entstanden. Im Band II/8 „Violinsonaten“ (erschienen 2021) ist im Anhang interessanterweise die komplette Sonate abgedruckt, obwohl Brahms ja nur den Scherzosatz komponierte. Was führte zur Entscheidung, auch die drei „fremden“ Sätze in die Brahms-Gesamtausgabe aufzunehmen?
MS: Nun, in dieser Sonate dreier Komponisten sind die Sätze eng aufeinander bezogen – nicht nur dadurch, dass sie ganz traditionell im Sinne eines Sonatensatz-Zyklus angeordnet sind. Ein wichtiges Bindeglied ist natürlich das f–a–e-Motto, das die Sätze 1, 2 und 4 prägt, aber auch die thematische Verknüpfung von Brahmsʼ Scherzosatz mit Dietrichs Kopfsatz. Diese Bezüge sind charakteristisch für die Musikauffassung Schumanns, des jungen Brahms und sicherlich auch Dietrichs und bilden gewissermaßen eine Schnittmenge ihres Komponierens zu jener Zeit. All das kommt nur zur Geltung, wenn man das gesamte Werk betrachtet – und spielt.
DR: Zum Abschluss noch eine spekulative Frage: Zu den Freunden Joseph Joachims und zum Düsseldorfer „Empfangskomitee“ gehörte doch auch Clara Schumann, eine ausgebildete und erfahrene Komponistin. Warum hat sie eigentlich nicht an der Sonate mitgewirkt? Bei einer viersätzigen Sonate hätte sich diese Aufteilung ja ideal angeboten, und immerhin hatte Clara kurz zuvor ihre Drei Romanzen für Violine und Klavier op. 22 komponiert, die im Erstdruck keinem anderen als Joseph Joachim gewidmet waren…
MS: Ihre Frage ist ganz berechtigt, lieber Herr Rahmer. In unserem Gesamtausgabenband und in meiner Urtext-Ausgabe habe ich sie freilich nicht erörtert, weil ein Antwortversuch zu spekulativ bleiben muss. (Ich weiß übrigens gar nicht, ob die Frage in der Robert- und Clara-Schumann-Forschung überhaupt schon einmal gestellt und erörtert wurde.) Ganz sicher bin ich mir, dass die drei Komponisten der F.A.E.-Sonate Clara Schumann zu ihrem musikalischen Freundschaftsbund zählten. Eine spekulative Erklärung dafür, dass sie zwar am Spiel, nicht aber an der Komposition der Sonate beteiligt war, könnte diese sein: Seit Anfang Oktober wusste Clara Schumann, dass sie erneut schwanger war. Wie ihre Briefe aus jener Zeit zeigen, fühlte sie sich gesundheitlich erheblich beeinträchtigt. Dennoch war sie stark gefordert: als konzertierende Künstlerin, als Familienmanagerin und als Gastgeberin für zahlreiche Besucher und Besucherinnen, die sich im Laufe des Oktobers zum Gespräch und zum Musizieren einstellten. So halte ich es für möglich, dass Schumann seine Frau zunächst bat, den langsamen 2. Satz zu komponieren, sie sich aber mit Blick auf ihr Befinden und ihre Belastungen nicht dazu in der Lage sah, sodass er den Satz auch noch übernahm. Dokumentarische Beweise für eine solche Vermutung gibt es freilich nicht. Wie auch immer: Auf Robert Schumanns schönes, inniges, sehr f–a–e-haltiges Intermezzo möchte ich keinesfalls verzichten.
DR: Herr Struck, herzlichen Dank für dieses Gespräch!