Die letzte Klaviersonate op. 58 von Frédéric Chopin ist voller beglückender musikalischer Momente. Strenge Musik-Analysten bemängeln bisweilen ihre etwas wuchernde Form, aber für mich persönlich ist die h-moll-Sonate ganz große Klaviermusik. Leider auch sehr schwere Klaviermusik: Die technischen Anforderungen sind immens, und als Hobbypianist kommt man hier schnell an seine Grenzen (deswegen hier eine Aufnahme von Dinu Lipatti). Schwer ist die Sonate aber auch aus editorischer Perspektive, und diese Einsicht traf mich als Herausgeber der neuen Urtext-Ausgabe (HN 871) etwas unerwartet.
Lange habe ich über dieser Edition gebrütet und wusste nicht recht, wie man die verzwickte Überlieferungssituation in eine Urtextform gießen kann. Die Quellenlage ist in den Worttexten (Vorwort, Bemerkungen) zur neuen Ausgabe ausführlich dargestellt, diese Details möchte ich hier nicht duplizieren. Zur unbefriedigenden Ausgangslage dennoch ein paar Eckpunkte.
Wie in späten Jahren üblich, schrieb Chopin seine Sonate in drei Autographen nieder, jedes war als Vorlage für die drei Erstausgaben in Frankreich, Deutschland und England gedacht. Damit schuf Chopin – vermutlich unbewusst – drei Fassungen dieser Sonate. Von diesen drei Autographen ist nur dasjenige erhalten, das als Vorlage für die Erstausgabe bei Breitkopf & Härtel diente – naturgemäß eine zentrale Quelle, zumal das Manuskript durch große Sorgfalt in der Ausführung besticht.
Und die beiden anderen Fassungen? Diejenige der englischen Erstausgabe ist äußerst schlecht überliefert. Das Autograph fehlt, der Druck ist fehlerhaft und wurde von Chopin nie kontrolliert. Diejenige der französischen Erstausgabe ist hingegen viel interessanter. Obwohl wir das zugrundeliegende Autograph nicht kennen, wissen wir von einem ersten Druck, den Chopin minutiös korrigiert haben muss, denn eine zweite Auflage weist eine Fülle von Änderungen, Präzisierungen und Korrekturen auf. Schaut man sich den Text und die beiden Druckstadien genauer an, so kann man den Schluss ziehen, dass das verschollene Autograph vermutlich flüchtig, ja unsauber notiert war und außerdem viele Leerstellen in der genaueren Bezeichnung von Artikulation/Dynamik/Pedalisierung aufwies. Chopin musste also im Druck eingreifen, um die Textqualität auf ein höheres Niveau zu heben.
Für die Änderungen zwischen den beiden Auflagen hier ein paar Beispiele.
Ergänzungen von Arpeggio-Zeichen:

1. Satz, T. 4,
links: französische Erstausgabe, 1. Auflage;
rechts: französische Erstausgabe, 2. Auflage
Veränderung der Dynamik:

1. Satz, T. 56,
links: französische Erstausgabe, 1. Auflage;
rechts: französische Erstausgabe, 2. Auflage
Ergänzung von Fingersatz, um die Handaufteilung deutlich zu machen:

1. Satz, T. 69,
links: französische Erstausgabe, 1. Auflage;
rechts: französische Erstausgabe, 2. Auflage
Schließlich die Verdeutlichung der Bögen für die linke Hand zu Beginn des 3. Satzes (Chopin wollte offenbar sicherstellen, dass es sich um Legato- und nicht etwa Haltebögen handelt).
Diese Beispiele sind nur exemplarisch. Vergleicht man die beiden Ausgaben, ist die Fülle an Unterschieden, Präzisierungen, Korrekturen, Ergänzungen unermesslich. Es besteht kein Zweifel: Dieser Druck ist von Chopin selbst korrigiert worden, und die 2. Auflage ist autorisiert. Damit nicht genug: Chopin verwendete diesen auskorrigierten Druck in seinem Klavierunterricht, wie zwei erhaltene Exemplare beweisen, in denen Chopin erneut handschriftliche Eintragungen vornahm. All diese Ergänzungen und Korrekturen liegen zeitlich nach der Niederschrift des erhaltenen Autographs.
Fassen wir noch einmal zusammen: Es gibt drei Fassungen der h-moll-Sonate Chopins, nämlich
1) eine schlecht überlieferte „englische“ Fassung,
2) eine „deutsche“ Fassung, überliefert in einem reinschriftlichen Autograph,
3) eine „französische“ Fassung, die durch einen autorisierten Druck abgesichert ist.
Was ist nun die Aufgabe eines Urtext-Herausgebers? Nach unserem Verständnis müssen wir eine „Fassung letzter Hand“ finden, einen Text, der den „letzten Willen“ des Komponisten widerspiegelt. Für welche Fassung trifft das im Fall der Chopin-Sonate zu?
Die englische Ausgabe können wir, wie oben bereits gesagt, ausschließen. Ein besserer Kandidat ist zweifellos die französische Fassung, denn wir wissen, dass Chopins letzte Korrekturen in diesen Text eingeflossen sind. Allerdings wissen wir auch, dass das verschollene, zugrundeliegende Autograph einen unvollkommenen Text aufwies, der noch nicht vollständig ausgearbeitet war. Diese „frühen“ Lesarten haben sich leider auch in die französische Erstausgabe vererbt – wir finden dort also eine Mischung aus frühen und späten Lesarten. Die deutsche Fassung hat demgegenüber den großen Vorteil, auf einem nahezu perfekten Autograph zu basieren. Diese Fassung ist äußerst konsistent, bestens verbürgt – aber die letzten Korrekturen Chopins fehlen hier. Andererseits ist die deutsche Fassung gleichzeitig die am stärksten verbreitete. Die meistens Ausgaben aus dem 19. und 20. Jahrhundert basieren hauptsächlich auf dieser Fassung, ihre Lesarten sind in der ganzen Welt bis heute verbreitet.
Sie ahnen, worauf es hinausläuft: Die zwei zentralen Fassungen der Sonate, die „deutsche“ und die „französische“ müssen irgendwie dokumentiert werden, denn beide Fassungen sind gleichermaßen autorisiert – und beide Fassungen haben gleichermaßen Nachteile.
Einen hartgesottenen Chopin-Herausgeber kann das noch nicht schockieren, denn Parallel-Fassungen gibt es in der Chopin-Philologie immer wieder. Normalerweise spielen sich deren Abweichungen jedoch in einem so kleinen Rahmen ab, dass man als Herausgeber einen Grundtext bieten kann, der die punktuellen Unterschiede in Fußnoten oder Ossias dokumentiert. Bei der h-moll-Sonaten funktioniert das nicht mehr; zu zahlreich und fundamental sind die Unterschiede der Fassungen und zu sehr läuft man Gefahr, die Notentexte zu vermischen und damit eine „Meta-Fassung“ zu erstellen, die letztlich in keiner Quelle überliefert ist.
Aus diesen Gründen habe ich in der neuen Urtextausgabe erstmals den Schritt gewagt, zwei Fassungen zu veröffentlichen. Im Haupttext ediere ich die Sonate gemäß der revidierten französischen Erstausgabe, fraglos die Fassung letzter Hand. Überall, wo die Mitteilung von Varianten für den Pianisten von Interesse ist, gibt es Fußnoten, die auf Parallel-Überlieferungen hinweisen. Um aber der „deutschen“ Fassung gemäß Autograph auch zu ihrem Recht zu verhelfen, habe ich im Anhang die gesamte Sonate erneut ediert, nun streng nach Autograph. Diese Quellen-Edition weist nicht auf Varianten hin, punktuelle Fehler und Unklarheiten werden natürlich auch hier korrigiert bzw. diskutiert. Bei diesem Vorgehen war mir daran gelegen, diese nicht minder wichtige Fassung im Kontext aufführbar zu machen.
Zum Schluss eines der prominentesten Beispiele für die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen. In T. 74/75 des 1. Satzes gibt es eine Überleitung in die Schlussgruppe der Exposition, die in allen modernen Ausgaben dem Autograph folgt:
In der französischen Erstausgabe steht allerdings:
Vieles deutet darauf hin, dass diese zweite Lesart eine frühere Fassung repräsentiert, sie steht übrigens auch in der englischen Erstausgabe. Vermutlich glich Chopin bei der Niederschrift des „deutschen“ Autographs die Passage an die Fassung der Reprise an. Viele Editoren halten daher die „französische“ Fassung für unterlegen, ja für schlechter. Es besteht aber überhaupt kein Zweifel, dass Chopin diese Fassung in seiner gründlichen Korrektur unverändert stehen ließ, ja, dass er sie auch in seinem Unterricht von seinen Schülern spielen ließ. Dürfen wir bei dieser Ausgangslage die französische Fassung abwerten und sie einfach durch die gewohntere ersetzen?
In einem Interview mit Dr. Wolf-Dieter Seiffert zum Thema „Revisionen“ haben wir dieses Textproblem besprochen, und hier hören Sie auch, wie die beiden Fassungen klingen: