Die meis­ten Brat­schis­ten stöh­nen laut auf, wenn die Namen Hoff­meis­ter und Stamitz fal­len. Zu oft und immer wie­der muss­ten sie sich deren So­lo­kon­zer­ten unter enor­mem Er­folgs­druck wid­men. Es fin­det kaum ein Pro­be­spiel für eine Or­ches­ter­stel­le statt, ohne dass eines der Kon­zer­te (meist nur der An­fang des 1. Sat­zes) in der ers­ten Aus­wahl­run­de mit Kla­vier­be­glei­tung vor­ge­tra­gen wer­den muss. Das stellt nicht nur die Be­wer­ber auf die Probe – auch bei den an­we­sen­den Or­ches­ter­mit­glie­dern, die schließ­lich über die Stel­len­be­set­zung ent­schei­den, baut sich ein ge­wis­ser „Lei­dens­druck“ auf, wenn man zum fünf­zigs­ten Mal das­sel­be hört. Kurz­um, mit spä­tes­tens etwa 26 Jah­ren wol­len Brat­schis­ten nor­ma­ler­wei­se mit die­sen Wer­ken nichts mehr zu tun haben, und die Kon­zer­te wer­den daher auch nur sehr sel­ten öf­fent­lich auf­ge­führt. Aus­nah­men be­stä­ti­gen die Regel: Nils Mön­ke­mey­er spiel­te das Hoff­meis­ter-Kon­zert im De­zem­ber 2011 in Mün­chen und spricht bei einem vom Baye­ri­schen Rund­funk mit­ge­schnit­te­nen „Pro­ben­streif­licht“ davon, wie glück­lich er sich schätzt, die­sem Stück so un­vor­ein­ge­nom­men be­geg­nen zu kön­nen, weil er die Pro­be­spiel­si­tua­ti­on nie er­le­ben muss­te.

Die Aus­ga­ben
Wenn man das Hoff­meis­ter-Kon­zert wegen eines an­ste­hen­den Pro­be­spiels ein­stu­diert, kon­zen­triert man sich na­tür­lich zu­nächst dar­auf, das Stück tech­nisch zu be­herr­schen, und schließ­lich, dar­aus „Musik“ zu ma­chen. Jeder gute Leh­rer weiß, auf wel­che Stel­len im Pro­be­spiel ge­ach­tet wird, was sit­zen muss, was er­war­tet wird. Er weiß auch, nach wel­cher Aus­ga­be man das Stück zu spie­len hat. Denn hier kann der fal­sche Griff schnell fa­ta­le Aus­wir­kun­gen haben. Neh­men wir als Bei­spiel das Thema des Ron­dos, denn hier las­sen sich die Pro­ble­me sehr deut­lich zei­gen. Es folgt – ohne Namen zu nen­nen – eine Zu­sam­men­stel­lung aus ver­schie­de­nen am Markt er­hält­li­chen Aus­ga­ben:

Ja, was denn nun? Das Tempo Al­le­gro, Al­le­gret­to (mit Me­tro­no­man­ga­be) oder sonst­wie frei ge­wählt? Der So­lo­ein­satz f oder p? Der erste Takt Stac­ca­to oder mit Bin­dung, beim Auf­takt zum drit­ten Takt ein Dop­pel­schlag oder nicht? (Um die Sache nicht noch un­über­sicht­li­cher zu ma­chen, habe ich Fin­gersatz und Strich­be­zeich­nun­gen aus den Bei­spie­len her­aus­re­t­u­schiert.)

Zum Teil waren hier be­kann­te Her­aus­ge­ber und Mu­si­ker am Werk, die den No­ten­text nach ihren Vor­stel­lun­gen ein­rich­te­ten. Aber auf wel­cher Basis? Was ist hier Hoff­meis­ter und was ist Zutat? Wir sind bei der Frage nach dem Ur­text an­ge­kom­men.

Die Quel­le
Si­cher hat Hoff­meis­ter die­ses Kon­zert in Form einer Or­ches­ter­par­ti­tur kom­po­niert und nie­der­ge­schrie­ben. Die­ses Au­to­graph ist lei­der nicht er­hal­ten. Auch er­schien zu sei­nen Leb­zei­ten das Viola­kon­zert nicht im Druck. Die ein­zi­ge zeit­ge­nös­si­sche Quel­le des Werks ist ein Or­ches­ter­stim­men­satz ein­schließ­lich einer So­lo­stim­me, der von drei Ko­pis­ten her­ge­stellt wurde. Der Stim­men­satz, der heute in der Säch­si­schen Lan­des­bi­blio­thek Dres­den auf­be­wahrt wird, könn­te aus dem Jahr 1799 stam­men, als in Wien sol­che Ab­schrif­ten zum Ver­kauf an­ge­bo­ten wur­den. In Dres­den ge­hör­te das Or­ches­ter­ma­te­ri­al Jo­seph Schu­bert (1754–1837), einem Kom­po­nis­ten und Brat­schis­ten der dor­ti­gen Hof­ka­pel­le, der eine dem Ma­te­ri­al bei­lie­gen­de Ka­denz zum 1. Satz ver­fass­te und das Kon­zert dort wohl auch auf­führ­te.

Da aus die­sem zeit­ge­nös­si­schen Stim­men­satz mehr­fach mu­si­ziert wurde, fin­den sich in den Stim­men zahl­rei­che Ein­tra­gun­gen von ver­schie­de­nen Mu­si­kern. Be­son­ders die So­lo­stim­me wurde in­ten­siv ge­än­dert – ich fand min­des­tens vier ver­schie­de­ne Schrei­ber. Die Än­de­run­gen gehen so weit, dass zahl­rei­che ur­sprüng­lich mit Tinte ge­schrie­be­nen Zei­chen aus­ge­kratzt und wie­der­um in Tinte mit an­de­ren Zei­chen über­schrie­ben wur­den. Das Ron­do­the­ma prä­sen­tiert sich heute in die­ser Quel­le so (man ver­glei­che die vier­te Aus­ga­be oben):

Recht deut­lich kann man die ver­schie­de­nen Hände er­ken­nen, die hier am Werk waren. Al­lein schon die un­ter­schied­li­che Dicke der Bögen ver­rät, dass es sich nicht nur um einen Schrei­ber han­delt. Sieht man das Ori­gi­nal in Dres­den, so hilft die Farbe der be­nutz­ten Tin­ten – mal grau­er, mal brau­ner – und die cha­rak­te­ris­ti­sche Schreib­wei­se (z.B. der in Takt 6 un­ge­wöhn­lich nach rechts „kip­pen­de“ Bogen), die spä­te­ren Er­gän­zun­gen von der ur­sprüng­li­chen ers­ten Nie­der­schrift des Ko­pis­ten zu un­ter­schei­den. In sehr vie­len Fäl­len kann man au­ßer­dem recht gut re­kon­stru­ie­ren, was ein­mal dort stand und spä­ter aus­ge­kratzt wurde. So las­sen sich selbst in der schlech­ten Re­pro­duk­ti­on oben die dort ein­mal in Takt 3 und 4 über dem Sys­tem no­tier­ten Bögen er­ken­nen.

Der Ur­text
Warum müs­sen wir so tief gra­ben? Weil wir den No­ten­text der Stim­men­ab­schrift von allen un­au­to­ri­sier­ten Er­gän­zun­gen und Än­de­run­gen be­frei­en müs­sen, um zur äl­tes­ten Schicht vor­zu­drin­gen, die zeit­lich und in ihrer Ab­hän­gig­keit dem Ori­gi­nal Hoff­meis­ters am nächs­ten kommt. Wenn wir also die­sen äl­tes­ten No­ten­text re­kon­stru­iert haben, sind wir den In­ten­tio­nen des Kom­po­nis­ten so nahe ge­kom­men, wie die vor­lie­gen­de Quel­len­si­tua­ti­on es er­laubt. Und hier ist das Er­geb­nis:

Wir haben den Ur­text die­ser Stel­le wie­der­her­ge­stellt (siehe un­se­re Aus­ga­be HN 739). Nicht mehr und nicht we­ni­ger. Un­se­re Auf­ga­be als Ur­text-Her­aus­ge­ber ist damit er­füllt. Unter den ge­ge­be­nen Um­stän­den kön­nen wir Hoff­meis­ters Wün­schen zum No­ten­text nicht näher kom­men. Man sieht so­fort, dass der Ur­text nicht alle oben ge­stell­ten Fra­gen be­ant­wor­ten kann: Es fin­det sich am An­fang weder eine Tem­po- noch eine Dy­na­mik­an­ga­be. Da­ge­gen ist die Ar­ti­ku­la­ti­on bis ins De­tail fi­xiert. Be­son­ders hei­kel ist die Frage, ob das Feh­len des Dop­pel­schlags nun zwin­gend be­deu­tet, dass kei­ner ge­spielt wer­den darf

Was soll­te der Brat­schist nun – um auf die An­fangs­fra­ge zu­rück­zu­kom­men – wirk­lich spie­len? Ich maße mir als Ur­text-Her­aus­ge­ber nicht an, das be­ant­wor­ten zu kön­nen. Ich lie­fe­re dem In­ter­pre­ten einen den In­ten­tio­nen des Kom­po­nis­ten mög­lichst nahe kom­men­den No­ten­text, mit allen „Leer­stel­len“, die darin zu fin­den sind. Was ich über die­sen No­ten­text er­mit­telt und ent­schie­den habe, do­ku­men­tie­re ich im Vor­wort und in den Be­mer­kun­gen. Ich er­war­te, dass der Mu­si­ker sich mit mei­ner No­ten­aus­ga­be unter Ein­be­zie­hung sei­ner mu­si­ka­li­schen Er­fah­rung, sei­nes Wis­sens und sei­nes Ta­lents aus­ein­an­der­setzt. Ich biete ihm die Chan­ce, in­for­mier­te Ent­schei­dun­gen über den No­ten­text zu tref­fen. Der Rest liegt in sei­nen Hän­den.

Vor zwan­zig Jah­ren, als ich Brat­schis­ten bei Pro­be­spie­len am Kla­vier be­glei­te­te, wäre eine sol­che Her­an­ge­hens­wei­se an die Musik in die­ser spe­zi­el­len Si­tua­ti­on zum Schei­tern ver­ur­teilt ge­we­sen. Haben sich die Zei­ten ge­än­dert?

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2 Antworten auf »Manchmal muss man tiefer graben! Oder: Was der Bratschist in Hoffmeisters Konzert wirklich spielen sollte.«

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,
    so gerne wüsste ich, ob es auch das Orchestermaterial von den gleichen Herausgebern zu erwerben gibt?
    Mit bestem Dank
    Gunther Pohl
    Collegium Musicum Bamberg

    • Sehr geehrter Herr Prof. Pohl,
      leider, leider gibt es kein Orchestermaterial, das zu diesem Klavierauszug passt. Die erhältlichen Materiale bei Kunzelmann und Peters weichen vor allem in der Artikulation erheblich von unserer Urtextausgabe ab.
      Mit bestem Gruß
      Norbert Gertsch

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