Als ich 2011 mit der Vorbereitung einer neuen Ausgabe zu Maurice Ravels Klaviersonatine begann, konnte ich mir nicht vorstellen, dabei etwas Neues zu entdecken. Die Quellen für den Notentext sind seit längerem bekannt und selbstverständlich sollte das Handexemplar Ravels mit autographen Korrekturen und Fingersatzangaben aus der Pariser Bibliothèque nationale de France als „letztes Wort“ des Komponisten als Hauptquelle dienen. Auch was die Entstehung der Sonatine angeht, waren scheinbar die Fakten längst bekannt. Alle Autoren und Herausgeber vor mir stützten sich ausschließlich auf einen Beitrag unter dem Titel When Ravel Composed to Order von Michel Dimitri Calvocoressi, der von 1895 bis 1915 in Paris gelebt und dort zu Ravels engstem Freundeskreis gehört hatte. Calvocoressi beschäftigte sich in diesem Artikel, der 1941 in Music & Letters erschien, mit den Kompositionen, die Ravel auf Bestellung schrieb. Anders als Debussy ließ sich Ravel sehr gern auf Aufträge und Vorgaben ein, fühlte sich nach eigener Aussage sogar dadurch in besonderer Weise inspiriert. Calvocoressi kam im Verlauf seiner Darstellung auch auf die Sonatine zu sprechen:
Ravel nahm demnach 1904 auf Calvocoressis Vorschlag hin an einem Kompositionswettbewerb für den ersten Satz einer Klaviersonatine in der Zeitschrift Weekly Critical Review teil. Dieser Wettbewerb sei aber abgesagt worden, weil Ravel der einzige Teilnehmer geblieben sei und überdies mit 77 Takten die Vorgabe von 75 Takten überschritten habe.
Das Erste, was mich stutzig machte, war die Angabe des Umfangs. Ravels erster Satz seiner Sonatine umfasst 84, nicht 77 Takte. Sollte Ravel damals eine kürzere Fassung eingereicht haben? Auch die Behauptung, Ravel sei der einzige Teilnehmer geblieben, weckte meine Neugierde. Sollte der Wettbewerb wirklich derart unattraktiv gewesen sein? Kurz, ich wollte unbedingt die Annonce in dieser ominösen Weekly Critical Review, deren Namen ich zuvor noch nie gehört hatte, mit eigenen Augen sehen.
Die Recherchen ergaben, dass die englisch-französische Kulturzeitschrift lediglich zwischen dem 21. Januar 1903 und dem 25. März 1904 erschienen war und heute nur noch in wenigen Bibliotheken vollständig greifbar ist. Nick Hearn, ein freundlicher Bibliothekar der Bodleian Library in Oxford wurde schnell fündig. Die gesuchte Annonce erschien erstmals am 12. März 1903 und wurde nochmals am 19. März, 9. und 23. April wiederholt.
Vergleicht man den Text mit Calvocoressis Angaben, ergeben sich einige interessante Abweichungen. Der Wettbewerb wurde 1903 (nicht 1904) ausgeschrieben, erbeten wurde der erste Satz einer Klaviersonate (nicht einer Sonatine), zudem mit der Vorgabe der Tonart fis-moll. Außerdem verschwieg Calvocoressi, dass den Gewinner die Preissumme von 100 Francs (nach heutigem Geldwert ca. 350 €) und die Publikation seines Manuskripts in einer Beilage der Weekly Critical Review erwarteten.
Eine entsprechende Beilage ist nachweislich nie erschienen, aber bedeutet dies zwingend, dass der Wettbewerb – auch wenn er mehrfach annonciert wurde – mangels fehlender Beiträger abgesagt wurde?
Zu dieser Frage brachte ein 1999 bei Sotheby’s angebotenes Autograph des ersten Satzes von Ravels Sonatine ein wenig Licht ins Dunkel, da mir der damalige Käufer freundlicherweise Kopien dieser Handschrift überließ.
Dass es sich hierbei um das Originalmanuskript handelt, das Ravel 1903 zum Wettbewerb einreichte, ergibt sich aus dem Autoreneintrag „par Verla“ von fremder Hand (oben rechts), der später durch „par Maurice Ravel“ ersetzt wurde. Laut Regel Nr. 3 des Wettbewerbs sollten ja die Komponisten ihren Beitrag unter Pseudonym einsenden (siehe Abbildung 2), damit die mit prominenten französischen Musikern und Komponisten besetzte Jury unbefangen blieb. Für Ravel, der solche Spiele liebte, ist es besonders charakteristisch, dass er ein Anagramm seines Namens wählte. Die zahlreichen Stechereintragungen (u.a. oben links: „4 pl[anches] | au format ci-joint“ = „4 (Stich-)Platten | im beiliegenden Format“) verweisen außerdem darauf, dass die Handschrift zum Druck vorbereitet wurde.
Hatte Ravel also den Wettbewerb gewonnen? Und wenn ja, warum wurde die Beilage nie gedruckt? In der Zeitschrift findet sich leider kein Hinweis darauf, und Ravel selbst hat sich, soweit bekannt, nie über die ungewöhnliche Entstehung des ersten Satzes seiner Sonatine geäußert. Im Gegenteil: In seiner sogenannten „Autobiographischen Skizze“ von 1928 heißt es lapidar: „Nach der Sammlung der Miroirs komponierte ich eine Sonatine für Klavier und die Histoires naturelles.“ Damit suggerierte Ravel, dass die Sonatine in Gänze nach den 1905 beendeten Miroirs entstanden wäre – dabei hatte Ravel den ersten Satz nachweislich bereits 1904 mindestens zweimal in Salons vorgestellt. Der Vergleich der ersten autographen Niederschrift des ersten Satzes mit der in der vollständigen, mit „August 1905“ datierten Partitur (Bibliothèque nationale de France) zeigt nur marginale Unterschiede, vor allem auch keinen Unterschied im Umfang. Ravel hatte den ersten Satz bei der späteren Erweiterung zur dreisätzigen Sonatine nahezu unverändert übernommen.
Für die Edition des Notentextes (HN 1018) brachte mir meine Neugierde wenig ein, sehr wohl aber für das Vorwort und die Bemerkungen, die in „Urtext“-Editionen weit mehr sind als bloßes Beiwerk. Aber es bleiben Fragen, die kaum noch zu beantworten sind. War Ravel später die Vorgeschichte seiner Sonatine peinlich? War er es vielleicht sogar selbst, der den Druck in der Weekly Critical Review verhinderte?
Ob Ravel nun den Wettbewerb seinerzeit gewann oder nicht – die Sonatine erwies sich als Glücksfall für ihn. Sie wurde eines seiner populärsten Klavierwerke und brachte ihn mit dem renommierten Verlagshaus Durand in Kontakt, das ihm kurz nach der Veröffentlichung der Komposition (November 1905) einen Vertrag mit exklusivem Verlagsrecht gegen ein fixes Jahresgehalt von 12.000 Francs (heute ca. 42.000 €) anbot. Einmal mehr hatte sich für Ravel das Komponieren auf Bestellung gelohnt …