Dass es im G. Henle Ver­lag nicht nur die blau­en Ur­text-Edi­tio­nen gibt, son­dern auch große Ge­samt­aus­ga­ben-Bän­de mit den Wer­ken von Haydn, Beet­ho­ven und Brahms ist wohl hin­läng­lich be­kannt. Schließ­lich bil­den diese Bände ja auch die ver­läss­li­che Grund­la­ge un­se­rer prak­ti­schen Aus­ga­ben die­ser Kom­po­nis­ten. Dass sich aber darin neben den Par­ti­tu­ren der sämt­li­chen Werke eines Kom­po­nis­ten auch frü­he­re Fas­sun­gen oder gar Skiz­zen fin­den, ist schon we­ni­ger selbst­ver­ständ­lich – und man­cher wird sich viel­leicht sogar fra­gen: Was sind ei­gent­lich Mu­sik-Skiz­zen und wozu wer­den sie in einer Ge­samt­aus­ga­be ver­öf­fent­licht?

Nun, eben­so wie in der Ma­le­rei so sind auch in der Musik Skiz­zen die erste schrift­li­che Fi­xie­rung einer Idee, sei es eines ein­zel­nen Mo­tivs oder des Ver­laufs eines gan­zen Sat­zes. Sie ste­hen damit im Kom­po­si­ti­ons­pro­zess, wie wir ihn uns bei Jo­seph Haydn vor­zu­stel­len haben, zwi­schen dem Phan­ta­sie­ren am Kla­vier auf der einen Seite und der Aus­ar­bei­tung einer Kom­po­si­ti­on auf der an­de­ren. Der mit Haydn be­freun­de­te Maler Al­bert Chris­toph Dies hat das in sei­nen Bio­gra­phi­schen Nach­rich­ten über Jo­seph Haydn (1810) wie folgt be­schrie­ben: Um acht Uhr nahm Haydn sein Früh­mahl. Gleich nach­her setz­te er sich an das Kla­vier und phan­ta­sier­te so lange, bis er zu sei­ner Ab­sicht die­nen­de Ge­dan­ken fand, die er so­gleich zu Pa­pier brach­te: So ent­stan­den die ers­ten Skiz­zen von sei­nen Kom­po­si­tio­nen […] Um vier Uhr ging er wie­der an die mu­si­ka­li­sche Be­schäf­ti­gung. Er nahm dann die des Mor­gens ent­wor­fe­ne Skiz­ze und setz­te sie in Par­ti­tur […].

Die Skiz­zen lie­fern uns also ganz kon­kret erste Hin­wei­se dar­auf, mit wel­chen Ideen sich Haydn an’s Werk mach­te.  Aus dem Ver­gleich von Skiz­ze und spä­te­rer Nie­der­schrift kön­nen wir nach­voll­zie­hen, wie Haydn kom­po­si­to­risch ge­ar­bei­tet hat.  Das Wun­der, wie ein Kunst­werk ent­steht, das wir bei einem heu­ti­gen Künst­ler wie Ger­hard Rich­ter in dem ak­tu­el­len Ki­no­film Ger­hard Rich­ter Pain­ting ver­fol­gen kön­nen, wird so auch für einen schon seit 200 Jah­ren toten Kom­po­nis­ten zu­min­dest in Aus­schnit­ten er­fahr­bar – wenn sich Skiz­zen zu sei­nen Wer­ken er­hal­ten haben.

Die­ses wenn be­deu­tet frei­lich eine sehr we­sent­li­che Ein­schrän­kung, denn Skiz­zen haben von Natur aus schlech­te Chan­cen, für die Nach­welt er­hal­ten zu blei­ben. Schließ­lich war ihre Auf­ga­be als „Ge­dächt­nis­stüt­ze“ mit Voll­endung eines Wer­kes er­füllt. Da­nach wur­den sie meist vom Kom­po­nis­ten selbst ver­nich­tet oder ver­schwan­den auf an­de­re Weise. Auch von Haydn sind uns „nur“ zu ca. 70 sei­ner Werke Skiz­zen be­kannt. Zu vie­len Sin­fo­ni­en und Streich­quar­tet­ten gibt es nur ein­zel­ne Sei­ten oder gar keine Ent­wür­fe mehr. An­ders bei der Schöp­fung: Hier haben sich mit ins­ge­samt 36 eng be­schrie­be­nen Sei­ten au­ßer­ge­wöhn­lich viele Skiz­zen er­hal­ten, die Ein­blick in die Werk­statt des Meis­ters geben.

So kann man nur aus die­sen Blät­tern er­ken­nen, dass die be­rühm­te So­pra­na­rie „Auf star­kem Fit­ti­ge“ ur­sprüng­lich eine ganz an­de­re Me­lo­die hatte. Der fünf­mal no­tier­te Be­ginn des Re­zi­ta­tivs „Nun ist die erste Pflicht getan“ lässt deut­lich wer­den, wie Haydn selbst bei solch schein­bar stan­dar­di­sier­ten mu­si­ka­li­schen Flos­keln sehr genau abwog, bevor er sich für eine Va­ri­an­te ent­schied. Die drei zur Ou­ver­tü­re Die Vor­stel­lung des Chaos er­hal­te­nen Par­ti­tur­skiz­zen wie­der­um zei­gen, wie Haydn aus einer zu­nächst nur auf einer Seite um­ris­se­nen Grund­idee lang­sam den ge­sam­ten Satz ent­wi­ckelt und mit immer fei­ne­ren rhyth­mi­schen und har­mo­ni­schen De­tails aus­staf­fiert.

Grund genug für eine his­to­risch-kri­ti­sche Ge­samt­aus­ga­be, die das Oeu­vre eines Kom­po­nis­ten ja in sei­ner his­to­ri­schen „Ge­wor­den­heit“ er­fahr­bar ma­chen will, diese frü­hes­ten Er­schei­nungs­for­men eines Wer­kes eben­so genau zu do­ku­men­tie­ren wie die voll­stän­dig aus­ge­ar­bei­te­te Kom­po­si­ti­on, die am Ende die­ses Pro­zes­ses steht. Es fragt sich nur, wie diese Do­ku­men­ta­ti­on aus­se­hen soll­te. Denn der Ver­gleich mit der Ma­le­rei hinkt in einer Hin­sicht sehr: Im Ge­gen­satz zu einer Bild­skiz­ze ist eine Kom­po­si­ti­ons­skiz­ze für den un­ge­üb­ten Leser prak­tisch nicht ent­zif­fer­bar.

Ausschnitt Skizze

Aus­schnitt einer Skiz­ze (Ver­grö­ße­rung durch Dop­pel­klick)

Haydn schrieb seine Skiz­zen ja nur für sei­nen ei­ge­nen Ge­brauch; sie sind daher viel schwe­rer les­bar als seine Au­to­gra­phe (die ja be­reits für einen Mu­si­ker oder Ko­pis­ten ent­stan­den, der sie feh­ler­frei lesen kön­nen soll­te). Und er fi­xier­te in die­sen Skiz­zen auch nur das, was er un­be­dingt als Er­in­ne­rungs­stüt­ze für die Aus­ar­bei­tung brauch­te. Für ihn selbst­ver­ständ­li­che Ele­men­te – wie z. B. No­ten­schlüs­sel, Ton­art­vor­zeich­nung oder den Text einer Arie – hielt er darin gar nicht fest. Schließ­lich no­tier­te er seine Ideen auf so einem Skiz­zen­blatt nicht un­be­dingt „or­dent­lich“ hin­ter­ein­an­der, son­dern er be­nutz­te das Blatt als einen nach for­ma­len As­pek­ten ge­glie­der­ten Schrei­b­raum. Etwa so, wie man einen gro­ßen Ein­kaufs­zet­tel schreibt: links oben die Sa­chen vom Bä­cker, dar­un­ter die Le­bens­mit­tel vom Su­per­markt, rechts außen be­son­de­re Pos­ten wie Blu­men oder Bü­cher… Auch wenn uns spä­ter noch Er­gän­zun­gen dazu ein­fal­len, ord­nen wir sie in die­ses Mus­ter ein.

Genau so geht Haydn vor, wenn er auf einer Seite zu­nächst mal die Ideen für be­stimm­te Ab­schnit­te an ver­schie­de­nen Plät­zen no­tiert, dann Al­ter­na­ti­ven dazu dar­über und dar­un­ter. Dann fällt ihm eine ganz neue Lö­sung ein, die aber immer noch auf die­ser für die eine Arie ge­dach­ten Seite ste­hen soll. Und da kaum noch eine Zeile frei ist, be­ginnt er, hin­ter be­reits no­tier­ten Ab­schnit­ten ein­fach neu zu schrei­ben, und quetscht seine Ge­dan­ken schließ­lich in die letz­ten Frei­räu­me, bis das Blatt so voll­ge­schrie­ben ist, dass man kaum noch etwas ent­zif­fern kann.

So kommt es, dass man zur Lek­tü­re so man­cher Skiz­zen­blät­ter einen re­gel­rech­ten Fahr­plan braucht, um das No­tier­te im rich­ti­gen Zu­sam­men­hang zu lesen. Des­we­gen wer­den Haydns Skiz­zen in der vom Köl­ner Jo­seph Haydn-In­sti­tut her­aus­ge­ge­be­nen Ge­samt­aus­ga­be nicht (nur) ab­ge­bil­det, son­dern auch in eine ein­deu­tig les­ba­re No­ten­schrift über­tra­gen. Und diese Über­tra­gung wird mit jenen zu­sätz­li­chen In­for­ma­tio­nen aus­ge­stat­tet, die für Haydn selbst­ver­ständ­lich waren: Satz­num­mern und Takt­zah­len be­zeich­nen, wor­auf sich der Ein­trag be­zieht; zu­sam­men­ge­hö­ri­ge Sys­te­me wer­den mar­kiert oder die Fort­set­zung eines No­tats an an­de­rer Stel­le an­ge­zeigt. Schließ­lich lie­fert ein Kom­men­tar Hin­wei­se dar­auf, in wel­che Rei­hen­fol­ge das Blatt be­schrie­ben wurde und wie die ein­zel­nen Ab­schnit­te mit­ein­an­der zu­sam­men­hän­gen.

Aus­schnitt einer Über­tra­gung (Ver­grö­ße­rung durch Dop­pel­klick)

Nor­ma­ler­wei­se wer­den die Skiz­zen in der Haydn-Ge­samt­aus­ga­be schlicht am Ende des Par­ti­tur-Ban­des, in einem An­hang, wie­der­ge­ge­ben. Bei der Schöp­fung be­deu­te­te die große Gunst der Über­lie­fe­rung eine Her­aus­for­de­rung, die­ses in sei­ner Viel­falt für Haydn ein­ma­li­ge Werk­statt­ma­te­ri­al op­ti­mal auf­zu­be­rei­ten. Die Skiz­zen wer­den daher in einem ei­ge­nen Band (HN 5837) ver­öf­fent­licht, der im ei­gent­lich Sinne gar kein Band ist, son­dern eine Scha­tul­le: mit ein­zel­nen Hef­ten für die far­bi­gen Ab­bil­dun­gen, die Über­tra­gun­gen und den Kom­men­tar.  So kann man die heute in Lon­don, New York und Wien auf­be­wahr­ten Skiz­zen erst­mals wie­der in ihrem „ori­gi­na­len“ Zu­sam­men­hang lesen, Über­tra­gung und Skiz­ze di­rekt mit­ein­an­der ver­glei­chen und den Kom­men­tar dazu her­an­zie­hen.  Auf diese Weise soll dem Leser die best­mög­li­che Grund­la­ge für das Stu­di­um von Haydns Skiz­zen ge­ge­ben wer­den – auf dass er selbst einen klei­nen Blick in die Werk­statt eines gro­ßen Meis­ters tun kann. Und wir freu­en uns be­son­ders, dass diese An­stren­gun­gen bei der dies­jäh­ri­gen In­ter­na­tio­na­len Mu­sik­mes­se in Frank­furt mit der Aus­zeich­nung „Best edi­ti­on“ für den Band mit den Schöp­fungs-Skiz­zen be­lohnt wur­den.

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