Im Som­mer 1915 voll­ende­te Clau­de De­bus­sy in der Ab­ge­schie­den­heit des klei­nen Ba­de­or­tes Pour­vil­le in der Nor­man­die sein letz­tes gro­ßes Kla­vier­werk, die Douze Études pour le piano. In der Druck­aus­ga­be, die im dar­auf­fol­gen­den Jahr er­schien, stell­te er den 12 Etü­den eine etwas ku­rio­se (und im Stil un­nach­ahm­lich De­bus­sy’sche) Be­mer­kung voran. Das fran­zö­si­sche Ori­gi­nal ist in der Pe­truc­ci-Li­bra­ry zu sehen, hier ist die deut­sche Über­set­zung:

Ei­ni­ge Über­le­gun­gen…
Bei die­sen Études feh­len die Fin­ger­sät­ze ab­sicht­lich. Hier eine kurze Be­grün­dung:
Ein vor­ge­ge­be­ner Fin­gersatz kann sich lo­gi­scher­wei­se nicht den ver­schie­de­nen Hand­for­men an­pas­sen. Im mo­der­nen Kla­vier­spiel hilft man sich gern mit über­ein­an­der­ge­schrie­be­nen Al­ter­na­ti­ven, be­wirkt damit aber nur Ver­wir­rung… Die Musik wird damit zu einer merk­wür­di­gen Un­ter­neh­mung, die auf un­er­klär­li­che Weise die Zahl der Fin­ger ver­mehrt…
Das Bei­spiel Mo­zarts, die­ses früh­rei­fen Tas­ten­ge­nies, be­ant­wor­tet die Frage kaum: er konn­te die Töne eines Ak­kor­des nicht grei­fen und nahm des­halb die Nase zu Hilfe. Viel­leicht han­delt es sich hier aber auch nur um die Hirn­ge­spins­te eines allzu eif­ri­gen Jün­gers.
Un­se­re alten Meis­ter, ich meine ge­ra­de „un­se­re“ alten be­wun­derns­wer­ten Cla­ve­ci­nis­ten, schrie­ben nie­mals Fin­ger­sät­ze. Sie ver­trau­ten zwei­fel­los der Kom­pe­tenz ihrer Zeit­ge­nos­sen. An den mo­der­nen Vir­tuo­sen zu zwei­feln, wäre un­ge­hö­rig.
Zum Schluß: Feh­len­de Fin­ger­sät­ze sind eine aus­ge­zeich­ne­te Übung. Sie un­ter­drü­cken den Wi­der­spruchs­geist, der uns dazu ver­lei­tet, die Fin­ger­sät­ze des Kom­po­nis­ten zu um­ge­hen, und be­stä­ti­gen den im­mer­gül­ti­gen Aus­spruch: „Durch sich selbst ist man immer am bes­ten be­dient.“
Su­chen wir un­se­re ei­ge­nen Fin­ger­sät­ze!
C. D.

Eine ein­deu­ti­ge Aus­sa­ge, so scheint es – wir haben daher ei­ni­ge kri­ti­sche Kom­men­ta­re zu un­se­rer Ur­text­edi­ti­on der Études er­hal­ten, die wie alle un­se­re Kla­vier­aus­ga­ben hin­zu­ge­füg­te Fin­ger­sät­ze ent­hält (na­tür­lich als Er­gän­zung ein­deu­tig ge­kenn­zeich­net). Warum, so der Vor­wurf, maßen wir uns etwas an, was der Autor selbst ganz be­wusst ver­mie­den hat?

Aber man muss sich das Vor­wort und den Kon­text sei­ner Ent­ste­hung etwas ge­nau­er an­se­hen. Zu­nächst stellt sich die Frage, wieso De­bus­sy über­haupt eine sol­che Recht­fer­ti­gung vor­aus­schick­te – schließ­lich waren in frü­he­ren und tech­nisch eben­falls schwie­ri­gen Kla­vier­zy­klen wie Es­tam­pes, Images oder den Préludes auch keine Fin­ger­sät­ze ent­hal­ten, ohne dass es dazu eines Kom­men­tars be­durft hätte. Doch bei den Études, die trotz ihres her­aus­ra­gen­den künst­le­ri­schen Ge­halts dem Wort­sinn nach ja „Übungs­stü­cke“ sind, scheint De­bus­sy auf­grund der Gat­tungs­tra­di­ti­on – und wohl auch von Sei­ten sei­nes Ver­le­gers Jac­ques Du­rand – eine stär­ke­re Er­war­tungs­hal­tung ge­spürt zu haben, die Aus­ga­be mit Fin­gersatz­be­zeich­nun­gen aus­zu­stat­ten. Dies umso mehr, als De­bus­sy ein gro­ßes Vor­bild di­rekt vor Augen stand: An­fang des Jah­res 1915 hatte er für Du­rand die Etü­den von Frédéric Cho­pin neu her­aus­ge­ge­ben, die aus­gie­big mit ori­gi­na­len Fin­ger­sät­zen des Au­tors ver­se­hen sind.

Was also tun? Der iro­ni­sche Ton­fall der Ein­lei­tung und der Rück­griff auf An­ek­do­te und Sprich­wort legen nahe, dass De­bus­sy wohl eher einen ele­gan­ten Aus­weg aus die­ser ihn be­las­ten­den Auf­ga­be such­te, als dass er eine re­flek­tier­te Grund­satz­kri­tik am Prin­zip der Fin­gersatz­be­zeich­nung be­ab­sich­tig­te. Das ein­zi­ge hand­fes­te Ar­gu­ment scheint sein his­to­ri­scher Ver­weis auf „un­se­re alten be­wun­derns­wer­ten Cla­ve­ci­nis­ten“ – hier­bei be­ruft er sich auf Kom­po­nis­ten wie Jean-Phil­ip­pe Ra­meau und ins­be­son­de­re François Cou­pe­r­in, den De­bus­sy zu­nächst als Wid­mungs­trä­ger sei­ner Études in Be­tracht ge­zo­gen hatte (schließ­lich ent­schied er sich je­doch für Cho­pin). Folgt De­bus­sy also ein­fach einer lan­gen fran­zö­si­schen Tra­di­ti­on von „Fin­gersatz­ab­leh­nern“?

Doch es ist aus­ge­rech­net Cou­pe­r­in, der De­bus­sy in die­ser Hin­sicht in den Rü­cken fällt: In sei­nem Lehr­werk L’art de tou­cher le cla­ve­cin (Paris 1716) geht Cou­pe­r­in aus­führ­lich auf die tech­ni­sche Seite des Cem­ba­lo­spiels und auch de­tail­liert auf Fra­gen des kor­rek­ten Fin­gersat­zes ein, ins­be­son­de­re im Ab­schnitt „Pe­ti­te dis­ser­ta­ti­on, sur la manière de doig­ter, pour pa­ru­en­ir a L’in­tel­li­gence des agrémens qu’on ua trouuer.“ („Klei­ne Ab­hand­lung über den Fin­gersatz, um ein Ver­ständ­nis für die an­zu­tref­fen­den Ver­zie­run­gen zu er­lan­gen.“) In einem wei­te­ren Teil er­läu­tert er zahl­rei­che schwie­rig zu spie­len­de Stel­len aus sei­nen Pièces de cla­ve­cin … pre­mier livre (Erst­aus­ga­be Paris 1713) und gibt zweck­mä­ßi­ge Fin­ger­sät­ze hier­zu an:

Fr. Cou­pe­r­in, L’art de tou­cher le cla­ve­cin (1716), S. 46

Wie wich­tig Cou­pe­r­in of­fen­bar die ge­naue Be­ach­tung sei­ner dort an­ge­ge­be­nen Fin­ger­sät­ze war, sieht man daran, dass er in einer spä­te­ren Auf­la­ge eben jenes Pre­mier livre einen ent­spre­chen­den Ver­weis di­rekt im No­ten­text ein­fü­gen ließ: „Voyés [sic] ma Méthode pour la ma­nie­re de doig­ter cet endroit. page 46.“ („Siehe mein Lehr­buch, Seite 46, be­züg­lich des Fin­gersat­zes für diese Stel­le.“)


Fr. Cou­pe­r­in, Pièces de cla­ve­cin … pre­mier livre (1713), S. 6

Auch bei Jean-Phil­ip­pe Ra­me­aus Pièces de Cla­ves­sin (Paris 1724) ge­nügt be­reits ein Blick auf das Ti­tel­blatt, um zu sehen, dass er sich darin auch Fra­gen der Spiel­tech­nik wid­met. In einem mehr­sei­ti­gen Vor­spann („De la me­cha­ni­que des doigts sur le cla­ves­sin“) be­han­delt er dabei ein­ge­hend The­men wie Hand­hal­tung, An­schlag, kor­rek­te Po­si­ti­on der Fin­ger und die dafür er­for­der­li­chen Fin­ger­sät­ze.


J.-P. Ra­meau, Pièces de Cla­ves­sin (1724), Ti­tel­sei­te

Die von De­bus­sy be­schwo­re­nen „alten Meis­ter“ leg­ten also durch­aus Wert auf päd­ago­gi­sche Er­läu­te­run­gen und schie­nen der „Kom­pe­tenz ihrer Zeit­ge­nos­sen“ doch nicht allzu sehr zu ver­trau­en…

Nun soll es hier na­tür­lich nicht darum gehen, De­bus­sy pos­tu­me Nach­hil­fe in Mu­sik­ge­schich­te zu er­tei­len. Aber wie man sieht, muss man sich sehr davor hüten, seine eher scherz­haft-bei­läu­fi­gen Aperçus für eine his­to­risch fun­dier­te Ar­gu­men­ta­ti­on zu hal­ten und seine „Quel­ques mots“ als ge­wis­ser­ma­ßen „letz­ten Wil­len“ über­zu­in­ter­pre­tie­ren. Im Üb­ri­gen be­fass­te sich De­bus­sy durch­aus mit der Pro­ble­ma­tik des ge­eig­ne­ten Fin­gersat­zes für be­stimm­te schwie­ri­ge Stel­len, und auch im Ent­wurfs­au­to­graph der Études fin­den sich noch ei­ni­ge Fin­gersatz­lö­sun­gen. Selbst in der Druck­aus­ga­be hält sich De­bus­sy nicht ganz an sein ei­ge­nes Vor­wort, wie in der 6. Étude „Pour les huit doigts“ – die Be­schrän­kung auf nur acht Fin­ger, mit der er im­pli­zit also auch einen Fin­gersatz zur Aus­füh­rung der fort­lau­fen­den 4-Ton-Grup­pen vor­gibt, be­grün­det De­bus­sy in einer Fuß­no­te: „In die­ser Etüde ist auf­grund der stän­dig wech­seln­den Po­si­ti­on der Hände der Ein­satz der Dau­men un­be­quem, und eine sol­che Aus­füh­rung würde zur Akro­ba­tik.“

C. De­bus­sy, Études, Nr. 6, T. 1–2

Es ist aber mehr als ver­ständ­lich, dass der zu jener Zeit be­reits schwer­kran­ke De­bus­sy seine ganze Zeit und Ar­beits­kraft auf das Kom­po­nie­ren und auf die Voll­endung sei­ner letz­ten So­na­ten­pro­jek­te rich­te­te und nicht auf „se­kun­dä­re“ Tä­tig­kei­ten wie das sys­te­ma­ti­sche Be­zif­fern der Études mit Fin­ger­sät­zen. Dar­aus ab­zu­lei­ten, dass spä­te­re Edi­tio­nen eben­falls keine Fin­gersatz­vor­schlä­ge auf­neh­men dürf­ten, scheint uns al­ler­dings über­trie­be­ne Pie­tät zu sein. „Cher­chons nos doigtés!“ – wir haben De­bus­sy beim Wort ge­nom­men und un­se­re ge­fun­den: in un­se­rer Ur­text­aus­ga­be ste­hen sie nun als Hil­fe­stel­lung, nicht als Vor­schrift. Fin­den Sie die Ih­ri­gen!

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2 Antworten auf »Finger weg von Debussy…? Warum wir in den „Études“ Fingersätze ergänzen«

  1. Wieland Hartwich sagt:

    Interessant ist, was die große französische Pianistin und Pädagogin Marguerite Long, die auch die Études unter Debussy’s persönlicher Anleitung gespielt hat, in ihrem Buch Au piano avec Claude Debussy (Ausgabe Billaudot, Paris, 1960, S. 75) zur 6. Étude schreibt. Sie habe Debussy’s Forderung, man möge sich seine eigenen Fingersätze suchen, ernst genommen und die besagte 6. Étude entgegen der Anweisung unter Mitwirkung der Daumen gespielt.
    Debussy sei vom Ergebnis begeistert gewesen und habe auch diesen Fingersatz genommen.

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