Tabea Zim­mer­mann, die fa­bel­haf­te Brat­schis­tin, schreibt:

„Ich spie­le ge­ra­de die Ar­peg­gio­ne-So­na­te [a-moll, D 821] von Schu­bert mit Ki­rill Ger­stein auf CD ein und ver­wen­de dazu die wun­der­ba­re Hen­le-Aus­ga­be. Beim Ver­gleich mit dem Au­to­graph [Paris] fällt mir beim Be­ginn des 3. Sat­zes auf, dass die Ak­zen­te im Kla­vier­part auf der Takt-Eins zu ste­hen schei­nen, und nicht syn­ko­pisch, wie bei Henle. Zu­min­dest bei den ers­ten bei­den Tak­ten würde ich es rein op­tisch über­zeu­gen­der fin­den, wenn der Ak­zent für die 1 gel­ten würde … Was mei­nen Sie dazu?“

Die Frage Tabea Zim­mer­manns ist von all­ge­mei­ner Be­deu­tung, denn Schu­berts Schreib­wei­se sei­ner Ak­zent­zei­chen wird oft miss­ver­stan­den. Hier die frag­li­che Stel­le in Schu­berts Hand­schrift:

Man könn­te im ers­ten Mo­ment tat­säch­lich mei­nen, im Au­to­graph Schu­berts stün­den die Ak­zen­te zur Solo- und Kla­vier­stim­me mehr oder we­ni­ger un­ter­ein­an­der, also strikt zur Takt-Eins. Ich bin mir aber si­cher, dass diese Stel­le (und damit der Cha­rak­ter des The­mas ins­ge­samt) ein­deu­tig in bei­den Stim­men nicht kon­form ge­schrie­ben und ge­meint ist, son­dern viel­mehr so, wie in mei­ner Aus­ga­be wie­der­ge­ge­ben: Im Kla­vier, rech­te Hand, steht der Ak­zent zur je­weils 2. Ach­tel, in der Strei­cher­stim­me je­doch zur Takt-Eins:

Ich darf in aller Kürze mei­nen Stand­punkt mit drei Be­ob­ach­tun­gen be­grün­den:

(1) Schreib­ge­wohn­heit: Schu­bert schreibt, wenn er genug Platz hat, in aller Regel die Ak­zen­te UNTER und nah an die ge­mein­te Note. Der Ak­zent neigt sich dabei leicht nach oben und “zeigt” somit auf den ge­mein­ten No­ten­kopf. Das trifft für un­se­re Stel­le für die So­lo­stim­me zu. Für die rech­te Hand des Kla­viers aber no­tiert er hier den Ak­zent “aus­nahms­wei­se” ÜBER den No­ten­kopf, und zwar nur des­halb, weil dort viel mehr Platz ist (und dar­un­ter eine Kol­li­si­on mit dem be­reits no­tier­ten Bass­ton droh­te). Auch die­ser Ak­zent ist wie üb­lich den­noch nach oben ge­neigt und er „zeigt“ auf die punk­tier­te Ach­tel, nicht auf die Halbe. Man muss also auf den Schreib­ge­stus ach­ten, nicht so sehr auf Un­ter-/Ober­satz. Hätte Schu­bert wirk­lich die Halbe ak­zen­tu­ie­ren wol­len, hätte er den Ak­zent ent­we­der unter die Halbe oder aus­nahms­wei­se über die Halbe und die Ach­tel­pau­se dann noch dar­über ge­schrie­ben. Und der Nei­gungs­win­kel des Ak­zents hätte sich zur Hal­be­no­te ge­neigt. Au­ßer­dem rutscht ge­wis­ser­ma­ßen das Ak­zent­zei­chen vom ers­ten bis zum 4. Takt all­mäh­lich immer stär­ker nach rechts: woll­te man es in T. 1 noch zur Hal­be­no­te lesen (ist aber be­reits rechts davon), steht der Ak­zent in T. 4 di­rekt über der “1 und”.

In die­sem Zu­sam­men­hang darf ich alle Blog-Le­ser auf eine groß­ar­ti­ge Home­page der Wien­bi­blio­thek auf­merk­sam ma­chen, die un­end­lich viele ori­gi­na­le Schu­bert-Hand­schrif­ten in her­vor­ra­gen­der Wie­der­ga­be­qua­li­tät ent­hält (aber Ach­tung: Man kann dort stu­die­rend und stau­nend die Zeit ver­ges­sen…).

(2) Musik: Warum hätte Schu­bert den durch den Bass (Halbe) oh­ne­hin be­ton­ten Ab­takt noch mit Ak­zent ver­se­hen sol­len, wo doch die Syn­ko­pe – ich meine: eine nur sehr zart zu be­to­nen­de Syn­ko­pe – mu­si­ka­lisch in ihrer Be­to­nung viel un­ge­wöhn­li­cher ist? (Ich weiß, es gibt sol­che Stel­len bei Schu­bert, wo er das “Nor­ma­le” noch be­tont.) Wir spre­chen in der Text­kri­tik an sol­chen strit­ti­gen Stel­len (sie ist hier aber gar nicht strit­tig, siehe oben) von der ‘lec­tio dif­fi­ci­li­or po­ti­or’, der im Zwei­fels­fal­le vom Autor eher ge­mein­ten schwie­ri­ge­ren (un­ge­wöhn­li­che­ren) Les­art. Die Syn­ko­pe ist das hier Un­ge­wöhn­li­che in ihrer (leich­ten) Be­to­nung, nicht die “1”. Des­halb muss­te mei­ner Mei­nung nach Schu­bert hier den Ak­zent (ein paar Mal) hin­schrei­ben, um das Ge­mein­te zu ver­deut­li­chen. Das mu­si­ka­lisch Ge­mein­te ist dem­nach eine nicht gleich­för­mig krei­sen­de, son­dern, man ver­zei­he das un­wis­sen­schaft­li­che, aber bild­haf­te Wort: eine leicht „ei­ern­de“ Be­we­gung.

(3) Erst­aus­ga­be: Sie er­schien erst 1871 (!) bei Gott­hard (Wien), über 40 Jahre nach Schu­berts Tod. Sie ist zwar keine Quel­le im en­ge­ren Sinne (es gibt näm­lich außer dem Au­to­graph bei der „Ar­peg­gio­ne“-So­na­te keine wei­te­re her­an­zu­zie­hen­de Pri­mär­quel­le), aber den­noch liest auch der Wie­ner Ste­cher den Ak­zent zur “1 und”, was seine Er­fah­rung mit Schu­bert-Au­to­gra­phen gemäß Punkt 1 be­legt.

Fazit: Ich bin also sehr für die bei Henle – üb­ri­gens auch in allen an­de­ren mir be­kann­ten Druck­aus­ga­ben des Werks – wie­der­ge­ge­be­ne No­ta­ti­on und hoffe na­tür­lich, Sie, ver­ehr­te, liebe Frau Zim­mer­mann, sowie alle un­se­re Blog-Le­ser hier­von rest­los davon über­zeugt zu haben.

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Eine Antwort auf »Den richtigen Akzent setzen. Zum Rondo-Thema von Schuberts „Arpeggione“-Sonate (3. Satz)«

  1. Sehr geehrte Schubertianer, diese Stelle ist sehr interessant und grundsätzlich lese ich den Akzent auch auf der Takt-Eins – graphisch betrachtet. Musikalisch lassen sich zwei weitere Argumente benennen, die durchaus geeignet sind die oben ausgeführte Begründung für eine Stellung auf der zweiten Achtel zu unterstreichen. Natürlich ist es eine Synkope, die in dem punktierten Viertel nach einer Betonung verlangt. Auch das ist eine natürliche Position eines Akzents. Dann kommt noch als weitere Besonderheit hinzu: Erst die Betonung gibt der bordunartigen Quint die charakteristische Klanglichkeit, die hier erforderlich ist. Ich neige daher dazu, für die Stellung auf der zweiten Achtel zu stimmen. Danke für den interessanten Beitrag.

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