Unser Lek­to­rat er­hält immer wie­der An­fra­gen von Be­nut­zern mit der Bitte, zu be­stimm­ten Stel­len Aus­kunft über die Quel­len zu geben: „Steht das ge­nau­so im Au­to­graph?“ oder: „Ent­spricht das tat­säch­lich der Erst­aus­ga­be?“. Im Hin­ter­grund der Fra­gen steht ge­le­gent­lich die Vor­stel­lung, „Ur­text“ be­deu­te einen (mehr oder we­ni­ger) tex­ti­den­ti­schen Ab­druck der als Haupt­quel­le er­kann­ten Vor­la­ge. Dies ist na­tür­lich nicht der Fall, denn, ganz ab­ge­se­hen von Feh­ler­kor­rek­tu­ren, müs­sen Ur­text-Aus­ga­ben selbst­ver­ständ­lich auch in­di­vi­du­el­le oder zeit­be­ding­te Schreib­ge­wohn­hei­ten in den Quel­len den heute üb­li­chen Re­geln der No­ten­gra­phik an­pas­sen.

Eines die­ser Ele­men­te be­trifft den Um­gang mit Warn­vor­zei­chen. Der Ge­brauch für not­wen­di­ge Vor­zei­chen für takt­ge­bun­de­ne Musik ist re­la­tiv klar ge­re­gelt: Sie gel­ten für jeden Ein­zel­ton für die Dauer eines Tak­tes, bei Hal­te­bö­gen dar­über hin­aus bis zum letz­ten ge­bun­de­nen Ton. Die Set­zung von zu­sätz­li­chen Vor­zei­chen – Warn­vor­zei­chen – ist da­ge­gen im Prin­zip voll­kom­men frei­ge­stellt. Üb­li­cher­wei­se wer­den Er­hö­hun­gen oder Er­nied­ri­gun­gen von Ein­zel­tö­nen (zu­min­dest) im nach­fol­gen­den Takt si­cher­heits­hal­ber noch­mals als auf­ge­ho­ben an­ge­zeigt; das­sel­be gilt auch im glei­chen Takt, wenn der zuvor er­höh­te oder er­nied­rig­te Ton in an­de­rer Ok­tav­la­ge er­scheint. Aber von einer fes­ten Regel kann keine Rede sein; selbst bei Ge­samt­aus­ga­ben wird das Phä­no­men sehr un­ter­schied­lich be­han­delt.

Wie geht man als Her­aus­ge­ber mit den Warn­vor­zei­chen der Quel­len um? Be­lässt man sol­che, die nach heu­ti­gem Ge­brauch ei­gent­lich über­flüs­sig sind, hat man zwar den Vor­teil, das har­mo­ni­sche Den­ken des Kom­po­nis­ten wie­der­zu­ge­ben, gerät aber in Ge­fahr, die Mu­si­ker durch Über­fül­le zu ir­ri­tie­ren (man denke etwa an Max Reger). Um­ge­kehrt kann man aber auch ge­ra­de da­durch Ver­wir­rung stif­ten, das sei­ner­zeit Selbst­ver­ständ­li­che durch ein zu­sätz­li­ches Vor­zei­chen her­vor­zu­he­ben.

Im Fol­gen­den habe ich ei­ni­ge Fälle aus jüngst er­schie­ne­nen Edi­tio­nen zu­sam­men­ge­tra­gen (die in Frage ste­hen­den Vor­zei­chen sind rot mar­kiert).

1) Be­gin­nen wir mit einem ,klas­si­schen‘ Fall: Der al­te­rier­te Ton fis¹ kehrt in einer an­de­ren Stim­me (hier sogar von an­de­rer Hand aus­ge­führt) wie­der, ent­nom­men der Neue­di­ti­on zu: Ga­bri­el Fauré, Vio­lin­so­na­te Nr. 1 A-dur op. 13, Satz II, Takt 4 (HN 980).

Not­wen­dig ist das Vor­zei­chen nicht, aber doch sinn­voll – oder?

2) Ähn­lich, aber in um­ge­kehr­ter Rich­tung das nächs­te Bei­spiel: Em­ma­nu­el Cha­b­rier, Bourrée fan­tas­que, Takt 166 (HN 1162): Hier wird der glei­che Ton in er­höh­ter (ais, obe­res Sys­tem), da­nach in an­de­rer Ok­tav­la­ge in nicht­er­höh­ter Form (a, un­te­res Sys­tem) no­tiert. Für Cha­b­rier war es selbst­ver­ständ­lich, mit der lin­ken Hand a¹ zu spie­len (siehe Vort­akt), so dass er kein Warn­vor­zei­chen setz­te. Ist das ♮ also über­flüs­sig oder klärt es doch mög­li­che Zwei­fel?

3) A pro­pos Zwei­fel: Fauré ge­hört zu den Kom­po­nis­ten, die Vor­zei­chen nicht immer kon­se­quent setz­ten, son­dern durch­aus aus Nach­läs­sig­keit ver­ga­ßen. In aller Regel ist klar, was ge­meint ist, und oft haben die Set­zer be­reits in den Dru­cken das Not­wen­di­ge er­gänzt. In der nach­fol­gen­den Stel­le (wie­der aus HN 980, dies­mal Satz III, Takt 184 f.) bleibt ein klei­ner Zwei­fel. In den Quel­len steht kein ♮ vor e¹, aber des­sen Er­gän­zung dürf­te doch sinn­voll sein, denn eis¹ als er­neu­ter Vor­halt vor fis¹ im Fol­ge­takt 185 (wie zu Be­ginn von T. 184 eine Ok­ta­ve tie­fer) wäre me­lo­disch nicht völ­lig aus­zu­schlie­ßen …

4) Ein ähn­li­ches Bei­spiel fin­det sich in Mo­zarts Kla­vier­kon­zert KV 503, Satz I, Takt 364 (HN 825). Mo­zart er­höh­te f¹ zu fis¹ als me­lo­di­sche Wech­sel­no­te, setz­te aber lei­der eine Ok­ta­ve höher kein klä­ren­des Vor­zei­chen (♮ oder er­neu­tes ♯). Nach den Re­geln müss­te f² ge­spielt wer­den. Da aber in der pos­tu­men Erst­aus­ga­be f² zu fis² er­höht wurde, wohl im Hin­blick auf den nach­fol­gen­den Ziel­ton g², ist in un­se­rer Edi­ti­on an die­ser Stel­le eine Fuß­no­te mit dem un­über­seh­ba­ren Ver­weis auf diese ab­wei­chen­de Les­art hin­zu­ge­fügt. Es ist näm­lich nicht aus­zu­schlie­ßen, dass die Erst­aus­ga­be auf einer noch von Mo­zart selbst durch­ge­se­he­nen, heute ver­schol­le­nen Ab­schrift be­ruht.

5) Mit zu­neh­men­der Auf­lö­sung des dur-moll-to­na­len Sys­tems ab dem Ende des 19. Jahr­hun­derts wuchs die Zahl der Vor­zei­chen und damit auch der Warn­vor­zei­chen. Ver­ständ­li­cher­wei­se sahen sich die Kom­po­nis­ten ge­nö­tigt, zur Ver­mei­dung von Miss­ver­ständ­nis­sen bei har­mo­nisch neu­ar­ti­gen Tönen und Klän­gen zu­sätz­li­che Zei­chen zu no­tie­ren. Eine Stel­le aus Mau­rice Ra­vels So­na­ti­ne (Satz III, Takt 140, HN 1018) mag dies de­mons­trie­ren.

Nach den üb­li­chen Re­geln müss­te im obe­ren Sys­tem nur ♯ vor der 2. Note (cis²) wegen des cisis² in der lin­ken Hand ste­hen, aber es er­scheint lo­gisch, dass auch die ok­tav­ver­setz­ten Noten cis³ und cis¹ ein Warn-♯ er­hal­ten. Was aber soll das ♮ vor d², vor einer Note, die zuvor weder er­höht noch er­nied­rigt wurde? Es geht auf Ravel selbst zu­rück, der hier of­fen­bar einer mög­li­chen, durch das cisis² aus­ge­lös­ten Vor­weg­nah­me von dis² (kommt erst auf Zähl­zeit 4) vor­beu­gen woll­te. In un­se­rer Neue­di­ti­on sind wir die­ser War­nung des Kom­po­nis­ten ge­folgt – zu Recht?

6) Zum Schluss noch ein Bei­spiel für die Pro­ble­me in Musik, die auf Takt­ein­tei­lung ver­zich­tet, ver­an­schau­licht an­hand des Be­ginns von Erik Sa­ties 1ère Gnos­si­en­ne (HN 1073).

Wenn die Ord­nung der Takt­ein­hei­ten weg­fällt, soll diese dann durch den Zei­len­fall als neue Ein­heit er­setzt wer­den? Dann wären alle rot mar­kier­ten Vor­zei­chen zu til­gen. Oder müs­sen nun doch alle Vor­zei­chen kon­se­quent in jeder mo­ti­vi­scher Ein­heit – wie hier, dem Ori­gi­nal ent­spre­chend – wie­der­holt wer­den?

Wie den­ken Sie über die Set­zung von Warn­vor­zei­chen? Es wäre schön, wenn Sie zu dem einen oder an­de­ren Bei­spiel Ihre Mei­nung äu­ßern wür­den.

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2 Antworten auf »Das Kreuz mit dem B. Warnvorzeichen genug oder darf’s etwas mehr sein?«

  1. Joseph Kanz sagt:

    In der romantischen Musik (z.B. Verdi, Bizet, Rossini, Berlioz, Debussy, Puccini, Enescu usw.) war es üblich, die Vorzeichen (= genauer Versetzungszeichen) im neuen Takt auch dann zu setzen, wenn ein Bindebogen gesetzt war. Diese Schreibweise ist unmissverständlich und erübrigt das Setzen von Warn-Akzidenzien im Falle eines Seiten- oder Zeilenumbruchs. Aber auch Richard Wagner, Anton Bruckner und Felix Weingartner haben so notiert. Man nannte sie oft “französische Notation”. Sogar bei Peter Iljitsch Tschaikowski findet man gelegentlich diese Schreibweise, die aber von ihm oft nur inkonsequent verwandt wurde.

    In gedruckten Ausgaben wurde von den Verlagen sehr unterschiedlich verfahren: Deutsche Verlage änderten meist nach ihren Haus-Regeln ab, die sich weltweit immer mehr durchgesetzt haben – vielleicht weil sie etwas Platz sparen. Man nennt sie auch “deutsche Notation”. Die romanischen Originalverleger Verdis, Puccinis, Debussy und Bizets und anderer romanischer Komponisten, behielten diese Notation lange Zeit bei. Bereits bei Ravel und Dukas haben aber die französischen Verleger die neuere, deutsche Notation verwendet. Wie deren Manuskripte waren ist nicht näher bekannt. Immer wieder fand man diese Notation auch bei jüngeren, oft osteuropäischen Komponisten.

    Die Bruckner’schen Erstdrucke wurden alle normiert; erst die Bruckner Gesamtausgabe (Haas und auch Nowak) übernahm wieder diese originale Notation. Nach Nowaks Tod, wird von der Editionsleitung die “französische Notation” jedoch nicht mehr verwendet.

    Neuere Urtext-Ausgaben sind hier sehr inkonsequent, denn obwohl die originale Notation auch eine werkimmanente Eigenart des Komponisten ist, wird, trotz vorgeblicher Urtext-Prämisse, meist normiert.

    Die Notationsweise von Alban Berg (und anderen Komponisten der Moderne) – bei jeder Note ein Vorzeichen, oder einen Auflöser zu setzten – ist trotz scheinbarere Ähnlichkeit – mit der französischen Notation nicht identisch. Bei Überbindungen wird dort nach deutschen Regeln verfahren.

    Alle Notationen funktionieren in der Praxis klaglos, oft ist den Musikern gar nicht bewusst, in welcher Notation sie gerade spielen. Sicherer ist in jedem Falle die französische, sie stammt aus deren Opernpraxis. Mit sehr wenigen Orchesterproben mussten dort schwierige Werke fast “vom Blatt” gespielt werden. Auch müssen in der Oper die Spieler ständig auch auf andere Dinge – besonders auf die Vorgänge auf der Bühne achten. Daher wechseln die Augen ständig zwischen dem Notenblatt und Blick auf den Dirigenten; und ausserdem ist man ständig der Gefahr ausgesetzt abgelenkt zu werden; und kann leicht die Vorzeichen übersehen. In diesem Falle sind die zusätzlichen Vorzeichen der französischen Notation sehr hilfreich.

    Bei der “deutschen Notation” muss stets auf den Seiten- und Zeilenumbruch geachtet werden. Dort werden dann – wie in der französischen Tradition – zusätzliche Vorzeichen gesetzt werden. Manche Verlage (u.a. Boosey & Hawkes) setzen diese Vorsichts-Vorzeichen auch in Klammern. Die Dvorak- und Tschaikowski-Gesamtausgabe haben diese Vorzeichen leider nicht gesetzt. Fehlen diese Vorsichts-Vorzeichen, werden Proben oft unerfreulich verzögert.

    Abschließend muss ich sagen, dass in der Praxis lieber ein Vorzeichen zu viel stehen sollte; namentlich dann, wenn vom Blatt gespielt werden muss, d.h. überwiegend in Orchesterstimmen. Daher finde ich die französische Schreibweise letztendlich für die klarere und bessere; auch wenn ich hier einem weltweiten Trend widerspreche. Mal sehen, was die Diskussion erbringt.Vergessen sollte man diese Notation nicht, sie hat viel Tradition.

  2. Pingback: Mindestens haltbar bis… Wie lange gilt ein Vorzeichen? | Henle-Blog

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