Eine ernst­zu­neh­men­de wis­sen­schaft­li­che Buch­ver­öf­fent­li­chung er­kennt man be­kannt­lich an den Fuß­no­ten – und in ge­wis­ser Weise trifft dies auch auf mu­si­ka­li­sche Ur­text-Aus­ga­ben zu, denn hier gilt es ja eben­falls, den ge­druck­ten No­ten­text durch ent­spre­chen­de Be­le­ge zu fun­die­ren. Wo und wie dies ge­schieht, hängt al­ler­dings von vie­len Pa­ra­me­tern ab – unter an­de­rem von der Frage, wie viel Wort­text die Musik bzw. der aus­üben­de Mu­si­ker ver­trägt.

Dazu muss man sich zu­nächst ein­mal ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass die Idee der Ur­text-Aus­ga­be ja Ende des 19. Jahr­hun­derts als Ge­gen­be­we­gung zu den da­mals weit ver­brei­te­ten kom­men­tier­ten Aus­ga­ben ent­stand, in denen die Er­läu­te­run­gen im und um den No­ten­text herum so weit wu­cher­ten, dass auf einer Par­ti­tur­sei­te mit­un­ter mehr Text als Musik stand, wie zum Bei­pi­el in Hans von Bü­lows Beet­ho­ven-Aus­ga­be bei Cotta:

Gegen sol­che Über­frach­tung der Musik durch das Wort wand­te sich die 1895 von der Kö­nig­li­chen Aka­de­mie der Küns­te zu Ber­lin in­iti­ier­te Reihe Ur­text clas­si­scher Mu­sik­wer­ke, auf deren Im­pul­se un­se­re mo­der­nen Ur­text-Aus­ga­ben zu­rück­ge­hen:

Da­mals wie heute gilt für diese Aus­ga­ben, dass der No­ten­text von Kom­men­ta­ren mög­lichst frei­zu­hal­ten ist. Auch wir grup­pie­ren daher die not­wen­di­gen In­for­ma­tio­nen in un­se­ren Ur­text-Aus­ga­ben tra­di­tio­nell um die Musik herum: Wäh­rend das Vor­wort mit Aus­füh­run­gen zu Ent­ste­hung und Über­lie­fe­rung des Werks auf­war­tet, lie­fern die Be­mer­kun­gen am Ende des Ban­des einen ge­wis­sen­haf­ten Be­richt, warum wel­che Vor­la­ge(n) für die Edi­ti­on her­an­ge­zo­gen wurde(n) und wo der Her­aus­ge­ber von die­sen be­grün­de­ter­ma­ßen ab­weicht. In takt­wei­se auf­ge­lis­te­ten Ein­zel­be­mer­kun­gen kön­nen klei­ne Über­lie­fe­rungs­dif­fe­ren­zen eben­so wie grund­sätz­li­che Fra­gen zur Deu­tung eines Zei­chens dar­ge­legt wer­den, so dass der in­ter­es­sier­te Leser hier alle not­wen­di­gen In­for­ma­tio­nen fin­det, aber beim Mu­si­zie­ren damit nicht be­las­tet wird.

So weit, so gut – aber die Er­fah­rung zeigt: Ganz ohne Fuß­no­ten geht es nicht. Das liegt zum einen an der Ur­text-Idee selbst: Ge­ra­de wenn man die Vor­la­ge sehr genau wie­der­gibt, folgt dar­aus manch­mal die Not­wen­dig­keit eines Kom­men­tars, sei es die Über­set­zung eines nicht ge­läu­fi­gen Auf­füh­rungs­hin­wei­ses wie „lange Hal­tung“ in Schu­berts Hirt auf dem Fel­sen (HN 969, S. VIII/1, blät­tern Sie ein­fach los) oder die Re­la­ti­vie­rung einer Me­tro­no­man­ga­be durch Ver­weis auf das Vor­wort wie in Rous­sels Jou­eurs de flûte (HN 1092, S. 8/9). Sol­che Hin­wei­se sind für die Aus­füh­rung der Musik es­sen­ti­ell – wes­we­gen sie auch auf der No­ten­sei­te selbst ge­ge­ben wer­den müs­sen.

Glei­ches gilt für das klas­si­sche Pro­blem bei den Kla­vier­so­na­ten eines Beet­ho­ven, Mo­zart oder Haydn: Hier wird  neben der Ori­gi­nal­aus­ga­be oft auch das Au­to­graph zur Edi­ti­on mit her­an­ge­zo­gen, und bei man­chen Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Quel­len ist schlicht nicht zu ent­schei­den, ob es sich um eine wil­lent­li­che Än­de­rung des Kom­po­nis­ten han­delt oder um ein schlich­tes Ver­se­hen. Dies gilt ganz be­son­ders für den Be­reich der Dy­na­mik – wes­we­gen die Her­aus­ge­ber hier an kri­ti­schen Stel­len wie in Beet­ho­vens Wald­stein­so­na­te op. 53 den Quel­len­be­fund in der Fuß­no­te re­fe­rie­ren (HN 946, S. 14/15), um den Mu­si­ker di­rekt auf eine mög­li­che an­de­re Ent­schei­dung auf­merk­sam zu ma­chen.

Mit­un­ter muss die Fuß­no­te aber auch ge­wis­ser­ma­ßen vor­beu­gend ge­setzt wer­den, um den Mu­si­ker vor einer an­de­ren Ent­schei­dung zu „be­wah­ren“ – denn häu­fig genug sind die nicht au­to­ri­sier­ten Va­ri­an­ten eines Wer­kes so all­ge­mein be­kannt und be­liebt, dass der Ur­text sich kaum da­ge­gen durch­set­zen kann. So ba­sier­ten zahl­rei­che Aus­ga­ben von Beet­ho­vens 3 Duos für Kla­ri­net­te und Fa­gott  WoO 27 auf einer sehr feh­ler­haf­ten Erst­aus­ga­be, der aber bald ein re­vi­dier­ter Druck folg­te. Un­se­re Ur­text-Aus­ga­be druckt das Werk nun nach die­ser bes­se­ren Quel­le und ver­langt dem mit die­ser Musik ver­trau­ten In­ter­pre­ten so man­chen neuen Ton ab – was wir si­cher­heits­hal­ber durch Fuß­no­ten-Ver­wei­se auf die Be­mer­kun­gen ge­kenn­zeich­net haben (HN 974, S. 2/3).

Wäh­rend wir uns hier in der Regel so kurz fas­sen kön­nen, dass das No­ten­bild prak­tisch un­be­ein­träch­tigt bleibt, gibt es in Aus­nah­me­fäl­len auch mal raum­grei­fen­de­re Fuß­no­ten – sei es, um eine frü­he­re Fas­sung zu do­ku­men­tie­ren wie in Haydns be­rühm­ten f-moll-Va­ria­tio­nen (HN 912, S. 8/9) oder um die zahl­rei­chen au­to­ri­sier­ten Va­ri­an­ten von so be­kann­ten Wer­ken wie Cho­pins As-dur-Bal­la­de zu re­fe­rie­ren (HN 937, S. 4/5), die durch spä­te­re Aus­ga­ben weit ver­brei­tet sind. Bei die­ser wie an­de­ren un­se­rer Cho­pin-Aus­ga­ben geht es frei­lich nicht darum, dem Mu­si­ker durch die Fuß­no­te eine Al­ter­na­ti­ve für das Mu­si­zie­ren zu bie­ten – viel­mehr kann er hier er­fah­ren, wie eine ihm mög­li­cher­wei­se be­kann­te Va­ri­an­te die­ser Stel­le ein­zu­schät­zen ist und in wel­chem Über­lie­fe­rungs­kon­text sie steht. Damit be­we­gen wir uns al­ler­dings schon wie­der an der Gren­ze zur in einer Ur­text-Aus­ga­be ja ei­gent­lich zu ver­mei­den­den Kom­men­tie­rung des No­ten­texts… Aber wir fin­den, dass un­se­re Aus­ga­ben so­viel Wort­text ver­tra­gen – und was mei­nen Sie?

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