Wer über unseren Aprilscherz zur aufgeräumten Stimme bei Henle nicht nur herzlich gelacht, sondern sich vielleicht auch selbst schon einmal an einer Reger-Sonate versucht hat, der weiß, dass es mit dem Aufräumen bei Max Reger – und so manch anderem spätromantischen Komponisten – eigentlich eine durchaus ernste Sache ist. Die verschwenderische Vielfalt, mit der Anfang des 20. Jahrhunderts in den Partituren Tempo, Dynamik, Artikulation und Ausdruck bis ins letzte Detail fixiert wurden, begräbt die Musik manchmal regelrecht unter den Zeichen und verträgt sich kaum noch mit der Direktive, dass eine sogenannte praktische Urtext-Ausgabe den Notentext für den Musiker ja auch einigermaßen gut (und schnell!) lesbar präsentieren soll.
Nicht umsonst wählte Max Reger in seinen Autographen meist eine zweite Farbe (rot statt schwarz) zur Bezeichnung dieser Parameter – was die Sache zwar schöner, aber nicht unbedingt auch leicht lesbar macht, wie die mal oben, mal unten notierte Dynamik oder die in das System gequetschten espressivo-Angaben auf der ersten Seite seines Klarinettenquintetts zeigen.
Noch schwieriger wird es, wenn in der Handschrift stark korrigiert wurde und darin ganze Abschnitte ausgestrichen, verschiedene Takthälften neu zusammengesetzt und manche Rhythmen mehrfach modifiziert sind wie in Regers Klarinettensonate op. 107. Hier musste der Komponist sich nach eigener Aussage selbst erst einmal auf „Schreibfehlersuche“ begeben, bevor er sein Autograph im April 1909 an den Verlag Bote & Bock in Berlin übersenden konnte. Dort wurde diese alles andere als übersichtliche Stichvorlage dann nach bestem Wissen und Gewissen eingeteilt und in den Druck übertragen, wobei allein die richtige Lesung der Vorzeichen und angemessene Anordnung der Angaben zu Tempo und Dynamik den Notenstecher an Stellen wie dieser (1. Satz Takt 15–18) durchaus gefordert haben durften:
Besonders die für die Spätromantik so typische Ausweitung der Harmonik in Kombination mit Regers Vorliebe für beständigen Wechsel zwischen duolischen und triolischen Figuren im 6/4-Takt erschwert die Lesbarkeit auch im Druck noch sehr: Kaum ein Ton ohne Vorzeichen (wobei Reger dann auch noch zwischen notwendigen Akzidenzien und geklammerten „Warnern“ differenziert), so dass man sich unversehens in der 12-Ton-Musik zu befinden meint; kaum eine rhythmische Figur ohne Hinweis, ob triolisch oder duolisch zu spielen; kaum eine Tempo- oder Dynamik-Angabe, die nicht noch durch einen (wiederum oft geklammerten) Zusatz modifiziert wäre.
So kommt es, dass selbst bei einer einfachen Quellenlage wie in dieser Sonate, mit einer vom Komponisten verantworteten Erstausgabe als Hauptquelle und der bei fraglichen Stellen heranzuziehenden autographen Stichvorlage, für den Herausgeber einer modernen Urtext-Ausgabe noch ziemlich viel zu tun ist. Es gilt nicht nur, die in diesem Zeichenwust übersehenen Fehler der Erstausgabe zu korrigieren, sondern man muss auch entscheiden, welche Aspekte der Vorlage zu übernehmen und welche nach den Regeln des modernen Notensatzes sinnvoll zu modifizieren sind. Denn auch eine Urtext-Ausgabe bildet die Quelle ja keinesfalls exakt ab, sondern normiert den Notentext und säubert ihn von überflüssigen oder verwirrenden Zeichen.
Dass dies sehr behutsam und wohlüberlegt zu tun (und in den Bemerkungen zu erklären) ist, versteht sich von selbst. Wie viele Details dabei zu bedenken sind, kann man an der Stichvorlage von Michael Kube sehen, der Opus 107 für uns in einer Sammlung der Regerschen Sonaten und Stücke für Klarinette und Klavier herausgegeben hat (HN 909, Sonate op. 107 auch einzeln in Regers eigener Einrichtung für Violine, HN 1097, oder Viola, HN 1099). Die diversen Eintragungen in Rot, Grün, Blau sowie die Bleistiftfragen am unteren Rand bezeugen den intensiven Austausch zwischen Herausgeber und Lektorin bei der Entscheidung dieser Fragen – oftmals bereichert durch Hinweise unseres Notensetzers Michael Nowotny.
Während grundlegende Entscheidungen wie der Verzicht auf Regers Klammern bei Warnern und nachgestellten Ausdrucksangaben schon im Vorfeld analog zu anderen Reger-Ausgaben bei Henle getroffen wurden, mussten Detailfragen zu Vorzeichen (Takt 13), Triolen- und Duolenziffern(Takte 14, 15) oder die angemessene Position der Ausdrucksangaben (Takt 15) mitunter erst im „Bleistift-Dialog“ zwischen Herausgeber und Lektorin geklärt werden. Auch die Normierung der Pausensetzung im Klaviersatz bei über beide Systeme gehenden Figuren – besonders irritierend in Takt 15 der Erstausgabe (und dort wohl auf die nachträgliche Zusammenziehung dieses Taktes im Autograph zurückzuführen) – oder die Korrektur der verwirrenden Triolenziffer 3 (statt 6) in Takt 15, 16 war nötig, bevor wir mit dem Notenbild zufrieden waren.
Reger selbst charakterisierte diese späte Sonate wiederholt als „ein gar lichtes, freundliches“ oder auch „ungemein klares Werk“ – mit unserer „aufgeräumten“ Urtext-Ausgabe hoffen wir, dies auch für den Interpreten erfahrbar zu machen.