Milij Balakirevs Paradestück Islamey, dem schon der Widmungsträger Nikolai Rubinstein gleichsam Unspielbarkeit bescheinigte, gehört auch heute noch zu den brillanten Schlachtrössern der Klaviervirtuosen. Die beiden zentralen Melodien, um die herum ein mit seinen allgegenwärten Tonrepetitionen fast maschinell wirkendes Feuerwerk entfacht wird, entstammen der Volksmusik der Tscherkessen und Krim-Tataren. Und so wirkt das ganze Stück für klassisch geprägte Ohren entsprechend „exotisch“.
Bei der Niederschrift des Werks und besonders auch bei der Drucklegung zeigt sich Balakirev als äußerst akribisch arbeitender Komponist – durchaus keine Selbstverständlichkeit, wie man als Urtextherausgeber aus leidvoller Erfahrung weiß. Versorgt mit den wesentlichen Quellen zum Notentext von Islamey und dank einiger wichtiger Dokumente aus seiner Korrespondenz mit den Verlegern lässt sich die recht komplizierte Veröffentlichungsgeschichte gut dokumentieren und Balakirevs Sorgfalt beeindruckend belegen. Doch ausgerechnet beim furiosen, als einzigem mit fff bezeichneten Höhepunkt des Stücks (in T. 314) kommen Zweifel auf, wie der Notentext zu interpretieren ist …
So:
Oder so:
Das ist ohne Frage keine Lapalie. Es handelt sich um Islameys zweites, zentrales Thema, mit dem Balakirev durch einen armenischen Schauspieler bekannt gemacht wurde. Er notierte sich die Melodie auf einem Blatt, das heute in der Russischen Nationalbibliothek in Moskau aufbewahrt wird:
Der entscheidende Takt ist gleich der erste. Wie interpretiert man das g1?
Als Durchgangsnote von a1 zum Grundton f1, mit einer Nebennote a1 dazwischen, oder als untere Wechselnote zum zweimaligen a1, das dann eine Terz abwärts in den Grundton springt? Beide Deutungen sind prinzipiell möglich. Betrachtet man jedoch die insgesamt sieben Takte des 1. Themenabschnitts, so legt die recht konsequente stufenweise Abwärtsführung der Phrasen die Identifikation als Durchgangsnote zum f1 nahe.
Hier einige prägnante Stellen aus dem Autograph:
Der Clou kommt im Autograph dann allerdings beim letzten und stärksten Höhepunkt. Hier interpretiert Balakirev (in Des-dur) die zweite Note nicht nur als Wechselnote zu f2, sondern gibt ihr durch die Schärfung zur kleinen Sekund zusätzlich Leittoncharakter. Ein aufrüttelnder Überraschungseffekt an passender Stelle:
Die 1869 komponierte Klavierfantasie Islamey erschien gleich im folgenden Jahr beim Moskauer Verleger P. Jurgenson und wir sehen die entsprechende Stelle so, wie wir sie nach dem Text des Autographs erwartet hätten. Überhaupt ist dieser Erstdruck – wie bereits oben erwähnt – sehr sorgfältig gestochen und es gibt keinen Zweifel, dass Balakirev an der Drucklegung intensiv beteiligt war (er ergänzte sogar in den Druckfahnen noch einige Ossia-Takte).
Von diesem Punkt an wird die weitere Druckgeschichte dieses Werks nun etwas unübersichtlich. Jurgenson verkaufte schon 1888 Rechte an Islamey an den Hamburger (später Leipziger) Verleger D. Rather. Letzterer veröffentlichte 1902 eine vollständig neu gestochene Ausgabe des Stücks mit dem Hinweis „nouvelle édition revue et corrigée par l’auteur“ auf dem Titel. Erneut hatte Balakirev für diese Ausgabe den Notentext durchgesehen, korrigiert, erweitert und u.a. mit Metronomzahlen und zwei weiteren Ossias versehen. An der uns interessierenden Stelle ergab sich jedoch keine Änderung, sie stimmt mit dem Text der Erstausgabe bei Jurgenson überein. Es ist dieses Notenbild, das noch heute von Boosey & Hawkes, dem Rechtsnachfolger Rathers, verkauft wird (Elite Edition 3109).
Doch dies ist, nach allem, was wir heute wissen, nicht die „Fassung letzter Hand“! Denn 1909 erschien im Verlag Jurgenson in Moskau dann noch eine weitere neue Ausgabe der Fantasie, die das Ergebnis einer weiteren Revision durch Balakirev war. Schon im Januar 1908 schrieb Boris P. Jurgenson an Balakirev: „Heute erfuhr ich zufällig von einem Konservatoriumslehrer, dass bei Rather eine Neuausgabe von ‚Islamey‘ mit Ihren Korrekturen und Veränderungen erschienen ist. Ich halte es für notwendig, diese Korrekturen und Veränderungen auch in unserer Ausgabe einzutragen und schicke Ihnen daher ein Exemplar von ‚Islamey‘ mit der Bitte, darin dasselbe einzutragen, was Sie für Rather gemacht haben.“ (Dank an Felix Purtov für die Übersetzung.) Die weitere Korrespondenz mit Jurgenson belegt, dass Balakirev dessen Wunsch nachkam und außerdem zwei Mal Druckfahnen des Neustichs zur Korrektur erhielt, die in Moskau wunschgemäß umgesetzt wurde. Erneut entstand ein sehr sorgfältig und fast fehlerfrei erarbeiteter Notentext. Der Höhepunkt in T. 314 liest sich nun jedoch so:
Fehler oder Absicht? Wie soll man sich entscheiden? Angesichts der Tatsache, dass sich Balakirev durch alle Textstadien – wie nun schon mehrfach erwähnt – als akribischer Verwalter seiner Wünsche auszeichnete, habe ich mich entschlossen, in unserer Urtextausgabe (HN 793) es statt e zu edieren, so wie es die „Fassung letzter Hand“ fordert. Musikalisch allerdings empfinde ich diese „glatte“ Wiederholung der Melodie als schwächer, ich kann hier aber aufgrund des Gesagten nicht an einen Stichfehler glauben.
Und so bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich anhand unserer Ausgabe selbst eine Meinung zu bilden!